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(Neu)rechte Einstellungen richten sich gegen so ziemlich alle demokratischen und liberalen Errungenschaften Europas und keineswegs „nur“ gegen Institutionen der EU.
Bild: Pegida Demonstration in Dresden von Kalispera Dell lizenziert unter CC BY 3.0
Auf Demonstrationen wehen Deutschlandflaggen neben „Wirmer-Flaggen“, nationalistische Parolen werden schamlos verbreitet und Flüchtlingsunterkünfte angegriffen. Ein Blick in die aktuelle deutsche Kriminalstatistik gibt einem allgemeinen Unbehagen konkrete Gestalt: Seit Beginn der Erfassung 2001 gab es in Deutschland noch nie so viele politisch motivierte rechte Straftaten wie 2015 (auch linke Straftaten sind auf Rekordniveau, rechte aber zweieinhalbmal häufiger). Rechte Gewalttaten haben innerhalb eines Jahres um knapp die Hälfte zugenommen, gegen Aufnahmeeinrichtungen beziehungsweise Unterkünfte für Flüchtlinge sind sie um das mehr als Vierfache beziehungsweise fast Sechsfache gestiegen. Die Hasskriminalität im Internet hält Schritt: Die Zahl der Verfahren wegen Volksverhetzung und Gewaltdarstellungen hat sich mehr als verdreifacht.
Was hat das für Gründe? Die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt Anhaltspunkte. Unter anderem zeigt sich seit 2014 ein deutlicher Anstieg der Gewaltbereitschaft. Seit 2006 wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung alle zwei Jahre auf Basis einer repräsentativen Ergebung die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland erfasst. Bis 2012 bestand eine Kooperation mit der Universität Leipzig, seit 2014 entstehen die FES-Mitte-Studien in Zusammenarbeit mit dem Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, wo das Analysemodell der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) entwickelt wurde. Damit können auch die Daten aus zehn Jahren GMF-Forschung in die neuen FES-Studien zu rechtsextremem, menschenfeindlichem und autoritärem Denken einfließen.
Bei einer Veranstaltung des FES-Büros Frankreich in Kooperation mit der Fondation Jean Jaurès am 27. Februar 2017 im Heinrich-Heine-Haus in Paris stellte Ralf Melzer als Herausgeber der Studie (http://dietz-verlag.de/isbn/9783801204884/Gespaltene-Mitte-ndash-Feindselige-Zustaende-Rechtextreme-Einstellungen-in-Deutschland-2016-Andreas-Zick-Beate-Kuepper-Daniela-Krause) die zentralen Ergebnisse vor.
Zugleich wurde die Situation in Deutschland im Vergleich zu Frankreich diskutiert, wo der Front National ungleich stärker in der Gesellschaft und im politischen System verwurzelt ist, als dies für die AfD in Deutschland gilt, wie Jean-Yves Camus vom Observatoire des radicalités politiques der Fondation Jean Jaurès betonte.
Für Deutschland ergeben sich aus den aktuellen Zahlen der FES-Mitte-Studie differenzierte Befunde:
Während im Zeitverlauf Vorurteile gegenüber einigen Gruppen zurückgegangen oder stabil geblieben sind, haben ablehnende Einstellungen gegenüber Asylsuchenden seit 2014 zugenommen und liegen jetzt bei 50 Prozent. Unter AfD-Anhängern ist der Wert auf 88 Prozent gestiegen, muslim- und fremdenfeindliche Positionen finden bei ihnen eine Zustimmung von 64 bzw. 68 Prozent. Die Studie belegt außerdem, dass diese Einstellungen mit Gewaltbereitschaft oder –billigung einhergehen.
Darüber hinaus kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass 56 Prozent der Befragten die Aufnahme von Flüchtlingen als gut, 24 Prozent als teilweise gut bewerten, und sich viele von ihnen ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Woher kommt diese Polarisierung? Politikwissenschaftler weisen auf gesellschaftliche Gräben hin. Fragen der kulturellen Identität haben sich in den letzten Jahren als neue starke Dimension gesellschaftlicher Spaltung neben der klassischen ökonomischen Dimension etabliert. Die kulturelle Dimension hat viel mit Europa und internationalen Entwicklungen zu tun. Solange das Gefühl vorherrschend war, mehr oder minder alle würden von einem stetigen ökonomischen Fortschritt profitieren, wurde die europäische Integration kaum in Frage gestellt („permissiver Konsens“). In den 2000er Jahren und insbesondere seit der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich das geändert.
Wachsende soziale Ungleichheit und ökonomische Unsicherheit stellen kosmopolitische, europafreundliche Gewinner wirtschaftlicher Internationalisierung gegen potentielle Verlierer. Abstiegsängste erreichen längst auch die Mittelschicht. Das verstärkt Tendenzen, sich nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell abschotten zu wollen und sich die (vermeintliche) Übersichtlichkeit früherer Zeiten zurück zu wünschen. Mit der Aufnahme von Flüchtlingen hat sich die Vermischung von sozioökonomischer und kultureller Dimension – also die Verteilungs- und Identitätskrise – verschärft. So stimmen 35 Prozent aller Befragten der Aussage „eher“ oder „voll und ganz“ zu, dass sich die Politik bevorzugt um Flüchtlinge kümmere. Außerdem denken 33 Prozent, dass die deutsche Kultur durch Zuwanderung bedroht sei, 25 Prozent befürchten als Folge ein Absinken des Lebensstandards.
Vor diesem Hintergrund hat sich die AfD nicht zufällig von einer anfangs überwiegend euroskeptischen Wirtschaftspartei zu einer nationalistischen Identitätspartei der ethnozentristischen Rechten gewandelt. Dabei spiegelt sich die Radikalisierung der Partei seit der Abspaltung des Lucke-Flügels auch in einer Radikalisierung ihrer Wähler und Sympathisanten wider, wie die Daten der FES-Mitte-Studie belegen.
Unterdessen wurde in der Studie erstmals ein Syndrom neurechter Positionen erfasst, das heißt Vorstellungen, wonach es angeblich ein Meinungsdiktat und eine Islamverschwörung gebe und zu denen auch die für Rechtspopulismus typische Elitenfeindlichkeit gehört. Neurechtes Denken kreist um Konzepte von „Identität“ und „Widerstand“, löst zunehmend den klassischen Rechtsextremismus ab und findet bei 28 Prozent der Bevölkerung und erschreckenden 84 Prozent der AfD-Anhänger_innen Zustimmung.
Ansprechpartner in der Stiftung:
Zur Mitte Studie: Ralf Melzer
FES-Paris: Stefan Dehnert
Weiterführende Links:
Ralf Melzer (FES-Paris, 2016): Le populisme de droite en Allemagne: Un défi pour la social-démocratie.
Ralf Melzer (Spiegel Online, 2017): Nach der Niederlande-Wahl: Mehr Europa!
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Jochen Dahm
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