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Zur Arbeitsmigration gehört auch der Schutz derjenigen, die kommen. Ein Interview mit Dr. Dorothea Czarnecki zu den deutsch-vietnamesischen Migrationsbeziehungen anlässlich des Welttags gegen Menschenhandel.
Deutschland ist seit vielen Jahren ein wichtiger Handelspartner für Vietnam, und auch in der Entwicklungszusammenarbeit gibt es starke Beziehungen. Arbeitsmigration ist neben diesen Bereichen eine weitere Säule der Zusammenarbeit. Deutschland profitiert erheblich von qualifizierten vietnamesischen Fachkräften, die das deutsche Gesundheitssystem entlasten und verbessern. Vietnamesische Migration ist aber auch in der Gastronomie und im Bereich der Kosmetiksalons relevant. Auf der anderen Seite machen die Rücküberweisungen der vietnamesischen Arbeitskräfte seit Jahren durchschnittlich fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von Vietnam aus. Der Export von Arbeitskräften ist eine Strategie der vietnamesischen Regierung, die zur allgemeinen wirtschaftlichen Stabilität und Entwicklung des Landes beiträgt. Leben und arbeiten im Ausland ist für viele Menschen in Vietnam äußerst attraktiv. Um diesen Traum zu verwirklichen, sind manche bereit, erhebliche Risiken einzugehen, einschließlich der Inanspruchnahme fragwürdiger Dienste von Schleppern und Menschenhändlern. Durch die Schaffung offizieller Wege für Arbeitsmigrant_innen, wie sie in dem 2024 auf Basis des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes getroffenen Abkommen festgelegt wurden, wirken beide Regierungen dem Geschäftsmodell des Menschenhandels aktiv entgegen.
Legal ist nicht gleich sicher. Frauen und junge Menschen sind besonders vulnerabel und trotz legaler Rahmenbedingungen Risiken wie Abhängigkeiten vom Arbeitgeber oder geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Gleichzeitig haben sie häufig nur begrenzten Zugang zu Bildung, Beratungs- und Gesundheitsdiensten. Auch viele Jungen und junge Männer verlassen Vietnam in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg in Richtung Europa - nicht selten mithilfe von Schleusern. Familien verschulden sich oft stark, um die geforderten Geldbeträge aufzubringen. Doch auch wenn es jemand mit viel Engagement (z.B. Investitionen in Form von Zeit und Geld für Deutschkurse) geschafft hat, auf legalen Weg nach Deutschland zu kommen, stehen die migrierten Personen unter enormem Druck, erfolgreich zu sein und Rücküberweisungen an die Familie zu senden. Selbst in der seit zwei oder mehr Generationen etablierten Diaspora ist es unüblich, dem noch in Vietnam lebenden sozialem Umfeld die reellen Härten des Lebens in Deutschland offenzulegen. Der Erfolg im Ausland bleibt ein Statussymbol. Migrant_innen vermeiden es daher, real existierende Schwierigkeiten offenzulegen, um ihre Familie nicht zu belasten. Besonders junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren tragen diese Last, häufig ohne ein Ventil dafür zu haben. Dies macht sie anfällig für negative Einflüsse wie Drogen oder Glücksspiel, was wiederum zu Abhängigkeit und Schulden bei kriminellen Netzwerken führen kann. Es besteht das Risiko, in prekäre Arbeitsverhältnisse oder illegale Tätigkeiten verwickelt zu werden.
Für die deutsch-vietnamesischen Migrationsbeziehungen bedeutet dies, dass es nicht reicht, einen rechtlichen Rahmen für die legale Arbeitsmigration zu schaffen, sondern dass auch sichergestellt werden muss, dass die Begehung dieser Wege in der Praxis sicher ist und vietnamesische Arbeitsmigrant_innen in Deutschland fair behandelt werden, wie es Arbeitsminister Hubertus Heil bei seinem Besuch in Vietnam im Januar 2024 betont hat. Sobald sie in Deutschland eine abhängige Beschäftigung aufnehmen, haben sie dieselben Rechte und Pflichten wie deutsche Beschäftigte.
Um einen signifikanten Einfluss auf die Prävention von Menschenhandel zu erzielen, ist es entscheidend, in enger Zusammenarbeit zwischen Vietnam und Deutschland Informationsbüros in den Provinzen Vietnams zu eröffnen, die als Kernregionen der Migration gelten. Dies sind die Provinzen Quang Ninh, Quang Binh, Ha Tinh, Nghe An und Hai Phong im nördlichen Zentralvietnam. Diese Regionen haben seit den Vertragsarbeiter-Abkommen der DDR in den 80er Jahren eine lange Tradition der Migration nach Deutschland, da die Perspektiven für Ausbildung und Leben dort sehr begrenzt sind.
Informationsbüros in städtischen Zentren wie Hanoi oder Ho-Chi-Minh-Stadt wären ineffektiv, da sie die betroffenen Zielgruppen nicht erreichen würden. Diese Büros müssen direkt in den Regionen etabliert werden, aus denen die meisten Migranten stammen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass offizielle Informationsquellen zunächst in direkter Konkurrenz zu den gut organisierten Menschenhändlerringen stehen werden. Diese kriminellen Netzwerke arbeiten mit „Rekrutierern“, die oft über die Familie oder Freunde der potenziellen Opfer den ersten Kontakt herstellen und mit unrealistischen Versprechungen über Einkommen und Lebensbedingungen in Europa werben. Klassische Informationsflyer reichen daher nicht aus. Das Bundeskriminalamt bietet eine verständliche Analyse, wie ein komplexes Konglomerat verschiedener Einflussfaktoren auf (potenzielle) Opfer des Menschenhandels wirkt, darunter ein besonderes Vertrauen gegenüber Landsleuten sowie eine starke finanzielle Verantwortung gegenüber der Familie. Der Druck, schnell viel Geld im Ausland zu verdienen und dabei auf bekannte soziale Unterstützungsstrukturen aus der Community zu setzen, ist hoch. Um effektiv zu sein, müssen Wege der Informationsvermittlung diese sozialen Dynamiken berücksichtigen. Umfassende Aufklärungs- und Unterstützungsprogramme - auch über soziale Medien - sind zu entwickeln, die in den betroffenen Regionen Vertrauen aufbauen.
Deutschland unterscheidet sich von anderen Ländern mit großen vietnamesischen Diaspora-Gemeinschaften in Europa dadurch, dass die Vietnames_innen schon seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland leben und sich in den meisten Bereichen der Gesellschaft häufig gut integriert haben. Es gibt vietnamesisch-stämmige Fachleute in der sozialen Arbeit, bei der Polizei und in Nichtregierungsorganisationen ebenso wie deutsch-vietnamesische Kulturvereine. Darüber hinaus unterstützen viele vietnamesisch-deutsche Arbeitgeber, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, die Integration vietnamesischer Azubis und Arbeitsmigrant_innen in die deutsche Gesellschaft. Dies ist natürlich in Großstädten mit einer bereits vorhandenen entsprechenden‚vietnamesischen Infrastruktur‘ wie asiatischen Supermärkten, Restaurants und Community, einfacher als im ländlichen Bereich. Die deutsche Regierung sollte diese Bemühungen anerkennen und unterstützen.
Wir sprechen oft über vietnamesische Arbeitsmigrant_innen im Hinblick auf ihren wirtschaftlichen Nutzen. Genauso wichtig ist es jedoch anzuerkennen, dass viele dieser jungen Menschen nicht nur wirtschaftlich motiviert sind, sondern auch Interesse an einem neuen Land, seinen Menschen und seiner Kultur haben. Ähnlich wie viele Deutsche, die nach der Ausbildung oder Universität Auslandserfahrungen sammeln möchten, sollten junge Vietnames_innen die Möglichkeit haben, dies in Deutschland oder einem anderen Land ohne Ausbeutung und Gefahren zu erleben. Einige kehren nach ein paar Jahren nach Vietnam zurück, andere bleiben dauerhaft. Doch alle haben das Potenzial, zum Aufbau langfristiger, starker und sinnvoller wirtschaftlicher und kultureller Verbindungen zwischen Deutschland und Vietnam beizutragen.
Das Interview führte Annette Schlicht.
Dr. Dorothea Czarnecki arbeitet als Sozialwissenschaftlerin seit 20 Jahren international gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Kindern. Sie arbeitete für UNICEF Vietnam und unterstützt Strafverfolgungsbehörden und Medien mit Hintergrundinformationen zu vietnamesischen Menschenhandel nach Europa. Dr. Czarnecki ist IT-Analystin und Leitung der Bereiche Kinderschutz/Menschenhandel beim Sachverständigenbüro FORENSIK.IT GmbH in Berlin.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
„Niemand weiß, wer alles in diesem Land ist.“ Zumindest bezogen auf das Potential für den Arbeitsmarkt, ist diese Behauptung Realität.
Die Auslagerung von Asylverfahren folgt der gleichen gescheiterten Abschreckungslogik – ein Umdenken ist nötig, so Felix Braunsdorf.
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