Afrikas Verhältnis zu Menschenrechtsverletzungen an Migrant_innen und Geflüchteten auf der Durchreise und in Aufnahmeländern ist komplex und gespalten. Der Kontinent ist Schauplatz von Menschenrechtsverletzungen wie Menschenhandel, wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung, fremdenfeindlichen Übergriffen sowie rassistischer und geschlechterspezifischer Diskriminierung. Gleichzeitig hat Afrika eine lange Migrationsgeschichte und beherbergt die Mehrheit der internationalen Migrant_innen und Vertriebenen aus Afrika; 25,2 Millionen der 70,8 Millionen Vertriebenen der Welt leben dort. Die Afrikanische Union und ihre regionalen Wirtschaftsgemeinschaften (Regional Economic Communities, RECs) haben die Migration auf der politischen Ebene aufgenommen, etwa mit dem Abuja-Vertrag (1991), dem Migration Policy Framework, der African Common Position on Migration and Development (2006) und dem 10-Jahres-Plan für die Umsetzung der Agenda 2063, der den freien Personenverkehr sowie das Management von Migration, Geflüchteten und dem Menschenhandel stärkt.
Was Wanderungsbewegungen über längere Distanzen betrifft, ist Afrika zudem der Kontinent, auf dem gemischte Migrationsflüsse nach Europa beginnen. Die Europäische Union, die selbst vor 30 Jahren die Freizügigkeit für Bürger aus ihren Mitgliedsstaaten eingeführt hat, hat Afrika zunehmend zum Spielfeld ihrer migrationspolitischen Bemühungen gemacht, um die Ankünfte aus Afrika zu reduzieren.Diese Bemühungen haben häufig zum Ziel, diejenigen afrikanischen Grenzen zu sichern, die Afrika selbst mittels verbindlicher Instrumente zu öffnen versucht, etwa (i) der Migration Policy Framework for Africa (2006), (ii) die African Common Position on Migration and Development (2006), (iii) die AU-Initiative zum Menschenhandel (2009) und (iv) das AU Free Movement Protocol (2018).
Dieses Spannungsverhältnis zwischen externem politischem Druck und interner Entwicklung der Politik in einem Kontext politischer und ökonomischer Instabilität lässt sich anhand der in diesem Artikel vorgestellten Fallstudie, nämlich der Grenze zwischen Libyen und Niger, veranschaulichen. Gemischte Migration ist an dieser Stelle in der Wüste Sahara außerordentlichen Risiken ausgesetzt, u.a. der riskanten Reise durch die Wüste, Inhaftierung auf unbestimmte Zeit in Libyen sowie Ausbeutung und Misshandlung durch Schleuser_innen. Trotz ihrer Abgeschiedenheit ist die Grenze auch Teil EU-finanzierter Projekte, die Grenzmanagement und -sicherheit in der Sahelzone, Niger und Libyen und insbesondere die Grenze selbst stärken sollen.
Irreguläre Migration auf der Durchreise durch die Sahara
Nachdem 2016 181.459 Migrant_innen über die gefährliche zentrale Mittelmeerroute in Italien ankamen, ein Spitzenwert, ging diese Zahl Frontex-Daten zufolge zügig auf nur 13.760 im Jahr 2019 zurück. Trotz COVID-19 ist die Zahl 2020 jedoch auf mehr als das Doppelte gestiegen, nämlich auf 28.424. Die Zahl der vor der libyschen Küste abgefangenen Migrant_innen ist weniger gut dokumentiert, aber das Flüchtlingskommissariat der Vereinten nation (UNHCR) berichtet von nahezu 10.000 Migrant_innen, die 2020 bislang aufgehalten wurden. Die Route ist notorisch gefährlich. Bei den Risiken handelt es sich um die Reise durch die Wüste Sahara, Inhaftierung auf unbestimmte Zeit in Libyen und Kentern auf See. Die Migration durch Niger und nach Libyen hinein, um das Mittelmeer zu erreichen, war für die europäischen Regierungen bedeutend genug, um sich zu bemühen, die Migration zu verlangsamen. In der Zwischenzeit hat sich die Migration durch die Sahara zu einer ernsthaften humanitären Situation entwickelt, in der Menschen über tödliche Routen geschleust werden, in Inhaftierungszentren gefangen gehalten werden oder auf See sterben.
Bei der Migration von Menschen aus Westafrika durch Niger und der Sahara nach Libyen handelt es sich jedoch um eine neuere Entwicklung. In den 2000er-Jahren wurde Präsident Muammar Gaddafi zu einem wichtigen Partner der Europäischen Union (EU) in ihren Bemühungen, die „illegale“ Migration durch Libyen einzudämmen. Nach seinem Sturz im Jahr 2011 und dem darauffolgenden Chaos in Libyen sahen viele Migrant_innen eine Chance, nach Europa zu gelangen, und die Zahl der Menschen aus Afrika südlich der Sahara, die das Land durchquerten, stieg erheblich an. Dies führte zu den oben kurz erwähnten Bemühungen der EU, Niger zu ermutigen und zu unterstützen, irreguläre Migration durch die Stärkung der Grenzsicherheit zu verhindern. . Allerdings wurden die erwarteten Ergebnisse nicht erzielt und „der Menschenschmuggel [in Niger] ist Teil staatlich geförderter Schutzgelderpressung, die sich als extrem widerstandsfähig erwiesen hat“, teilweise weil „die Mobilität von Menschen ein hohes Maß an sozialer Legitimität genießt.“
COVID-19 und die Grenze zwischen Niger und Libyen
Im Jahr vor der COVID-19-Pandemie hatte sich gezeigt, dass die Bemühungen der EU, gemischte Migrationsbewegungen durch Niger zu reduzieren, auf einer falschen Prämisse beruhten, nämlich dass Niger ein gemeinsames Interesse mit der EU habe, die irreguläre Migration einzudämmen. Die Konzentration auf Agadez, einem Knotenpunkt des Schleusens in der Wüste Sahara, ist ein Paradebeispiel dafür, dass die EU es versäumt hat, Interventionen zur Reduzierung der Migration auf einem komplexen Verständnis und Begreifen der lokalen Dynamiken zu begründen. Auch wenn diese lokalen Dynamiken auf dem grenzüberschreitenden Schleusen basieren, sind sie für die politische Ökonomie der Sahelzone zentral; bei der Migration zwischen Niger und Südlibyen, d.h., dem Überqueren der Grenze, scheint es sich um ein komplexes Netzwerk zu handeln, das, allgemein formuliert, die Region stabilisiert.
Die COVID-19-Pandemie hat eine Situation geschaffen, die die widerstandsfähigen Netzwerke der Schleuser_innen gestört hat. Sie hat einen Einblick in das gegeben, was man als logische Schlussfolgerung des politischen Kurses der EU betrachten könnte: eine schwer bewachte und geschlossene Grenze. Während der ersten Monate der COVID-19-Pandemie hat die Regierung von Niger Im Rahmen eines Ausnahmezustands die Grenzen – auch die Grenze mit Libyen – geschlossen und den Reiseverkehr nach und von der Hauptstadt Niamey eingeschränkt.
Infolge der Schließung, der verstärkten Überwachung und Patrouillen entlang der Grenze sowie blockierter Straßen wurden die Migrationsbewegungen verlangsamt, und Hunderte Menschen aus Gambia, Senegal und Mali, die entschlossen waren, auf dem Weg nach Libyen Niger zu durchqueren, strandeten.
Auf der libyschen Seite wurden die Patrouillen verstärkt, und Soldat_innen wurden wachsamer, um zu verhindern, dass Migrant_innen die geschlossene Grenze überquerten. Viele Checkpoints wurden eingerichtet, um Migrant_innen zu kontrollieren, die in nigerische Grenzorte wie Dirkou und Madama reisten, in der Hoffnung, in Libyen einreisen zu können. Trotz dieser Maßnahmen ist einigen Migrant_innen die Weiterreise gelungen, aber es gibt immer mehr Belege dafür, dass Westafrikaner_innen in den letzten Monaten ebenfalls ihre Routen geändert haben, einschließlich einer neuen Route in Richtung Kanarische Inseln.
Diejenigen Migrant_innen, denen es nicht gelingt, die Sahara nach Libyen zu überqueren, werden von Militärpatrouillen abgefangen, inhaftiert oder wieder nach Niger und dann in ihre jeweiligen Länder deportiert. AFP berichtete im Mai 2020 , dass die Armee von Niger in weniger als zwei Monaten mehr als 300 Migrant_innen entlang der libyschen Grenze festgenommen hat. Im gleichen Zeitraum wurde berichtet, dass etwa 60 Fahrzeuge, die Migranten transportierten, es schafften, nach Libyen einzureisen, nur um von libyschen Grenzsoldaten aufgehalten zu werden. Wieder andere Migrant_innen und Schleuser_innen werden Berichten zufolge in die Sahara zurückgeschickt. Dort erhalten sie Hilfe, etwa von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die berichtet hat, dass mehr als 1.600 Migrant_innen seit Schließung der Grenzen Ende März in der Wüste gestrandet waren.
Während der COVID-19-Pandemie ist die Grenze zwischen Niger und Libyen zur Warnung geworden, und zwar gegen die Fortsetzung der EU-Migrationspolitik Hier wurde herausgestellt, wie lange, nuancierte Geschichten der Mobilität, verknüpft mit neueren politischen Ökonomien, von Bemühungen, die Migration von Menschen einzudämmen, nicht „außer Kraft gesetzt“ werden dürfen.
Fazit
Dieser Artikel begann mit einem Schlaglicht auf die politischen Meilensteine Afrikas auf dem Weg zur Förderung des freien Personenverkehrs. Die Grenze zwischen Niger und Libyen wurde als Beispiel dafür betrachtet, wie die Auswirkungen von COVID-19 auf die Migration in Afrika – nämlich die erhebliche Verschärfung der Risiken und Gefährdungen von Migrant_innen als Folge der Grenzsicherung, -militarisierung und -schließung – einen grundlegenden Unterschied in den migrationspolitischen Positionen zwischen Afrika und Europa deutlich gemacht haben. Während Europa in den 1980er- und 1990er-Jahren auf offene Grenzen und den freien Personenverkehr als Ergebnis von Stabilität hinarbeitete, um die Mobilität von Menschen zu fördern, entwickelt Afrika Politiken für den freien Personenverkehr in Anerkennung der Tatsache, dass die bereits existierende Mobilität afrikanischer Menschen eine Quelle für Stabilität, und keine Folge der Stabilität, ist. Die plötzliche Stärkung der Sicherung entlang geschlossener Grenzen in Afrika gewährt einen unbeabsichtigten Blick auf die logische Folge jener Aspekte der EU-Migrationspolitik, die sich auf die Verhinderung irregulärer Migration nach Europa konzentrieren, indem sie die Unterdrückung von Migration mit dem Aufbau von Stabilität verknüpfen und dabei den oben beschriebenen Unterschied verkennen: das Ergebnis war und ist häufig nachteilig für die Rechte und das Leben von Migrant_innen.
Damit die Afrikanische Union, die RECs und die nationalen Regierungen eine wirksame afrikanische Migrationspolitik aufbauen können, die auf die lokale Dynamiken abgestimmt und gegenüber Schocks wie einer globalen Pandemie widerstandsfähig ist, muss die Europäische Union die Bemühungen Afrikas unterstützen, die Freizügigkeit zu stärken, um sie für die Entwicklung politischer Stabilität und wirtschaftliche Macht zu nutzen.
Empfehlungen
Diese Betrachtungen erlauben einige Schlüsselempfehlungen:
- Politische Entscheidungsträger_innen, afrikanische wie europäische, sollten die Interessen afrikanischer Migrant_innen und Geflüchteter garantieren, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb Afrikas;
- Afrikanische Migrationspolitiken fördern, unterstützen und stärken und in jeglicher interkontinentaler Zusammenarbeit in den Vordergrund stellen, um anzuerkennen, dass sie auf einem besseren Verständnis der Schlüsseldynamiken beruhen.
- Afrikanische Länder sollen alle Initiativen zur Militarisierung von Grenzen und zur Kriminalisierung von Migrant_innen stoppen und dabei sämtliche Rechtsinstrumente und politische Engagements von Staaten achten;
- Das Recht auf Freizügigkeit und Mobilität für Afrikaner_innen anerkennen, ähnlich wie für Europäer_innen, um zu gewährleisten, dass Migrant_innen nicht länger „illegal“ sind;
- Länder sollen Maßnahmen ergreifen, um die Inhaftierung von Migrant_innen zu beenden, da sie ihnen ihre Rechte in zweifacher Hinsicht – Recht auf Freizügigkeit und Recht auf Freiheit – vorenthält. Inhaftierungen können auf unbestimmte Zeit erfolgen; es fehlt dabei an Überwachung, die den Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung gewährleisten soll;
- Alle Empfehlungen beziehen sich auch auf die Beseitigung sämtlicher Formen der Diskriminierung, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Bei diesem Thema sind mehr Arbeit und mehr Fokus in besonderem Maße erforderlich. Gerade in dieser politischen Zeit, da Rechtsextreme in Europa und migrationsfeindliche Einstellungen insgesamt erstarken, sind alle aufgerufen, sich zu engagieren, um diesem Trend zu begegnen;
- Politische Maßnahmen ergreifen, um erzwungene Rückkehr von Migrant_innen, gerade in dieser Zeit der Pandemie, zu stoppen.Der Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration (GCM) empfiehlt die „Zusammenarbeit [von Staaten] bei der Ermöglichung einer sicheren und würdevollen Rückkehr und Wiederaufnahme sowie einer nachhaltigen Reintegration“, und viele afrikanische Staaten haben als Teil bilateraler Vereinbarungen mit verschiedenen europäischen Staaten die Aufnahme abgeschobener Migrant_innen bereits umgesetzt.
Autor:
Mamadou GOÏTA ist Entwicklungssozioökonom und Spezialist für Bildungs- und Ausbildungssysteme, Forscher und Lehrer aus Mali. Er ist geschäftsführender Direktor von IRPAD/Afrique (Institut für Forschung und Förderung von Alternativen in der Entwicklung) und arbeitete in der Vergangenheit für UNICEF, UNDP, OXFAM-Belgien und ACORD. Er ist Gründungsmitglied und Vorsitzender des Pan-African Network in the Defence of Migrants' Rights-(PANiDMR) - ein Gründungs- und Vorstandsmitglied der Global Coalition on Migration.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Global Coalition on Migration und der Friedrich-Ebert-Stiftung über internationale Migration während der COVID-19-Pandemie. Sie analysiert die Auswirkungen der Pandemie auf den Schutz internationaler Migrant_innen; Schwerpunkte sind dabei verschiedene Instrumente der Menschenrechte, internationales Recht, der Globale Pakt sowie internationale Übereinkommen, die die Rechte von Migrant_innen schützen. Die Artikel behandeln verschiedene Themen, u.a. Geschlecht, Arbeit, Regularisierung, Rasse, Fremdenfeindlichkeit, Sicherheit, Grenzen, Zugang zu Dienstleistungen sowie Inhaftierung.