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von Karl-Heinz Lambertz
Die Corona-Epidemie und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen haben unser Alltagsleben einschneidend verändert. Von zahlreichen Lebensgewohnheiten und Verhaltensmustern mussten wir uns verabschieden. Lieferketten brachen zusammen, zahlreiche Dienstleistungen waren – wenn überhaupt – nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich. Die öffentliche Hand musste massiv eingreifen, um Wirtschaft und Gesellschaft einigermaßen funktionstüchtig zu halten. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass zahlreiche Betriebe in Existenznot und ganze Bevölkerungsgruppen an den Rand des sozialen Absturzes gerieten.
In vielen Bereichen ist ein Paradigmenwechsel notwendig
Zurzeit kann niemand mit Gewissheit vorhersagen, wie sich die Pandemie weiterentwickeln und wie sich dies auf die Weltlage auswirken wird. Eines müsste allerdings klar sein: Ein einfaches „Weiter so“ kann und darf es nicht geben. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik müssen sich neu aufstellen und einiges von dem grundsätzlich infrage stellen, woran sich die Weltordnung seit Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere seit Wegfall des Eisernen Vorhangs orientiert hat. In vielen Bereichen bedarf es eines Paradigmenwechsels. So brauchen wir dringend eine Abkehr vom Primat der Gewinnmaximierung um jeden Preis, in deren Logik Eigeninteressen ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit und unter Missachtung der Nachhaltigkeit durchgesetzt werden. Wir brauchen eine Rehabilitation staatlichen Handelns und öffentlicher Dienstleistungen, in deren Fokus die Lebensqualität und die Entfaltungsmöglichkeiten der gesamten Bevölkerung stehen.
Ein solcher Paradigmenwechsel lässt Spannungsfelder entstehen, die zu erheblichen Konflikten führen können. Diese müssen Gegenstand demokratischer Auseinandersetzungen im Ringen um den besten Weg sein und unter möglichst großer Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen politischen Handels entschieden werden. Dabei darf es jedoch nicht zu einem Diktat der Mehrheit und einem Aushebeln der Minderheitsrechte kommen. Es bedarf eines gemeinsamen Wertekanons im Sinne des Rechtsstaatsprinzips und eines ständig neu zu schaffenden Gleichgewichts zwischen den Grundwerten von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, deren gegenseitige Wechselwirkung letztlich die beste Grundlage dafür ist, eine dauerhaft dem Menschheitswohl dienende Gesellschaftsordnung zu gewährleisten.
Der Handlungsdruck und die Dringlichkeit notwendiger Veränderungen und Reformen sind dabei in der EU – nicht erst seit der Corona-Pandemie – groß. Die Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit anderer Kontinente lassen diese zu ernsthaften Konkurrenten Europas heranwachsen. Das europäische Demokratie- und Sozialstaatsmodell muss sich gegen Systeme behaupten, deren Vorstellungen oft weit von den unseren entfernt sind. Wenn wir den Platz und die Werte Europas verteidigen, wenn wir weiterhin eine wichtige Rolle auf der Weltebene spielen und in einem sich wandelnden globalen Kontext unsere Handlungsfähigkeit bewahren wollen, dann müssen wir die EU selbstkritisch auf den Prüfstand stellen, die Erfolge und Misserfolge des bisherigen Einigungsprozesses detailliert analysieren und die richtigen Weichen für die zukünftige Entwicklung stellen.
Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften spielen eine wichtige Rolle
Nach meiner Überzeugung fällt der besseren Einbeziehung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in den Aufbau und die Funktionsweise der EU dabei eine zentrale strategische Bedeutung zu. „Die Städte und Regionen brauchen die Europäische Union, die Europäische Union braucht die Städte und Regionen“. Ja: „Die Städte und Regionen sind die Zukunft der Europäischen Union!“ Dies waren nicht nur die Titel der Reden zur Lage der EU aus Sicht der Gebietskörperschaften, die ich im Oktober 2018 und 2019 als Präsident des Ausschusses der Regionen (AdR) gehalten habe. Hinter diesen Aussagen steht auch eine dreidimensionale Konzeption, dank derer das europäische Haus vom Kopf auf die Füße gestellt und über die Gebietskörperschaften sowie die dort tätigen rund eine Million gewählten Amtsträger_innen wieder näher an die Menschen und das Geschehen vor Ort herangeführt werden kann.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Europa findet nicht nur in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg, sondern zuallererst vor Ort in den Dörfern und Städten statt, wo die Bürger_innen leben. In den Kommunen und Regionen entscheidet sich letztendlich, ob die Menschen in ihren Köpfen und Herzen die EU als einen Mehrwert oder aber als etwas erleben, was sie bedroht, belästigt, behindert oder gar verärgert. Wenn Europa diesen Test besteht und wenn es darüber hinaus auch noch gelingt, mehr als bisher das, was Menschen vor Ort erleben, denken und sagen, auf die europäische Entscheidungsebene zu transportieren, dann – aber auch nur dann – stehen die Weichen für eine erfolgreiche europäische Zukunft richtig.
Die Idee einer Konferenz über die Zukunft Europas bietet den willkommenen Anlass, diese Neuorientierung ohne Scheuklappen im Rahmen eines Entscheidungsfindungsprozesses vorzunehmen, bei dem von der europäischen über die nationale bis zur regionalen und lokalen Ebene alle beteiligt und die Bevölkerungen im Rahmen eines fachkundig organisierten Bürgerbeteiligungsprozesses effektiv einbezogen werden. Dennoch kann nicht auf den hypothetischen Erfolg einer in den Unionsverträgen verankerten Neuordnung des europäischen Entscheidungsrahmens gewartet werden, um die dringend notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen.
Die EU muss jetzt und ohne weiteren Verzug die Entscheidungen treffen, die zur Bewältigung der zahlreichen Krisen und der großen Herausforderungen unserer Zeit, zu denen auf jeden Fall Frieden, Klimaschutz, Digitalisierung, Globalisierung, Metropolisierung, Migration, demografischer Wandel, Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit gehören, notwendig sind. Dies muss auf eine Art und Weise geschehen, die alle Ebenen des europäischen Gemeinwesens einbezieht und die dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung trägt. Es bedarf vor allem einer Neubewertung der Regelungsdichte von EU-Entscheidungen sowie einer ergebnisorientierten Umsetzung des Konzepts der aktiven Subsidiarität. Die Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften spielt dabei eine besonders wichtige Rolle.
Die Handlungs- und Investitionskapazität der Gebietskörperschaften muss gestärkt werden
Die gemeinsam zu entwickelnden Strategien werden allerdings nur dann realitätstauglich und ein wirkungsvolles Handeln auf lokaler und regionaler Ebene nur dann möglich sein, wenn den praktischen Voraussetzungen vor Ort in genügendem Maße Rechnung getragen wird. Die Handlungs- und Investitionskapazität der Gebietskörperschaften hängt in nicht unerheblichem Maße von europäischen Entscheidungen und Rahmenbedingungen ab. Dazu gehören insbesondere die auf die Daseinsvorsorge anwendbaren Regeln des Binnenmarkts sowie des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Bekämpfung der Corona-Epidemie macht erneut deutlich, wie wichtig starke und handlungsfähige Gebietskörperschaften sind. Dies gilt ebenso für den Einsatz gegen den Klimawandel, die Verhinderung der digitalen Kluft oder die Konkretisierung der in Göteborg beschlossenen Prinzipien des sozialen Pfeilers der EU-Politik.
Zur Handlungsfähigkeit der Gebietskörperschaften gehört neben der innerstaatlichen Zuständigkeit und Mittelausstattung auch ganz entscheidend der in der EU-Gesetzgebung vorgesehene Handlungsrahmen für Dienstleistungen öffentlichen Interesses und sonstige Tätigkeiten der Daseinsvorsorge. Die diesbezüglichen Vorschriften sind seit den Römischen Verträgen von Widersprüchen gekennzeichnet und haben im Laufe der Zeit zunehmend unter dem Einfluss neoliberaler Prinzipien zu einer vom Wettbewerbsrecht und den Regeln des Binnenmarkts – insbesondere im Bereich der Staatsbeihilfen – verursachten Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand geführt. Dem muss dringend Einhalt geboten werden. Es gilt vor allem, das Regel-Ausnahme-Verhältnis umzukehren und einen europarechtlich abgesicherten und dem Allgemeinwohl verpflichteten Rechtsrahmen für das Handeln lokaler und regionaler Gebietskörperschaften zu schaffen, die bei der Erbringung von bürgernahen Dienstleistungen öffentlichen Interesses eine herausragende Rolle spielen.
Die Investitionskapazität und die finanziellen Handlungsmöglichkeiten der Gebietskörperschaften werden ebenfalls in vielfacher Weise von Entscheidungen der EU-Institutionen beeinflusst. Dies gilt zuallererst für den Zugriff auf europäische Fördermittel aus den einzelnen Programmen des EU-Haushalts und insbesondere der Strukturfonds sowie der Umwelt- und Bildungsprogramme. Deren Wirksamkeit hängt nicht zuletzt von der aktiven und partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen europäischen, nationalen und regionalen Entscheidungsträger_innen bei der Festlegung und Durchführung der Programminhalte sowie der Kontrolle ihrer Umsetzung ab, bei der Effizienz zu gewährleisten, gleichzeitig aber unnötige Bürokratie zu verhindern ist. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe erweist sich als besonders wirkungsvoll. Auch das Herbeiführen interregionaler Vernetzungen trägt oft zur Verbesserung der Ergebnisse bei und lässt erheblichen europäischen Mehrwert entstehen.
Neben dem Zugang zu europäischen Fördermitteln hängt die Investitionsfähigkeit der Gebietskörperschaften auch von den Haushaltsregeln ab, denen Staatshaushalte aufgrund des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie der im Rahmen der Euro-Krise erlassenen Bestimmungen unterworfen sind. Diese führen wiederum zu nationalen Empfehlungen seitens der EU-Kommission, die oftmals auf die regionale und lokale Ebene heruntergebrochen werden, da die dortigen Haushalte nach den Eurostat-Normen auf gesamtstaatlicher Ebene zu konsolidieren sind. Zu den wichtigsten Folgen dieser Vorgehensweise gehört die zum Teil drastische Einschränkung der Verschuldungskapazität zahlreicher Gebietskörperschaften, denen der Zugang zur Kreditfinanzierung ihrer Investitionen verbaut wird. Die Folgen dieser Austeritätspolitik lassen sich vielerorts – auch in reichen Mitgliedstaaten – mit bloßem Auge am Zustand der öffentlichen Gebäude und Infrastrukturen erkennen und führen darüber hinaus zu Investitionsrückständen, die zukünftige Entwicklungsperspektiven nachhaltig beeinträchtigen.
Beim Umgang mit der Staatsschuld und der Finanzierung öffentlicher Investitionen durch Rückgriff auf den Kapitalmarkt bedarf es daher dringend eines Umdenkens. Für die Bewertung der Verschuldungskapazität muss nicht der „Schwarze-Null-Fetischismus“, sondern die Zukunftsrelevanz der geplanten Investition im Vordergrund stehen. Das Wofür einer Verschuldung ist mindestens ebenso wichtig wie das Wieviel, wobei bei letzterem natürlich nicht die Tragfähigkeit der geplanten Kreditaufnahme aus dem Auge verloren werden darf. Die im Rahmen der Finanzierung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie und ihrer Folgen von der EU beschlossene Flexibilisierung der Haushaltskriterien sollte den Anlass bieten, diese Kriterien auch einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen und ein neues Modell zu entwerfen, das Zukunftsinvestitionen erleichtert, anstatt sie zu verhindern oder hinauszuzögern. Dieses neue Modell sollte der spezifischen Situation der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften als einem der wichtigsten Träger öffentlicher Investitionen gebührend Rechnung tragen.
Gemeinsam die EU-Integration ausbauen – zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Europa
Wenn die EU wieder stärker mit der Hoffnung auf Verbesserung der Lebensbedingungen möglichst vieler Menschen in Europa in Verbindung gebracht werden soll, darf die europäische Integration nicht politisch ausgebremst und nationalistisch rückentwickelt werden. Sie muss vielmehr systematisch ausgebaut und auf die Bereiche ausgedehnt werden, die in Zeiten zunehmender Globalisierung und weltweiter Abhängigkeiten als gemeinsame Aufgaben zu begreifen sind, ohne dass es zu einem Verlust der Vielfalt, die Europa in besonderem Maße prägt, und zu einer mit dieser nicht zu vereinbarenden Vereinheitlichung kommt. Dabei spielen offene Binnengrenzen, ein integrierter Binnenmarkt, vergleichbare Bildungs- und Sozialstandards ebenso eine entscheidende Rolle wie gemeinsame Umweltstrategien und eine mit der gemeinsamen Währung einhergehende, besser koordinierte Steuer- und Sozialpolitik.
Bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg, den zurzeit übrigens viele aus zum Teil entgegengesetzten Gründen nicht zu gehen bereit sind. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei. Nur so lassen sich das europäische Sozialstaats- sowie das damit eng verbundene Demokratie- und Rechtsstaatsmodell – so schwierig es auch sein mag, deren Inhalte genau zu definieren – aufrechterhalten und dauerhaft in die Zukunft retten. Daran mit geeigneten Mitteln hart zu arbeiten und dafür allen Widerständen zum Trotz standhaft zu kämpfen ist eine lohnende und begeisternde Aufgabe. Sie lässt sich nicht von der Politik alleine, sondern nur in engem Schulterschluss mit der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der gesamten Bevölkerung bewältigen.
Den Kommunen, Regionen und sonstigen Gebietskörperschaften fällt dabei eine wichtige Rolle zu, die zweifellos noch ausgebaut und verstärkt werden kann. Als dritte Dimension des europäischen Gemeinwesens verfügen sie vor Ort über den engsten Kontakt zur Lebenswirklichkeit und zum Alltag der Bevölkerung. Dieses bedeutende Alleinstellungsmerkmal kann, soll und muss in den Dienst der europäischen Integration gestellt werden und vermag erheblich zu deren Vollendung beizutragen. Dabei kann der AdR eine wichtige Koordinationsrolle übernehmen und als inspirierende, ergebnisorientierte und wirkungsvolle Plattform dienen.
Karl-Heinz Lambertz ist Präsident des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft (PDG), Eupen und ehemaliger Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen (AdR) (2017-2020), Brüssel.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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