Wir sprachen mit der ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin Zehida Bihorac über die Situation in Bosnien und Herzegowina.
Tausende Menschen in der Region um die Stadt Bihać sind obdachlos – ohne ausreichend Nahrung, Medizin oder Strom. Und das mitten im Winter. Viele Geflüchtete versuchen, über die Grenze nach Kroatien in die EU zu kommen. Doch die meisten Menschen werden dort gewaltsam gestoppt und nach Bosnien und Herzegowina zurück gebracht. Eine Verlegung von Hunderten Menschen in eine alte Kaserne scheiterte an örtlichen Protesten. Wir sprachen mit Zehida Bihorac, die in Velika Kladuša, einer Stadt im Nordwesten Bosniens ehrenamtlich Geflüchtete unterstützt. Velika Kladuša ist rund eine Autostunde von dem provisorischen Lager Lipa entfernt.
FES: Können Sie uns kurz beschreiben, wie die Menschen aus dem ehemaligen Flüchtlingslager Lipa momentan untergebracht sind und wie der Zugang zu den Menschen für humanitäre Organisationen und ehrenamtliche Helfer_innen ist?
Zehida Bihorac: Internationale humanitäre Organisationen, Freiwillige und die unabhängige Berichterstattung der Medien aus der EU waren entscheidend für die Unterstützung und Umsetzung einiger Mindestbedingungen – wie auch immer diese ausfielen – für die Unterkunft und das Leben der Geflüchteten im verbrannten Lager Lipa.
in den letzten Monaten in Velika Kladuša Freiwillige_r und Aktivist_in zu sein, bedeutet: Hass und Gewalt ausgesetzt zu sein in den sozialen Netzwerken. Gegen die verbale und sogar physische Gewalt von Mitgliedern von Anti-Migrant_innen-Gruppen auf Facebook gibt es weder einen rechtlichen noch sonst irgendwelchen Schutz.
Sie selbst arbeiten mit Geflüchteten in Velika Kladuša. Welche Auswirkungen hatten die Entwicklungen der letzten Wochen in Lipa auf die Situation von Geflüchteten in Velika Kladuša und ihr ehrenamtliches Engagement?
Die Folgen sind vielfältig und haben die ohnehin schwierige Situation der Geflüchteten und der lokalen Bevölkerung weiter verschärft. Aus Lipa gingen einige Menschen in Richtung Bihać und Velika Kladuša. Die lokale Bevölkerung hat Angst um ihr Privateigentum und die Geflüchteten sind auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft. Geflüchtete und Migrant_innen, die durch ihre ständigen Versuche und Misserfolge, die EU-Grenzen zu überqueren, bereits traumatisiert sind, leben aufgrund völliger Unsicherheit und Informationsmangel über ihr Schicksal und ihren Aufenthalt zusätzlich in Angst.
Oft ist die Rede von „örtlichen Protesten“ und „Anti-Migrant_innen-Gruppen“, die gegen eine Unterbringung von Geflüchteten in der Region sind. Können Sie uns sagen, wer diese Proteste organisiert und was ihre Motivation ist?
Bei den „Anti-Migrant_innen-Gruppen“ handelt es sich um kleinere Menschengruppen, die sich entweder aus Eigeninteresse, aus politischem Kalkül (um weiterhin ein Teil der Regierung zu bleiben) oder aus persönlicher Unzufriedenheit und Frustration versammeln. Das alles eskalierte in den letzten vier bis fünf Monaten bzw. in der letzten Etappe des Wahljahres 2020.
Nachdem die örtlichen Behörden einer Verlegung der Geflüchteten in beheizbare leere Fabrikhallen nicht zugestimmt haben, wird das Lager Lipa jetzt durch die bosnische Armee winterfest wiederaufgebaut.. Wie realistisch ist das?
Dass die Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina viele interne Probleme hat, die sie nicht lösen kann, ist Realität. Die Konsequenzen davon sind, dass sie nicht fähig ist, ein noch größeres Problem, wie die Aufnahme und Versorgung einer hohen Anzahl von Migrant_innen, in Angriff zu nehmen, zumal dies den Staat völlig unvorbereitet getroffen hat. Das heißt: weder gibt es eine institutionelle Lösung, noch ist eine solche in naher Zukunft ersichtlich.
Ohne die Unterstützung und Hilfe der EU sind die Institutionen in Bosnien und Herzegowina nicht in der Lage, eine Lösung für die aktuelle Situation zu finden.
Aktuell hat sich gezeigt, dass es auf staatlicher Ebene einzig die bosnischen Streitkräfte geschafft haben, minimale Lebensbedingungen für diese Menschen zu ermöglichen.
Was sollte ihrer Meinung nach die EU und Staaten wie Deutschland tun, um die Situation von den geflüchteten Menschen zu verbessern?
Deutschland und die EU-Länder können konkret helfen, wenn sie so schnell wie möglich eine bestimmte Anzahl von Migrant_innen und Geflüchteten aufnehmen. Falls dies nicht möglich ist, sollten sie der Regierung von Bosnien und Herzegowina jegliche finanzielle Unterstützung verweigern, bis diese die Menschenrechtskonvention, deren Unterzeichner Bosnien und Herzegowina schließlich ist und schon alleine deswegen zu berücksichtigen hat, nicht vollständig umsetzt. Und dabei geht es in erster Linie um Unterkunft und die Bearbeitung von Asylanträgen.
Zusatz zur Lage von Zehida Bihorac:
Die kantonalen Behörden treffen sehr oft diskriminierende Entscheidungen, welche völlig im Widerspruch zur Verfassung stehen. Eine davon ist das Verbot von Nahrungsverteilung in illegalen Flüchtlingslagern, Notunterkünften und verlassenen Gebäuden.
Soll heißen, in Notunterkünften und „wilden“ Flüchtlingslagern befinden sich Menschen, die aus Platzmangel nicht ins Flüchtlingscamp aufgenommen werden konnten. IOM kümmert sich um die Menschen im Camp. Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen im Camp, mit Personalausweis, der ein Anrecht auf Nahrung hat, und einem Menschen ohne einen Platz im Camp?
DRINGEND MUSS DER REGIERUNG DES UNA-SANA-KANTONS AUFERLEGT WERDEN, EINE UNUNTERBROCHENE NAHRUNGS- UND MEDIKAMENTENLIEFERUNG FÜR MENSCHEN IN NOT, DIE SICH AUSSERHALB DES CAMPS BEFINDEN, ZU BEWILLIGEN. FERNER SOLLEN DAZU AUFRUFEN, DIE RECHTE UND FREIHEITEN VON MIGRANT_INNEN, FREIWILLIGEN UND AKTIVIST_INNEN ZU RESPEKTIEREN.
Für den Mangel an Empathie und Verständnis in der Bevölkerung (welche anfangs allgegenwärtig waren) sind größtenteils bestimmte Medien in Bosnien und Herzegowina verantwortlich, die falsche und unangemessene Anschuldigungen und Charakterisierungen von Geflüchteten und Migrant_innen bewusst platzieren und verbreiten.
Übersetzung ins Deutsche: Halida Sinanović-Sarač