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Das schnelle Wachstum im Bereich Ride Hailing und anderer app-basierter Dienstleistungen hat die Diskussionen über Arbeitnehmer_innenrechte weltweit verändert. Eine neue FES-Studie untersucht Rechtslücken für digitale Beschäftigungsplattformen in Vietnam.
Die COVID-19-Pandemie beschleunigt den Anstieg der Zahl digitaler Arbeitsplattformen - allein im letzten Jahrzehnt hat sie sich weltweit verfünffacht.
Vor diesem Hintergrund führte die FES Vietnam gemeinsam mit ihren Forschungspartnern unlängst eine Studie zur Bewertung der Situation von Gig-Arbeiterinnen und –arbeitern in Vietnam mit besonderem Augenmerk auf Ride Hailing-Fahrer_innen durch. Heute sprechen wir mit Dr. Do Hai Ha, dem Leiter der Forschungsgruppe, über die Vor- und Nachteile der Plattformarbeit und die Notwendigkeit eines entsprechenden rechtlichen Rahmens.
Ich bin der Ansicht, dass die Vorteile der Plattformarbeit für Arbeiterinnen und Arbeiter mit Vorsicht zu bewerten sind. In Vietnam sind die wahrgenommenen Vorteile der Plattformarbeit im Allgemeinen eher spekulativ als evidenzbasiert. In einer aktuellen Studie mit Ride Hailing-Motorradfahrer_innen in Hồ Chí Minh Stadt (HCMC) haben meine Kolleginnen und Kollegen und ich herausgefunden, dass die Unabhängigkeit und Flexibilität der Fahrerinnen und Fahrer tatsächlich erheblich durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von der Plattformarbeit und den algorithmischen und traditionellen Kontrollen durch die Plattformunternehmen eingeschränkt ist. Weiterhin ist das Einkommen dieser Motorradfahrer_innen nicht so hoch wie im vorherrschenden Diskurs behauptet wird. Unsere Erhebung zeigt, dass das Durchschnittseinkommen von Vollzeitfahrerinnen und –fahrern (mit mindestens 48 Arbeitsstunden pro Woche) in Hồ Chí Minh Stadt 9.290.344 Vietnamesische Dong (VND) monatlich beträgt (ca. 409 USD/Monat). Dies ist in Wirklichkeit ein geringes Einkommen, denn nach den Berechnungen der Global Living Wage Coalition belief sich das monatliche Existenzminimum in HCMC im Jahr 2020 auf 7.446.294 VND (328 USD), ohne Überstundenvergütung und Produktivitätsprämien. Derweil mussten die für die Studie befragten Arbeitskräfte durchschnittlich 11 Stunden pro Tag und 28 Tage pro Monat arbeiten, um das oben genannte Einkommen zu erreichen – das entspricht 100 Überstunden jeden Monat zusätzlich zur regulären 48-Stunden-Woche. Dies jedoch übersteigt deutlich den Grenzwert von 40 Überstunden pro Woche, der im vietnamesischen Arbeitsgesetzbuch festgeschrieben ist – ganz zu schweigen von der jährlichen Überstundengrenze von 300. Außerdem sind Motorradfahrerinnen und –fahrer im Ride Hailing-Geschäft nicht zu bezahltem Urlaub und Sozialleistungen in jeglicher Form berechtigt.
Ein weiteres Ergebnis unserer Studie ist, dass sich diese Motorradfahrer_innen bei app-basierten Fahrdiensten in einer höchst instabilen und unsicheren Arbeitssituation befinden. Ihr Einkommen ist nicht nur gering, sondern auch höchst unsicher aufgrund häufiger Änderungen der Dienstleistungsgebühren sowie Abzügen und Bonus-Regelungen in der Plattformwirtschaft sowie sich verändernden Marktbedingungen, darunter auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Normalerweise haben die Fahrer_innen im Ride Hailing-Geschäft viel zu lange Arbeitszeiten und sind hohen Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt, erhalten aber nur wenig Unterstützung von ihren Unternehmen. Weitere Probleme sind geringe Beschäftigungssicherheit, mangelhafte soziale Absicherung und häufige schlechte Behandlung durch die Geschäftsleitung. Und schließlich haben Fahrerinnen und Fahrer app-basierter Unternehmen kaum Mitspracherecht bei der Festlegung ihrer Vergütung und Arbeitsbedingungen. Der Grund hierfür sind fehlende Vertretungsorganisationen für die Arbeiterinnen und Arbeiter und ein Mangel an echten Dialog- und Verhandlungsmechanismen am Arbeitsplatz.
Man sollte erwähnen, dass es in den letzten Jahren in Vietnam zu einer Debatte darüber gekommen ist, ob (Auto- und Motorrad-) Fahrerinnen und -fahrer, die Ride Hailing-Dienste anbieten, als ‚Angestellte‘ gelten und damit unter das Arbeits- und Sozialversicherungsgesetz fallen sollten. Auch wenn diese Frage zunächst von Rechts- und Arbeitsexperten gestellt wurde, haben auch die Arbeiterinnen und Arbeiter im Ride Hailing-Geschäft selbst begonnen, explizit und implizit Rechte einzufordern, die Angestellten zustehen. Nichtsdestotrotz ist der rechtliche Status dieser Arbeitskräfte unter vietnamesischem Recht weiterhin nicht eindeutig.
Der unklare rechtliche Status von Beschäftigten in der Ride Hailing-Branche hängt eng mit ihrer instabilen und unsicheren Lage zusammen, die sie faktisch von der Schutzwirkung des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts ausschließt. Dies hat es Plattformunternehmen ermöglicht, Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu bestimmen, Fahrerinnen und Fahrer zu disziplinieren, ihnen zu kündigen und ihnen aber gleichzeitig auch durch ausgeklügelte Verträge nach dem Motto „Friss oder stirb“ sämtliche wirtschaftlichen und beruflichen Risiken aufzuladen. Den Fahrerinnen und Fahrern werden weiterhin grundlegende Arbeitsrechte wie das Recht auf eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeiten, auf bezahlten Urlaub und auf gesunde Arbeitsbedingungen verwehrt. Ihr Recht auf soziale Absicherung ist ebenfalls faktisch eingeschränkt, besonders in Bezug auf Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, wodurch ihre Situation noch prekärer und unsicherer wird. Unsere Befragungen von Fahrerinnen und Fahrern app-basierter Unternehmen in HCMC deuten auch darauf hin, dass der unklare rechtliche Status viele von ihnen davon abhält, etwas gegen die wahrgenommene Ungerechtigkeit zu tun. Gleichzeitig hat diese Situation dazu geführt, dass Arbeitsbehörden und Gewerkschaften sich, anders als bei Streiks von Fabrikarbeitern, sehr zögerlich gezeigt haben, wenn es darum ging, Arbeiterinnen und Arbeiter der Ride Hailing-Branche zu unterstützen und sich an deren kollektiven Protesten zu beteiligen.
Die vietnamesischen Regierungsbehörden sollten bestehende rechtliche Kriterien zur Unterscheidung zwischen Angestelltenverhältnis und Selbständigkeit überdenken. Hierzu können sie die Empfehlung Nr. 198 der ILO zu Rate ziehen, besonders im Hinblick auf zwei Punkte: Erstens, um zu ermitteln, ob ein Beschäftigungsverhältnis besteht, sollte sich die Entscheidung auf Angaben zur „Arbeitsleistung und Vergütung der Arbeitskräfte“ stützen anstatt auf eine rein vertragliche Beschreibung der Arbeitsbeziehung. Der zweite Punkt ist die Verwendung einer offenen Liste möglicher Indikatoren, anstatt sich hauptsächlich auf die Kriterien „Management, Führung und Überwachung“ zu konzentrieren.
Eine weitere mögliche Lösung ist die Erlassung gezielter Regelungen zum Schutz von Arbeiterinnen und Arbeitern im Ride Hailing-Geschäft oder, breiter gefasst, in der Plattform-Wirtschaft im Allgemeinen. Ob solche Beschäftigte alle oder nur manche der Schutzrechte erhalten sollten, die traditionellen Angestellten gewährt werden, sollte man sorgfältig abwägen. In jedem Fall sollten solche Regelungen wenigstens Mindeststandards zu Vergütung, Arbeitszeit, bezahltem Urlaub, Arbeitsschutz und grundlegenden Sozialversicherungsrechten enthalten. Und ganz besonders sollten Plattformarbeiterinnen und –arbeiter ein Recht auf Organisation, Tarifverhandlungen und Streik genießen.
Dr. Do Hai Ha ist Experte für vietnamesisches Arbeitsrecht. Er absolvierte sein Studium in Vietnam und Australien und promovierte an der Melbourne Law School. Er verfügt über mehrjährige berufliche Erfahrung in Vietnam in unterschiedlichen Funktionen, darunter als Rechtswissenschaftler, Anwalt und Entwicklungsexperte. Er war Stipendiat an der University of Oxford und der University of Melbourne.
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