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Befürworter der Plattformökonomie nutzen das Leid ukrainischer Geflüchteter, um Regulierungen abzuwehren. Aber alle Arbeitnehmer_innen verdienen eine menschenwürdige Arbeit!
In den vergangenen Monaten war eine Welle der Solidarität mit Geflüchteten zu beobachten, die angesichts der Zerstörungen von Putins Krieg in der Ukraine das Land verlassen hatten. Während Menschen ihre Wohnungen und Häuser öffneten, um die Opfer zu unterstützen, verfolgten digitale Arbeitsplattformen einen anderen Ansatz.
Plattformarbeit als Integrationsmodell?
Verfechter eines Beschäftigungsmodells, das sich auf digitale Plattformen stützt, empfahlen den Aufnahmeländern dieses Modell als Lösung für die Integration ukrainischer Geflüchteter. Dies steht im Zusammenhang mit den Arbeiten an einer Richtlinie der Europäischen Union, die EU-Firmen mit plattformgestützten Beschäftigungsmodellen vorschreiben würde, ihre Arbeitskräfte als Angestellte einzustufen (die somit Anspruch auf Sozial- und Arbeitsrechte hätten). Das neueste Argument von Gegnern dieses Vorhabens lautet, dass dadurch ukrainische Geflüchtete (und auch alle anderen) daran gehindert würden, Zugang zu Arbeitsplätzen in den Aufnahmeländern zu erhalten.
In Wirklichkeit ist dies nur Teil des jüngsten Versuchs seitens der digitalen Arbeitsplattformen, sich den Bemühungen der EU um die Beendigung der Scheinselbständigkeit und den Schutz des europäischen Sozialmodells entgegen zu stellen. Kollektivverhandlungen und sozialer Dialog sind die Bausteine eines Wohlstands, der von allen geteilt wird und unsere Gesellschaften vor erdrückender Ungleichheit schützt. Wenn Beschäftigung über Plattformen unsichere und unterbezahlte Arbeit bedeutet, kann dies kein zukunftsfähiger Weg sein. Ein auf wirklicher Solidarität beruhendes Angebot sollte den Geflüchteten die ersehnte Sicherheit durch menschenwürdige Arbeitsbedingungen bieten.
Das europäische Sozialmodell schützen
Während sich die EU auf den langen und gewundenen Weg zur Einführung dringend benötigter Rechtsvorschriften macht, lohnt es sich, die verschiedenen Interessen und Argumente zu untersuchen, die Einfluss auf das Ergebnis nehmen wollen.
Die Erfahrungen in Kalifornien zeigen uns, was zu erwarten ist. Firmen wie Uber, Lyft und andere haben 200 Millionen Dollar mobilisiert, um frühere Gesetze auszuhebeln, die arbeitenden Menschen grundlegende Rechte zugestanden hatten. In der EU werden diese Firmen jetzt versuchen, selbständige Beschäftigung als den einzigen Weg zu Freiheit und Flexibilität darzustellen, gesetzliche Vorschriften dagegen als bürokratische Tyrannei. Durch Einsatz gewaltiger Geldsummen Gesetzesänderungen herbeizuführen ist Teil ihres Geschäftsmodells.
Ihre Strategie kann jedoch nur aufgehen, wenn wir uns bei der Gestaltung der öffentlichen Politik durch üppig finanzierte Hochglanznarrative beeinflussen lassen. Die EU muss zeigen, dass Investitionen in die Untergrabung des europäischen Sozialmodells garantiert scheitern werden. Konkret bedeutet das, dass der Nachweis eines Anstellungsverhältnisses nicht den einzelnen Arbeitnehmer_innen aufgebürdet werden darf. Daher wird die Beendigung der von Plattformunternehmen genutzten Scheinselbständigkeit durch die gesetzliche Verankerung eines eindeutigen Beschäftigungsstatus weiterhin ein zentrales Anliegen von UNI Europa sein.
Auf diesem Weg für Rechtssicherheit zu sorgen, ist gut für die Arbeitnehmer_innen, gut für ihre Kolleg_innen, die weiterhin im Rahmen traditioneller Beschäftigungsmodelle arbeiten, und es ist auch gut für die digitalen Plattformen selbst. Diese Unternehmen betonen zwar die Notwendigkeit besserer Planbarkeit, aber sie wollen so wenig Regulierung wie möglich. Dies führt für alle anderen zu einem Geschäftsmodell wie im Wilden Westen, wo niemand wirklich zur Stelle ist, um das Recht durchzusetzen. Und dann bezahlen sie auch noch den Sheriff.
Ein weiterer zentraler Streitpunkt ist Flexibilität. Natürlich kann sie positiv sein. Aber zu behaupten, Plattformen müssten von der breit gefächerten Flexibilität, die das Arbeitsrecht bereits vorsieht, ausgenommen werden, ist nichts anderes als ein Mangel an Flexibilität von ihrer Seite. Plattformen sollen das Gesetz anwenden, anstatt nach Schlupflöchern zu suchen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Null-Stunden-Verträge ein Fehlschlag waren, aber die Plattformen fordern etwas, das noch schlimmer ist. Sie verlangen Null Stunden, aber ohne einen Vertrag. Für die betroffenen Arbeitnehmer_innen bedeutet dies, dass weder die zu leistenden Arbeitsstunden noch das dadurch erzielte Einkommen planbar sind.
Ebenso wichtig ist die Notwendigkeit, die neuen Rechtsvorschriften zukunftssicher zu machen. Die Richtlinie sollte ein Gesamtsystem für algorithmisches Management enthalten. Die Einschränkungen für vollautomatisierte Systeme, die der Kommissionsvorschlag bisher vorsieht, öffnen erneut Schlupflöcher, die von den Plattformunternehmen genutzt werden können, vor allem in Anbetracht des rasanten technologischen Fortschritts.
Fortschritte durch Kollektivverhandlungen
Die gute Nachricht ist, dass wir schon einmal an einem solchen Punkt waren und dass es eine Lösung gibt.
Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert waren Zeitarbeitsfirmen eine große Bedrohung für das europäische Sozialmodell. Diese neuen Akteure vermittelten Arbeitnehmer_innen in immer größerem Ausmaß an etablierte Unternehmen. Sie übten ihre Tätigkeiten dort häufig zu Bedingungen aus, die unter dem tarifvertraglichen Standard des betreffenden Sektors lagen. Dies führte zu Formen des Sozialdumpings, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem heutigen Beschäftigungsmodell der Plattformen aufwiesen.
Politikern, Gewerkschaften und Zeitarbeitsagenturen gelang es, diese Bedrohung durch Zusammenarbeit abzuwehren. Es wurden Politikinstrumente entwickelt, um den Weg für sozialen Dialog und Kollektivverhandlungen zu ebnen. Entscheidend war die Bereitschaft dieser neuen Arbeitgeber und der Gewerkschaften, durch Dialog zu Lösungen zu kommen. Als UNI Europa führen wir heute einen fest etablierten sozialen Dialog mit Arbeitgebern aus Zeitarbeitsagenturen auf europäischer Ebene, der auch in die Kollektivverhandlungen auf nationaler Ebene integriert ist.
Damit dieses Vorgehen funktioniert, müssen die politisch Verantwortlichen standhaft bleiben und sich gegen eine Schwächung der entscheidend wichtigen Rolle von Kollektivverhandlungen und Konsultationen wehren. Sie sind die Bausteine unseres gemeinsamen Wohlstands, die unsere Gesellschaften vor erdrückender Ungleichheit schützen.
Es ist Zeit, zu handeln
Noch wird dieses Beschäftigungsmodell vor allem mit App-basierten Diensten für Auslieferungen oder Fahrten (delivery/ride-hailing) assoziiert, aber es kommt zunehmend auch bei Firmen in anderen Wirtschaftssektoren zum Einsatz. Arbeitskräfte in Bereichen wie Pflege, Einzelhandel, Reinigung und sogar in der IT-Branche sehen sich mit dem Auftreten und der Zunahme von Uber-ähnlichen Firmen in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld konfrontiert.
Dass diese Arbeitskräfte häufig in der Öffentlichkeit weniger deutlich sichtbar sind, heißt nicht, dass Plattformmodelle, die Standards nicht einhalten, weniger häufig vorkommen würden. So veröffentlichte Fairwork im vergangenen Monat einen Länderbericht über Belgien, der die Qualität der Arbeit bewertete, die von Firmen mit plattformbasierten Beschäftigungsmodellen angeboten wird.
Am schlechtesten schnitten dabei Pflegedienste für häusliche Pflege ab, sie lagen noch unter dem Wert 1/10, der für Deliveroo ermittelt wurde. Während die Welt für diese unverzichtbaren Arbeitskräfte Beifall klatschte, waren die betreffenden Unternehmen fleißig dabei, ihr Beschäftigungsmodell auszudehnen, bei dem die Arbeitskräfte keinen Mindestlohn, keine Sicherheitsausrüstung und auch keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten.
Viele digitale Arbeitsplattformen nutzen seit langem gesetzliche Schlupflöcher; manche sind noch dreister und ignorieren einfach die bestehenden Rechtsvorschriften. Außerdem gibt es keine Transparenz hinsichtlich der Einsatzpläne der Beschäftigten. Für die einzelnen Arbeitskräfte ist es oft schwierig, vorherzusehen, wie viele Einsätze der Algorithmus ihnen zuweisen wird oder an welchem Ort diese sich befinden. Damit halten die Arbeitgeber alle Karten in der Hand, wenn es darum geht, den Arbeitskräften Möglichkeiten zur Interaktion einzuräumen, damit sie die kollektiven Beziehungen aufbauen können, die den Lebensnerv jeder Gewerkschaftsbewegung bilden.
Verbesserung der EU-Gesetzgebung
Q-Commerce (Abkürzung für„Quick Commerce“), ist eine neue, schnellere Form des elektronischen Handels, die sich zunehmend ausbreitet. In vielen Städten Europas werden dezentrale Lebensmittellager (sogenannte „dark stores“) eingerichtet, und den Kunden wird versprochen, dass ihre Lebensmitteleinkäufe in weniger als 15 Minuten ausgeliefert werden. Dies verändert auch den Charakter des Einzelhandels. Ein Siebtel aller Arbeitsplätze in der EU entfällt auf den Handelssektor. Das plattformbasierte Beschäftigungsmodell kann nicht länger als Randerscheinung abgetan, sondern muss frontal angegangen werden – bevor es zu spät ist.
Wir sind zutiefst überzeugt davon, dass die innovative Nutzung digitaler Werkzeuge eine positive Entwicklung sein kann. Die Effizienzgewinne und die Möglichkeiten, die sie eröffnen, können ein Instrument zur Emanzipation der Arbeitnehmer_innen sein und der Gesellschaft als Ganzes zugute kommen. Damit dies gelingt, ist es vordringlich, Kollektivverhandlungen und Sozialdialog in diese neu aufkommenden Modelle zu integrieren.
Die EU muss dem Beispiel vieler Menschen auf dem ganzen Kontinent folgen. In Reaktion auf die Finsternis der Gewalt, die sich in der Ukraine entfaltet, zeigen sie den Weg zum Frieden durch Akte der Solidarität. Nur soziale Gerechtigkeit und menschenwürdige Arbeit können die Grundlagen für dauerhaften Frieden und Wohlstand für alle schaffen. Zwar hat der erste Gesetzgebungsentwurf der Europäischen Kommission in dieser Hinsicht einige wichtige Kästchen angekreuzt, aber es bedarf noch eines ambitionierten Beitrags von Seiten des Europäischen Parlaments, um eine Trendumkehr zu bewirken und die arbeitenden Menschen in den Vordergrund zu stellen.
Oliver Röthig leitet UNI Europa, die Europäische Dienstleistungsgewerkschaft mit 7 Millionen Mitgliedern, als ihr Regionalsekretär, der 2011 erstmals gewählt wurde. Er ist auch Vizepräsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Seit 2011 ist er Mitglied des Verwaltungsausschusses des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) und des Vorstands der UNI Global Union, die 20 Millionen Arbeitnehmer_innen vertritt.
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