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Für Geflüchtete mit Behinderung hat sich insgesamt wenig verbessert

Zehn bis fünfzehn Prozent der Geflüchteten in Deutschland leben mit einer Behinderung. Sophia Eckert, Referentin für politische Arbeit bei Crossroads Handicap International Deutschland e.V. im Interview über die Lebenslage dieser Personengruppe.


Der diesjährige Internationale Tag der Menschen mit Behinderung wird unter dem Motto „Transformative Lösungen für inklusive Entwicklung: Die Rolle der Innovation bei der Förderung einer barrierefreien und gerechten Welt“ stattfinden. Was heißt das konkret, insbesondere für nach Deutschland geflüchtete Menschen?


Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen werden durch vielzählige Barrieren an der wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet die Bundesregierung, diese Barrieren in allen Lebensbereichen abzubauen. Dabei sind digitale und technologische Innovationen, wie barrierefreie Apps und moderne Prothesen, ein wichtiger Baustein. Auch für geflüchtete Menschen mit Behinderung gilt die UN-BRK in Deutschland uneingeschränkt. Transformative Lösungen müssen daher auch ihre Rechte und spezifischen Bedarfe berücksichtigen und gezielt adressieren.

Voraussetzung dafür ist, dass erst einmal zuverlässig und flächendeckend ermittelt wird, ob eine geflüchtete Person eine Behinderung und somit besondere Bedarfe hat. In Deutschland gibt es trotz eindeutiger Vorgaben der UN-BRK und der EU-Aufnahmerichtlinie hierfür kein einheitliches und verbindliches System. Wenn eine Behinderung identifiziert wurde, muss zudem umfänglicher Zugang zu Gesundheits-, Pflege- und Teilhabeleistungen gewährt werden. Auch hier existieren aktuell massive gesetzliche und tatsächliche Hürden. In Digitalisierungsprozessen, z. B. in Behörden, muss die Inklusion von Geflüchteten mit Behinderung ebenfalls mitgedacht werden. So können barrierefreie Apps, die durch Bildschirmlesehilfen zugänglich gemacht werden, die Informationsvermittlung niedrigschwellig gestalten.
 

Die Bundesregierung hat sich für die laufende Legislaturperiode vorgenommen, die Barrierefreiheit zu fördern. Wie beurteilen Sie die Umsetzung dieses Vorhabens vor dem Hintergrund der Bedarfe geflüchteter Menschen mit Behinderung?


Viele Aufnahmeeinrichtungen sind weiterhin nicht barrierefrei und bedarfsgerecht, was für Geflüchtete mit Behinderung eine besondere Belastung darstellt. Es fehlen meist Blindenleitsysteme, Lichtklingeln, Piktogramme für Beschilderungen, automatische Türöffner und Aufzüge für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Barrierefreiheit allein genügt zudem nicht: Autist*innen etwa sind in großen, lauten Einrichtungen nicht bedarfsgerecht untergebracht - ebenso wenig wie Menschen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation eine spezielle Ernährung benötigen. Die großen Aufnahmestrukturen sind aus Sicht von Crossroads keine bedarfsgerechten Wohnformen.

Auch bei Behörden und Gerichten gibt es erheblichen Nachbesserungsbedarf. So wird dem Recht auf barrierefreie Informationsvermittlung im Asylverfahren in der Regel nicht entsprochen, etwa bei den Entscheidungen. Dies kann den Zugang zu rechtlicher Vertretung verzögern und damit das Recht auf Rechtsbeistand bedrohen.

Insgesamt hat sich wenig verbessert - gerade in Bezug auf Identifizierung, Unterbringung und Versorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderung. Die neue EU-Aufnahmerichtlinie, die bis Mitte 2026 in Deutschland umgesetzt werden muss, bietet eine Chance, viele dieser Missstände zu beheben. Diese sollte nicht vertan werden. Auch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das nächstes Jahr in Kraft tritt, sollte nochmal in Bezug auf Anwendbarkeit auf die Lebensbereiche von geflüchteten Menschen überprüft und angepasst werden.
 

Bislang haben geflüchtete Menschen mit Behinderung kaum am öffentlichen Diskurs teil. Woran liegt das und welche Schritte müssten unternommen werden, um Zugangsbarrieren für die Selbstvertretung geflüchteter Menschen mit Behinderung zur Teilhabe an öffentlichen Gremien abzubauen?


Dramatisch und vor dem Grundgesetz und der UN-BRK nicht hinnehmbar ist die Mitte 2024 eingeführte Änderung im Staatsangehörigkeitsgesetz, nach der Menschen mit Behinderung keinen Einbürgerungsanspruch mehr haben, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nicht voll erwerbsfähig sind. Diese Änderung sendet das verheerende Signal, dass demokratische Teilhabe, und somit Teilhabe am öffentlichen Leben, an wirtschaftliche Produktivität geknüpft ist. Das schließt viele Menschen mit Behinderung von Mitbestimmung aus.

Die Förderung von Selbstvertretung ist eine wichtige staatliche Verpflichtung nach der UN-BRK. Grundlage hierfür ist, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung adäquat über ihre Rechte, wie Teilhabe und Mitbestimmung, und über barrierefreie Angebote informiert werden. Auch sollte selbstverständlich mitgedacht werden, dass Orte politischen Austauschs barrierefrei und bedarfsgerecht sein müssen.

Die spezifische Lebenssituation von geflüchteten Menschen mit Behinderung erschwert ebenfalls Teilhabe. So verschärft die fehlende Berücksichtigung von Bedarfen bei der bundesweiten Verteilung bereits kurz nach Ankunft in Deutschland mitunter ihre Ausgrenzung. Gehörlose Menschen werden etwa in eine Umgebung verteilt, wo niemand Gebärdensprache versteht. Auch die Unterbringung in isoliert gelegenen Einrichtungen sowie die Bezahlkarte sind Beispiele von Inklusionshindernissen.
 

Im öffentlichen Diskurs um Zuwanderung stehen häufig die berufliche Qualifikation der Zuwandernden, sowie der volkswirtschaftliche Mehrwert von Migration generell im Zentrum. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Inklusion Geflüchteter mit Behinderung in den Arbeitsmarkt?


Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist ein zentrales Menschenrecht und wird auch durch die UN-BRK geschützt. Geflüchtete Menschen mit Behinderung sollten die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten gleichberechtigt einzubringen und finanziell unabhängig zu sein. Dies ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch essenziell für eine Gesellschaft, in der alle Menschen als gleichwertig anerkannt werden.

Erfahrungen der Selbstvertretungsgruppe „NOW! Nicht Ohne Das Wir“ zeigen erhebliche Hürden für Geflüchtete mit Behinderung beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Die erste Barriere ist zumeist der Spracherwerb. Wenige bedarfsgerechte Angebote bei Integrationskursen und fehlende Inklusionspraktiken erschweren für geflüchtete Menschen mit Behinderung das Erlernen der deutschen Sprache. Die Bereitstellung von Online-Kursen in barrierearmen, bedarfsgerechten Formaten, wie auch barrierefreie Apps können hier Abhilfe schaffen.

Viele Arbeitsplätze sind nicht barrierefrei gestaltet. Bei Bewerbungen werden geflüchtete Bewerber*innen mit Behinderung oft auf ihre Behinderung reduziert und sind zusätzlichen Vorurteilen aufgrund ihres Fluchthintergrunds ausgesetzt. Die Jobcenter unterstützen oft nicht hinreichend bei der Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen. Da viele geflüchtete Menschen mit Behinderung keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt finden, arbeiten sie in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, die weder Mindestlohn noch eine für die Niederlassungserlaubnis oder Einbürgerung relevante Lebensunterhaltssicherung bieten. Ohne Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt ihnen der gesellschaftliche Anschluss oft verwehrt.

 

Das Interview führte Annemarie Schmidt, Praktikantin der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Zur Person

Sophia Eckert ist Juristin und Expertin für Menschenrechte und Flüchtlingspolitik mit Fokus auf vulnerable Gruppen. Crossroads ist der Arbeitsbereich von Handicap International e. V. an der Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung. Ziel von Crossroads ist die Berücksichtigung der Bedarfe von geflüchteten Menschen mit Behinderung und die Verbesserung deren Lebenssituation in Deutschland. Dafür setzt Crossroads sich auf Grundlage der UN-Behindertenkonvention politisch und gesellschaftlich ein, stärkt die Selbstvertretung geflüchteter Menschen mit Behinderung und informiert sie über ihre Rechte und das Unterstützungssystem in Deutschland. Ebenso berät und schult Crossroads Fachkräfte aus der Flüchtlings- und der Behindertenhilfe und fördert deren Vernetzung.
 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


Dr. Johannes Crückeberg

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Marcus Hammes

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