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Es braucht mehr Flexibilität, mehr Individualität und mehr Forschung: So das Fazit einer Tagung der FES und AWO.
Bild: von Bollhorst / M2 Atelier für Fotografie Moderatorin Shelly Kupferberg mit Jana Scheible und Hanne Schneider (v.l.n.r.).
Eine rote Achterbahn, die hoch hinaus fährt, die Menschen darin recken ihre Arme in die Luft – dieses Bild haben die FES und der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gewählt, um das Programm ihrer Fachtagung „Entlang der Lernkurve“ zu illustrieren. Dabei diskutierten Wissenschaftler_innen und Publikum die Erfahrungen mit der Deutschsprachförderung für erwachsene Eingewanderte der vergangenen 15 Jahre. „Das Bild mit der Achterbahn schien uns passend“, sagte Susan Javad von der FES zu Beginn der Tagung am 11. März: „Das Erlernen des Deutschen ist ein Lernprozess sowohl für die Teilnehmenden an den Kursen als auch für uns als Einwanderungsgesellschaft. Es gibt Aufs und Abs – aber es gibt in jedem Fall eine Lernkurve, die steil nach oben geht.“
Seit Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes 2005, so leitete AWO-Vorstandsmitglied Brigitte Döcker die Tagung ein, besuchten rund 2,3 Millionen Menschen die Integrationskurse. Diese bilden den Grundstein des mittlerweile von Seiten der Bundesregierung formulierten Gesamtprogramms Sprache. Dabei gebe es von Seiten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwar – entsprechend der Vielfalt der Zielgruppe – ein Bemühen um möglichst passgenaue Kursformate. Dieses spiegle sich jedoch kaum in der Realisierung der Kurse wider. 73 Prozent der Teilnehmenden besuchten am Ende den allgemeinen Kurs. „Aber eine rumänische Ärztin“, sagte Döcker, „braucht eine andere Ansprache als ein rumänischer Arbeiter aus der fleischverarbeitenden Industrie.“
Immer komplexer, immer heterogener in Bezug auf ihre Lernbiografien seien die Zielgruppen der Kurse im Lauf der Zeit geworden – und würden es mit Sicherheit auch weiterhin, durch das kürzlich in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgsetz zum Beispiel. Eine Aufgabe, die angegangen werden müsse, sei es entsprechend, passende Lernangebote für individuelle Gruppen zu entwickeln. Bisher werde dies über weite Teile als Verwaltungsaufgabe diskutiert. Doch vor allem das pädagogisch-methodische Kerngeschäft der Kurse müsse voran gebracht werden, sagte Döcker. Dafür brauche es insbesondere mehr Forschung.
Zudem müssten die Menschen, um die es geht, viel stärker einbezogen werden, forderte sie: „Die Anwendung der Sprache muss im Alltag geschehen. Erst die Praxis bringt den Erfolg.“ Man müsse Sprachanlässe schaffen: Am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft. „Das ist eine wichtige Zukunftsaufgabe.“
Einer, der die Kurse erfolgreich durchlaufen hat, ist Tarek Saad, Student der Politikwissenschaft in Kiel, Landesvorsitzender der AG Migration der SPD in Schleswig-Holstein und Stipendiat der FES. 2014 flüchtete er aus Syrien und kam per Zufall in einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein an. „Ich hatte noch nie vorher Deutsch gehört“, sagte Saad. „Ich wusste nicht einmal, wie es klingt.“
Er nahm an den Integrationskursen teil, die sehr auf Sprache fokussiert waren. „Das war sehr wichtig für mich. Aber ich wollte mehr Kontakt zu den Menschen vor Ort“, sagte Saad. Wirklich weiter gebracht hätten ihn vor allem Aktivitäten und Anschluss an die Gesellschaft – das wäre etwas, was die Kurse auch leisten sollten. „Ich selbst hatte das Glück, dass ich in einen Ort kam, in dem die Menschen auf mich zugegangen sind“, sagte Saad. Die Bürgermeisterin der Gemeinde erklärte ihm das politische System in Deutschland. Bei der ersten friedlichen Demo seines Lebens hörte er eine Rede des damaligen Ministerpräsidenten Torsten Albig. „Bis dahin war Politik kein Thema für mich“, sagte Saad. „Ich kam schließlich aus einer Diktatur. Aber jetzt war ich begeistert.
Erschwert habe die Situation für ihn zum einen die Wartezeit – erst sechs Monate nach seiner Ankunft, nach seiner offiziellen Anerkennung als Geflüchteter durch das BAMF, durfte er überhaupt mit den Kursen beginnen. Zudem gab es keine schnelleren Kurse für Menschen, die studieren wollten: „Ich hätte die Kurse anstelle von zwölf Monaten gern in sechs gemacht.“ Ab dem Niveau B2 wurden die Kurse vom Job Center außerdem nicht mehr finanziert. Nach weiteren sechs Monaten Wartezeit bezahlte schließlich eine Stiftung den zusätzlichen Intensivkurs, damit er sich für einen Studienplatz bewerben konnte.
„Man müsste die Kurse viel stärker an der Frage orientieren, wie Menschen lernen können und wollen“, empfahl Saad. Wessen Familie noch im Krieg sei, der könne sich vor lauter Sorge schlecht auf eine neue Sprache konzentrieren. Und ein 60-Jähriger brauche keine Sprachzertifikate mehr, sondern müsse sich vor allem im Alltag orientieren können. Für ihn selbst aber seien gerade die Zertifikate dringend notwendig gewesen.
Das andere Ende des Lernspektrums, nämlich die Kursteilnehmenden mit kaum oder gar keiner Lernerfahrung, wurden im späteren Verlauf der Tagung noch einmal ins Zentrum gerückt. Christoph Schroeder von der Universität Potsdam wies darauf hin, dass es insbesondere diese Personen seien, die an den Integrationskursen in ihrer aktuellen Konzeption - teilweise mehrfach – scheiterten. Hier sei mehr Forschung dringend geboten und der Blick nach Skandinavien, aber auch nach Kanada, wo bereits eine längere Forschungstradition zu diesen „lernungewohnten“ Erwachsenen besteht, könne sich hier lohnen.
Auch der Kommentar von Dietrich Thränhardt, emeritierter Professor der Universität Münster, zum Zwischenbericht der aktuell durch das BAMF-Forschungszentrum durchgeführten Evaluierung der Integrationskurse, zeigte noch einmal einige Schwachstellen der aktuellen Durchführungsmodalitäten der Integrationskurse auf. „Immerhin“, zitierte Thränhardt lapidar den Bericht: „Geflüchtete mit Integrationskursbesuch attestieren sich bessere deutsche Sprachkenntnisse als ohne.“
Verschiedene Ergebnisse des Berichts wertete Thränhardt dann aber doch als bedenklich: So betrachte der Bericht etwa Angebote zur Sprachförderung jenseits der Integrationskurse, wie sie in den meisten Bundesländern und teilweise auch in Kommunen existieren, als Konkurrenz – „eine sehr enge Perspektive“, kritisierte Thränhardt, „keine Gesamtschau“. Und die wenigsten Teilnehmenden der Kurse würden, so das Ergebnis der BAMF-eigenen Evaluierung, Beratungsangebote kennen, obwohl annähernd alle Träger den hohen Bedarf an Beratungsunterstützung geäußert hätten.
In der Evaluation der Prüfungsergebnisse der verschiedenen Kurse werde deutlich, dass eine Kinderbetreuung während der Kurszeiten dringend nötig sei. Nur so könne sichergestellt werden, dass Frauen mit Kindern an den Kursen teilnähmen und diese dann auch erfolgreich absolvierten. „Sehr starke Bedeutung“ habe zudem, dass eine Unterbringung in Privatunterkünften wesentlich besser für die Sprachentwicklung sei als in Gemeinschaftsunterkünften: „In einer permanenten Situation anzukommen und nicht im Übergang zu bleiben“, sagte Thränhardt, „fördert den Lernerfolg sehr stark.“
„Wirklich schockiert“ habe ihn die Stückelung der Dozent_innenarbeit: Nur 24 Prozent aller Kurse würden durchgehend von demselben Dozenten oder derselben Dozentin betreut. Dies sei ein zentrales Ergebnis des Zwischenberichts: „Das bedeutet, dass kein Vertrauens- und Kommunikationsverhältnis entstehen kann.“ Das BAMF müsse sich mit diesem Ergebnis auseinandersetzen.
Hinsichtlich der Orientierungskurse, die Teil des Integrationskursprogramms sind, sagte Thränhardt, gebe es ein „Desinteresse seitens der Teilnehmenden.“ Das liege daran, dass viele der Fragen des abschließenden Test ungeeignet seien: Welche beiden Parteien 2007 zur Linkspartei fusionierten, habe mit dem Alltag der Teilnehmenden wahrlich nichts zu tun. Dazu komme, dass die Antworten auf die immer gleichen Testfragen online zugänglich seien und die Vorbereitung der Kursteilnehmenden daher vor allem im Auswendiglernen liege. „Man lernt also, dass man in Deutschland weiter kommt, wenn man Dinge auswendig lernt, die vorgegeben sind“, so Thränhardt. „Das sollte nicht der Sinn der Kurse sein.“ Er forderte eine kritische Diskussion dieser Ergebnisse auch in der Öffentlichkeit.
In der gemeinsamen Diskussion von Saad, Thränhardt und dem Publikum klangen verschiedene Lösungsansätze an: Eine durch eine Person geleistete kontinuierliche Beratung durch das gesamte Asylverfahren hindurch, um eine Kommunikations- und Vertrauenssituation zu schaffen. Besuche von Rathaus oder Landtag, um vor Ort zu besprechen, was Koalitionen und Mehrheiten sind. Aufklärung über Rechtsberatung oder die Funktion von Justiz und Polizei. Ehrenämter vermitteln. Informationen, wie und wo Menschen ihre Ausbildungen anerkennen lassen können. Muttersprache einsetzen. Schnellerer Start der Kurse. Kleinere Gruppengrößen. Austausch-Abende zum Beispiel über eigene Werte, wie sie die Bielefelder AWO entwickelt habe und mit Erfolg umsetze – so dass es primär nicht mehr um den Test am Schluss der Kurse gehe, sondern das Gespräch selbst im Vordergrund stünde. „Wir tun so, als seien Flüchtlinge Menschen, die die Grundprinzipien des Umgangs miteinander nicht kennen“, sagte ein Teilnehmer aus dem Publikum. „Aber die müssen nicht lernen, mit Messer und Gabel zu essen – sondern es muss um praktische Formen von politischer Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe gehen.“
Ein weiterer Kritikpunkt, der häufig zur Sprache kam, war die prekäre finanzielle Situation der Lehrkräfte, die in der Regel Freiberufler_innen seien. Das BMI gebe das Mindesthonorar vor – doch wenn man das umrechne, bewege man sich inklusive Vorbereitungs- und Fahrtzeiten deutlich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, kritisierte ein Vertreter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Eine Qualitätsverbesserung der Kurse muss mit der Qualitätsverbesserung der Beschäftigungsbedingungen der Lehrkräfte einhergehen.“
Der zweite Teil der Tagung legte den Fokus auf Sprachkurse in ländlichen Räumen, wozu es bislang kaum Forschung gibt – und auch im Publikum, das zeigte sich nach kurzer Meldung per Handzeichen, herrschte deutlich die urbane Perspektive auf die Deutschsprachförderung vor. Die beiden Wissenschaftlerinnen Hanne Schneider und Jana Scheible stellten zunächst erste Ergebnisse der FES-Studie „Herausforderungen der Deutschsprachförderung in ländlichen Räumen“ (Arbeitstitel) vor, deren finale Ergebnisse die FES Ende April zugänglich machen will.
Am Beispiel von Baden-Württemberg und Sachsen gaben Schneider und Scheible einen Einblick, wie das Bundesprogramm Sprache wirkt – und gleichzeitig Empfehlungen, wie den Versäumnissen beizukommen sei. Das Angebot an unterschiedlichen Kursformaten, so die Wissenschaftlerinnen, sei auf dem Land stark eingeschränkt, oft gebe es auch wenig Teilnehmende. Nötig sei deshalb, kleine Gruppen zu ermöglichen und die Stundenzahl flexibler zu gestalten. Auch Dozierende bräuchten bessere Bedingungen: Drei Stunden unbezahlte Fahrzeiten, um einen Kurs zu geben, rechne sich für sie natürlich nicht.
Auch in ländlichen Räumen zeigt sich, dass Kinderbetreuung ein Problem ist – diese müsse ausgebaut werden, so die Forscherinnen. Zudem brauche es nicht nur für geflüchtete Eltern Teilzeit- und Abendkurse, sondern auch für Saison- und Schichtarbeiter_innen, viele davon Migrant_innen aus der EU. Dies müsse langfristig koordiniert, der „Förderdschungel“ zwischen Bund und Ländern aufgelöst werden. „Ländliche Räume sollten als Regelfall mitgedacht werden“, so die Wissenschaftlerinnen – „und keine Ausnahme bleiben.“
Auch hier kamen Anregungen aus dem Publikum: Lerncafés mit digitalen Instrumenten könnten geschaffen werden. Dozierende könnten per mobiler Beratung die Teilnehmenden aufsuchen: „Ein ausgebauter Bus, und der Kursleiter kommt im Dorf vorbei wie der Eiermann“, hieß es.
Eine Aussicht darauf, welche Zusatzangebote zu Kursen vor Ort es in ländlichen Regionen, aber auch im städtischen Raum geben könnte, gab Christopher Wickenden von der Hochschule Fresenius Köln, der auf die Potenziale von Künstlicher Intelligenz und Virtual Reality (VR) bei der Deutschsprachförderung einging. Per VR-Brille können Lernende reale Filme über Alltagssituationen sehen: Über Apothekenbesuche, den Eintritt in einen Fußballverein, die Anmeldung in einer Schule oder eine Polizeikontrolle. „Das sind Situationen, für die man Vertrauen schaffen muss“, sagte Wickenden.
Zwar sei der Aufwand, die Filme zu produzieren, recht groß, aber dafür seien sie dann online und damit jederzeit zugänglich: Die Lernenden können Situationen in einem 3-D-Raum verändern, und die Drehbücher und Schauspieler_innen müssen das entsprechend vorbereiten. „Aber es lohnt sich“, sagte Wickenden: Die Filme kämen Erwartungen vieler Geflüchteter entgegen. 90 Prozent unter ihnen hätten ein Smartphone, brächten die Technologie also schon mit. Vor allem junge Männer hätten eine hohe Affinität und Bereitschaft, sich auf solche Angebote einzulassen.
Gegen Ende der Tagung schloss dann auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby in der Fishbowl-Diskussion den Kreis zum 2014 aus Syrien geflüchteten Tarek Saad, dem ersten Referenten der Tagung. „Als ich vor 34 Jahren nach Deutschland kam, habe ich kein einziges Wort Deutsch gesprochen“, sagte der promovierte Chemiker und Geoökologe. „Die Kurse allein haben mir nicht gereicht: Deutsch lernen heißt immer auch, in Kontakt zu kommen. Die Begegnung mit Menschen, die darf nicht fehlen.“
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