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Welchen Einfluss haben Bilder auf die öffentliche Wahrnehmung von Flucht, Migration und Integration? Bestandsaufnahme und Plädoyer.
Laut dem UNHCR waren noch nie so viele Menschen in der Welt auf der Flucht wie heutzutage. Momentan sind es 68,5 Millionen. Davon sind ca. 40 Millionen Binnenvertriebene, 25,4 Millionen nach dem UNHCR anerkannte Geflüchtete, und 3,1 Millionen Asylsuchende. Besondere Aufmerksamkeit verdient, dass sich 85% der vertriebenen Menschen in Entwicklungsländern aufhalten und nur ein marginaler Prozentsatz nach Europa, bzw. nach Deutschland gekommen ist. Dennoch, die Auseinandersetzung mit Flucht, Migration und Integration tangiert hierzulande Politik und Gesellschaft gleichermaßen stark. So macht es den Eindruck als hätte jede_r, in welchem Lager er/sie auch sein mag, eine Meinung dazu entwickelt. Eine große Rolle in dieser Meinungsbildung spielt die Darstellung der Themen in Bildern. Susan Sontag sagte hierzu in ihrem Essay Regarding the Pain of Others (2003):
„In contrast to a written account – which, depending on its complexity of thought, reference, and vocabulary, is pitched at a larger or smaller readership – a photograph has only one language and is destined potentially for all" [1]
Wie bebildert man aber die Themen Flucht, Migration und Integration? Und hat diese Bebilderung wirklich nur eine Sprache? Obwohl das Verständnis dieser Themen nicht nur abstrakt und subjektiv ist, scheint ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland in den letzten Jahren sofort ein klischiertes Bild vor Augen zu haben. So denken viele beim Thema Flucht an Bilder von Schlauchboten auf dem Mittelmeer oder Strände voller orangener Rettungswesten. Bei Migration an lange Schlangen verzweifelter Geflüchteter an den Grenzen europäischer Staaten, Camps in Slowenien oder der Türkei. Bei Integration denken viele sowohl an Bilder von Menschen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland oder Kinder verschiedener Herkunft beim Spielen als auch an Schlangen vor dem LaGeSo in Berlin. Aber auch an Fremdenhass, brennende Unterkünfte, und an Ausgrenzung.
Wie solch plakative Bilder die Wahrnehmung solcher Themen beeinflussen und lenken, illustriert das „Portal Ideengeschichte“ der Philipps-Universität Marburg innerhalb ihres Schwerpunktes „Bild+Flucht“. So zeigt beispielsweise das Studienmaterial „DIE SPRACHE DER BILDER – ÜBER BILDER SPRECHEN“ bekannte Bilder, welche die sogenannte „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015/16 abbilden.
Bilder der Willkommenskultur werden dabei Bildern des Hasses gegenübergestellt. Anhand dessen wird die Solidarität aber ebenfalls die Polarisierung dieser „Krise“ schonungslos verdeutlicht. Sie werden in „Bilderkreise“, sprich Themen, geordnet. So zeigt zum Beispiel der Bilderkreis „Mensch und Menge“ auf der einen Seite, wie eine große Anzahl Geflüchteter an einem deutschen Bahnhof von jubelnden Deutschen empfangen wird. Die Geflüchteten lächeln, schauen direkt in die Kameras und wirken zugänglich. Auf der anderen Seite ein Bild ausschließlich junger, männlicher Geflüchteter, die aus Zügen auf einen Bahnsteig klettern, keiner der einzelnen Personen ist in Fokus gesetzt, sie wirken anonym und bedrohlich.
Andere Bilderkreise heißen „Junge Männer, Junge Frauen, Ankunft, Kinder...“ – sie alle zeigen, wie verschieden Flucht, Migration und Integration bildlich dargestellt werden und welche unterschiedliche Wirkung sie damit beim Betrachtenden erzeugen können. Doch ein Bild, das des Jungen Alan Kurdi, avancierte in dieser Zeit zu einem nahezu ikonischen Bild, welches auf fast alle Betrachter_innen gleichermaßen eine machtvolle Wirkung hatte.
Mit dem Bild Alan Kurdis änderte sich im September 2015 schlagartig die öffentliche Wahrnehmung der täglichen Tragödie, die sich im Mittelmeer abspielte. Der kleine Junge, der in der Flut am Strand in Bodrum ertrank, schien für einen Moment die Fronten zusammenzubringen. Er erregte nicht nur öffentliche Empörung, sondern veränderte die Wahrnehmung von Geflüchteten. Die mediale Karriere dieses Bildes beweist die enorme Macht von Bildern, narrative Strukturen zu erschaffen. Doch ist die Faszination und ständige Reproduktion solch dramatischer Bilder auch problematisch. Ein Sprecher von Sea Watch, kommentiert in der Umfrage „LebensBilder – Hilfsorganisationen über Flucht und Migration im Bild“ der Uni Marburg kritisch:
„Die breite Veröffentlichung des Fotos wirft [...] die Frage auf, welch drastische Bilder es zunehmend braucht, um einen entsprechend starken Effekt bei den Rezipienten hervorzurufen. Gleichzeitig markiert das Bild eine Zäsur, die auch politisch spürbar wurde. Kein anderes Bild hat die Ägäis und die eigentliche Gefahr der Fluchtroute so sehr in den gesellschaftlichen Mittelpunkt gerückt, auf den auch politisch reagiert werden musste“ [2]
Die Verbreitung des Bildes von Alan Kurdi hat viele Menschen dazu bewegt, sich für Geflüchtete einzusetzen. Sei dies mit Spenden an Hilfsorganisationen für die Arbeit in Krisengebieten oder mit ehrenamtlicher Arbeit daheim für Ankommende. Susan Sontag schreibt in ihren Essays „On Photography“, dass die öffentliche Aufmerksamkeit von der Aufmerksamkeit der Medien gesteuert werde. Das habe man schon im Bosnienkrieg gesehen. Die gleichen Bilder wurden tagtäglich von Millionen Menschen im Fernsehen gesehen. So wird unweigerlich bestimmt, welchen Katastrophen und Krisen wir Aufmerksamkeit schenken, welche Bilder wir damit assoziieren und welche Bewertungen wir daraus ableiten. Sie warnt davor – genau wie der Sprecher von Sea Watch – dass diese Bilder mit vielfacher und wiederholter Betrachtung an Wert verlieren. Früher oder später setzt bei ihrem Anblick Ermüdung ein. Ist dies mittlerweile mit dem Bild von Alan Kurdi passiert?
Bei einem Überfluss an ähnlichen Bildern wird die/der Konsument_in dieser Bilder übersättigt und unempfindlich. Um dies zu überwinden, so fordert Sontag, brauche es eine aktive und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Schon Baudelaire schrieb in den 1860er Jahren in sein Tagebuch, dass die Zeitungen voller Krieg und Gräuel seien. Es wäre eine Normalität, diese mit der allmorgendlichen Mahlzeit zu verspeisen. So ist es bis heute: Wir haben uns an die Bilder von Schrecken und Verzweiflung gewöhnt und unsere Fähigkeit auf sie empathisch zu reagieren, scheint damit sukzessive verlorenzugehen.
Zum Zwecke der Abschreckung vor Zuwanderung werden von Medien Bilder genutzt, welche bedrohlich und überwältigend wirken: Bilder von anonymen Massen, deren Gesichter nicht deutlich gezeigt werden, überfüllte Schlauchboote auf dem Mittelmeer. Oft werden nur junge Männer dargestellt nicht aber Frauen und Kinder.
Organisationen können mit der Wahl ihres Bildmaterials dieser Instrumentalisierung von Bildern gezielt entgegenwirken. So ziehen es Caritas und UNHCR bzw. die UNO-Flüchtlingshilfe als deutscher Partner des UNHCR z. B. vor, Bilder auszuwählen, mit denen jede Person eine universell-menschliche Verbindung herstellen kann: Ein Vater mit Sohn im Arm, eine jesidische Frau auf der Flucht mit ihren drei Kindern oder ein Strand voller zurückgelassener Rettungswesten, die symbolisch für die Gefahr der Flucht und die Angst aber gleichermaßen für die Erleichterung der geretteten Ankommenden stehen. Der UNHCR und die UNO-Flüchtlingshilfe achten bei ihrer Bildauswahl besonders darauf, der „gesichtslosen Welle“ von Ankommenden ein individuelles Gesicht zu geben, also Massenbilder zu vermeiden und eine stark personifizierte Bildsprache zu benutzen, die auf einzelne Geschichten und Schicksale hinweist. Ein Sprecher vom UNHCR äußert sich zu dieser Herangehensweise folgendermaßen:
„Wir wollen Flüchtlinge als starke und widerstandsfähige Menschen zeigen, die unter schwierigsten Umständen leben, sich um ihre Familie kümmern und die Hoffnung nicht aufgegeben haben“ [3]
Hilfsorganisationen, die sich um Geflüchtete kümmern, sind oft mit einem Dilemma der Repräsentation konfrontiert. So sind deren Förderkampagnen abhängig vom Bildmaterial bedürftiger Geflüchteter bzw. Menschen auf der Flucht, um die Aufmerksamkeit der Spender_innen auf sich zu ziehen. Darüber hinaus führte das Refugee Studies Centre in Oxford Interviews mit Hilfsorganisationen verschiedener Größen durch und stellte fest, dass sie bei der Her- und Bereitstellung von Bildmaterial eine Zusammenarbeit mit den Versorgungsempfänger_innen anstreben. So kann das Bild ebenso als ein Mittel des Austauschs fungieren. Die Wahl bestimmter Bilder trägt zudem dazu bei, wie die Organisation öffentlich wahrgenommen wird.
Die öffentliche Wahrnehmung von Hilfsorganisationen bildet sich aber nicht nur über deren Darstellung von Geflüchteten. Ähnlich wie Zeitungen abhängig von ihren Leser_innen sind, so sind es Organisationen von ihren Spender_innen.
Lilie Chouliaraki, Professorin für Medien und Kommunikationswissenschaften an der LSE in London, übt mit ihrem Buch „The Ironic Spectator: Solidarity in the Age of Post-Humanitarianism“ (2013)scharfe Kritik an der derzeitigen humanitären Hilfe. Sie beschreibt, wie sich die humanitäre Hilfe in den letzten 40 Jahren grundlegend verändert hat. So hat eine Verschiebung von einer Ethik des Mitleids (ethics of pity) hin zu einer Ethik der Ironie (ethics of irony) stattgefunden. Das Spektakel von Darstellungen des Leids in Medien und durch Organisationen habe den Westen zu einem öffentlichen Akteur und gleichzeitig zum ironischen Zuschauenden der verwundbaren „Anderen“ gemacht. Humanitäre Hilfe und Engagement für Geflüchtete und Leidende sei heute von selbstorientierter Motivation getrieben: Was ich für andere tue, muss sich in erster Linie für mich selbst gut anfühlen.
Chouliaraki beschreibt aber auch einen Wandel bei der Darstellung von Geflüchteten durch Organisationen. Sie unterscheidet dabei zwischen negativen und positiven Appellen. Bei negativen Appellen wird das Leiden schonungslos dargestellt, wobei die fotografierten Menschen als Opfer gezeichnet werden und der Betrachtende dem Leiden voll ausgesetzt wird. Die positiven Appelle lehnen die Darstellung des fotografierten Menschen als Opfer ab und fokussieren sich stattdessen auf dessen Handlungsfähigkeit und Würde. Somit fühlt sich der Betrachtende weniger konfrontiert und ist eher bereit, auf das Bild und dessen Thematik einzugehen.
Auch Organisationen wie UNHCR oder Caritas benutzen diese Strategien. Nach Chouliaraki braucht es allerdings einen Mittelweg zwischen „negativer“ Leiddarstellung und „positiver“ Würdedarstellung, um ein angemessenes Bild der humanitären Lage zu erfahren.
Doch wie können die Themen, Flucht, Migration und Integration adäquat dargestellt werden? Und können sich so stereotype Darstellungen erschöpfen? Diese Fragen stellt auch eine aktuelle Studie von Bertelsmann aus dem Jahre 2017, welche die Bildberichterstattung deutschsprachiger Printmedien analysiert. Innerhalb der Studie wurden ähnliche Phänomene in den Medien beobachtet, die Chouliaraki ihrerseits bei Organisationen feststellte. So ginge es bei der Betrachtung von Bildern von Geflüchteten primär um die Befindlichkeiten der Aufnahmegesellschaft und weniger um die eigentlichen Hintergründe und Umstände des Abgebildeten.
Bilder können nur analysiert werden, wenn sie geschossen wurden. Nach Susan Sontag ist die Intention der Fotografin bzw. des Fotografen irrelevant für den größeren Prozess. [4] Die Bedeutung und Interpretation, die Bildern nach der Herstellung zuteil wird, ist nicht nur von ihrem Inhalt, sondern auch von ihrer Darstellung und ihrem Gebrauch abhängig. Verantwortung für diese Darstellung können nur Menschen übernehmen, welche die Darstellung und den Gebrauch der Bilder mitbestimmen: Redakteur_innen und Referent_innen, Journalist_innen, Autor_innen, Politiker_innen. Diese sollten sich bei der Auswahl und Herstellung fragen: Werden genügend Informationen zum Bild geliefert? Verstärken die Bilder bestehende Stereotypen?
Es ist an der Zeit, die Bildersprache zu den Themen Flucht, Migration und Integration weiterzubefördern und die Betrachter_innen der Bilder herauszufordern: So könnten neben Berichterstattungen zu aktuellen Fluchtbewegungen und den verschiedenen Gründen für Migration, Info-Kästen zu früheren Fluchtbewegungen gesetzt oder Bilder verwendet werden, die sich im „unbequemen Zwischenraum“ zwischen positiven und negativen Appellen bewegen. Und was sagen Geflüchtete selbst, über ihre Darstellung in den Medien und von Organisationen? Ihre Stimme würde ohne Zweifel neue Sichtweisen auf die Thematik aufzeigen.
In diesem Sinne: Mut zu neuen Kooperationen, Mut zu neuen Bildern!
[1] Sontag 2003, S. 17, Deutsch: „Im Unterschied zu geschriebenen Berichten – welche, abhängig von der Komplexität der Gedanken, Referenzen und dem Vokabular, an eine größere oder kleinere Leserschaft gerichtet ist – hat ein Bild nur eine Sprache und ist potentiell für alle vorgesehen“ (eigene Übersetzung der Autorin).
[2] Gröger/Kiebler/Probst 2018, S. 44.
[3] ebd. 2018, S. 53.
[4] Vgl. Sontag 2003, S. 109.
Autorin:
Hannah Newbery ist eine Englisch-Deutsche Autorin und Fotografin. Sie arbeitete in verschiedenen Redaktionen in New York und Berlin, u. a. bei der New York Times und dem ZEITmagazin. Zurzeit lebt sie in Berlin als freie Autorin und Übersetzerin. Sie engagiert sich u. a. in den Vereinen Polis 180 und dem Friedenskreis Syrien ehrenamtlich und studiert Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Bibliographie:
Chouliaraki, Lilie (2013): The Ironic Spectator: Solidarity in the Age of Post-Humanitarianism. Cambridge: Polity Press.
Green, Mackenzie; Marden, Andonis; Seeley, Maira; Wells Kristiina (2015): Dilemmas of representation: organisations’ approaches to portraying refugees and asylum seekers, Refugee Studies Centre (Hrsg.), Working Paper Series, Volume 112.
Gröger, Kerstin; Kiebler, Simone; Probst, Jörg (2018): LebensBilder, Hilfsorganisationen über Flucht und Migration im Bild, in: Neue Ideengeschichtliche Politikforschung – nip, Studienmaterial herausgegeben von der Philipps-Universität Marburg.
Lünenborg, Margreth; Maier, Tanja (2017): Wir und die Anderen? Eine Analyse der Bildberichterstattung deutschsprachiger Printmedien zu den Themen Flucht, Migration und Integration, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
Philipps-Universität Marburg, Portal Ideengeschichte „Ideenbotschafter / Flucht und Bild: Die Sprache der Bilder – Über Bilder Sprechen. Bilderkreise der „Flüchtlingskrise“ 2015/16.
Sontag, Susan (2003): Regarding the Pain of Others. London: Penguin.
UNHCR: Who We Are, Figures at a Glance.
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