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Was ein kommunales Wahlrecht für Bürger:innen aus Drittstaaten bewirken kann, dazu sprechen wir mit Tayfun Keltek und Engin Sakal vom Landesintegrationsrat NRW.
Im Gespräch betonen der Vorsitzende des Landesintegrationsrates NRW, Tayfun Keltek, und Geschäftsführer Engin Sakal die mangelnde politische Ansprache von Menschen mit internationaler Familiengeschichte. Ein kommunales Wahlrecht für Bürger:innen aus Drittstaaten käme dabei nicht nur der kommunalen Demokratie zugute, sondern stärke auch das Zugehörigkeitsgefühl, das für eine gelingendes Zusammenleben zentral ist.
Die Wahlbeteiligung in der Gruppe der Deutschen mit familiärer Migrationsgeschichte liegt regelmäßig unter der der Mehrheitsbevölkerung. Welche Ursachen für diese Beteiligungslücke sehen Sie?
Die Ursachen sind sehr vielfältig: Die Menschen fühlen sich häufig nicht ausreichend angesprochen und repräsentiert. Ihre Wünsche und Belange kommen selten in Parteiprogrammen vor. Zudem werden sie nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft betrachtet, sie gehören in medialen Diskursen nicht zum gesellschaftlichen „Wir“. Vielmehr tauchen sie als Verursacher gesellschaftlicher Problemlagen auf und sehen sich mit fortdauernden Integrationsforderungen konfrontiert. Dabei werden ihre Solidarität und ihre Zugehörigkeit häufig in Frage gestellt. Im Kontext von Migration ist die Berichterstattung fast durchweg negativ. Die Reaktionen der demokratischen Parteien auf rechtspopulistische Äußerungen fallen in der Regel sehr verhalten aus. Zum Teil werden entsprechende Inhalte sogar übernommen. Ihrem Aufklärungsauftrag kommen sie nicht nach – zum Nachteil einer großen Personengruppe. Menschen mit internationaler Familiengeschichte betrachten dieses Vorgehen mit großer Sorge. Es fehlt an öffentlichen Klarstellungen, wie wertvoll und gewinnbringend Migration für die deutsche Gesellschaft ist und was Menschen mit internationaler Familiengeschichte tagtäglich leisten. Sie machen rund ein Viertel der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen aus. Es scheint dennoch noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein, dass Deutschland nicht auf Einwanderung verzichten kann, nicht zuletzt aufgrund des demographischen Wandels.
Hinzu kommt, dass die teils hybriden Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten mit wenig Sensibilität behandelt werden, indem beispielsweise pauschale Diffamierungen ihrer Herkunftsländer sehr häufig Teil populistisch geführter Wahlkämpfe sind. Es ist daher wenig überraschend, dass viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte den Eindruck haben, dass ihre Stimmen nicht gewollt sind und sie keine (positive) Rolle in der Gesellschaft spielen.
Im Juni dieses Jahres wurde das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland reformiert. Wird dies die politische Partizipation bei Menschen mit Migrationsgeschichte erhöhen?
Wir begrüßen die längst fällige Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts, eine bestehende Schieflage ist endlich abgeschafft worden. Es ist zu erwarten, dass sich die Identifikation von Personen mit Deutschland erhöhen wird, wenn sie selbst zu Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern werden. Auch soziologische Untersuchungen zeigen, dass das politische Interesse und Zugehörigkeitsgefühl mit Erlangung der Staatsbürgerschaft in der Regel zunehmen. Jedoch passiert das nicht automatisch und hängt stark von den individuellen Erfahrungen und öffentlich-medialen Diskursen ab. Insbesondere nationalistische und rassistische Narrative können das Zugehörigkeitsgefühl und damit die politische Partizipation gefährden.
Immer wieder wird im Zusammenhang mit migrantischer politischer Partizipation auch das Thema Ausländerwahlrecht ins Spiel gebracht. Wie steht der Integrationsrat zu diesem Ansatz?
Die Staatsbürgerschaft fungiert als entscheidender Faktor, um ausgewählten Personengruppen Privilegien zu gestatten oder sie von ihnen auszuschließen. Oft entscheidet sie darüber, ob eine gesellschaftliche und politische Beteiligung möglich ist. In Zeiten der Globalisierung und Transnationalisierung stößt das alleinige Staatsbürgerschaftswahlrecht an seine Grenzen. Derzeit können in Deutschland lediglich EU-Bürgerinnen und EU-Bürger an Kommunalwahlen teilnehmen, wenn sie in der jeweiligen Kommune ihren Wohnsitz haben. Mehrere europäische Länder verfügen jedoch schon lange über ein Kommunalwahlrecht für Personen aus Nicht-EU-Staaten, so etwa Dänemark, Schweden, Großbritannien, Irland, Niederlande. Entscheidend für das Kommunalwahlrecht in Irland ist beispielsweise der Wohnsitz der Personen, nicht ihre Staatsbürgerschaft.
Auch mehrere deutsche Parteien setzen sich für eine Ausweitung des kommunalen Wahlrechts für Personen ein, die schon seit mehreren Jahren in Deutschland leben, so etwa die SPD, die FDP und die Grünen. Der Landesintegrationsrat würde eine solche Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten sehr begrüßen. Das hätte außerordentliche Vorteile für die soziale Integration, wenn Menschen sich an politischen Prozessen beteiligen, Verantwortung für ihre Kommune übernehmen und sich mit dieser identifizieren. Die lokale Demokratie würde enorm davon profitieren.
Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um politische Partizipation zu stärken?
Um die politische Partizipation von Menschen mit internationaler Familiengeschichte zu fördern, ist es wichtig, sie gezielt in öffentlichkeitswirksamen Kampagnen anzusprechen und die Bedeutsamkeit ihrer Stimmen hervorzuheben. Insbesondere im Kampf gegen den Rechtspopulismus können sie natürliche Verbündete sein. Dennoch werden sie bislang in Wahlkämpfen kaum adressiert. Es wäre wichtig, ihr Interesse an politischer Partizipation zu stärken und aufzuzeigen, wie bedeutend ihre Teilhabe für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft ist. Wenn die demokratischen Parteien es geschafft hätten, diese Menschen zu mobilisieren, dann wäre der Erfolg der Rechtspopulisten heute in einigen Regionen weitaus geringer.
In der politischen Kommunikation gibt es immer wieder die Diskussion, inwiefern eine zielgruppenspezifische Ansprache erfolgen kann und sollte. Inwiefern sind Deutsche mit Migrationsgeschichte hier in besonderer Weise anzusprechen?
Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass Deutsche mit internationaler Familiengeschichte keine homogene Gruppe sind. Die jeweiligen Migrationsgeschichten, Erfahrungen und Selbstverortungen sind sehr heterogen. Diese Unterschiede kommen nicht nur aufgrund unterschiedlicher Herkunftsländer zustande, sondern hängen auch mit der jeweiligen Generation, dem Bildungsweg und dem sozialen Milieu zusammen. Eine zielgruppenspezifische Ansprache ist daher generell sinnvoll.
Themen wie beispielsweise Antidiskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, Chancen- und Bildungsgerechtigkeit sowie soziale Teilhabe tauchen in Parteiprogrammen viel zu wenig auf. Es fehlen politische Antworten auf zahlreiche Themen, die Menschen mit internationaler Familiengeschichte beschäftigen – von Seniorenunterbringung und Kinderbetreuung bis zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse.
Wir halten es für überaus wichtig und sinnvoll, dass parteipolitisch engagierte Personen mit internationaler Familiengeschichte in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil an Zugewanderten aufgestellt werden. Sie genießen das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler und kennen die besonderen Herausforderungen ihrer Lebenslagen.
Eine aktuelle Studie der FES zeigt, dass sich die politischen Einstellungen bei Menschen mit Migrationsgeschichte zum Teil über die Generationen hinweg verändern. Welche Erklärung haben sie dafür?
Ebenso wie bei Menschen ohne internationale Familiengeschichte gibt es auch bei Menschen mit internationaler Familiengeschichte große Unterschiede zwischen den Generationen. Bei denjenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind und hier sozialisiert wurden, sind gleiche oder ähnliche Dynamiken im Hinblick auf politische Einstellungen vorzufinden, wie bei allen anderen hier lebenden Personen einer ähnlichen Altersgruppe.
Im Gegensatz dazu setzen Angehörige der ersten Einwanderergenerationen in der Regel andere Prioritäten: sie sind eher auf die Orientierung in der neuen Gesellschaft fokussiert, wie etwa auf die Sicherung des Einkommens, Erlernen der Sprache, soziale Eingliederung etc. Ihre Kapazitäten für die Verfolgung von politischem Geschehen sind eher begrenzt. Die Folgegenerationen sehen sich als Teil der Gesellschaft und setzen sich entsprechend öfter für Themen ein, die ihren Lebensweg geprägt haben, wie beispielsweise Diskriminierung und Rassismus. Jedoch liegt die Hauptursache wohl in der allgemeinen politischen Polarisierung in Deutschland und Europa, in der Art und Weise wie gesellschaftliche Debatten in der heutigen Zeit geführt werden und wie die Parteien mit den Themen umgehen.
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Tayfun Keltek wurde 1947 in Koyulhisar (Türkei, Provinz Sivas) geboren. Er studierte an den Sporthochschulen in Ankara und Köln. Er lebt seit 1970 in Deutschland. Von 1973 bis 2013 arbeitete er als Diplomsportlehrer an einer Kölner Realschule. Er ist langjähriger Vorsitzender des Integrationsrates der Stadt Köln und gleichzeitig Vorsitzender des Landesintegrationsrates NRW. Für sein ehrenamtliches Engagement im Bereich der Integration erhielt er 2000 das Bundesverdienstkreuz und 2007 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Engin Sakal, Jahrgang 1964, ist in Duisburg aufgewachsen und studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paderborn. Er war von 1995 bis 2009 Vorsitzender des Integrationsrats Paderborn (zuvor Ausländerbeirat). Nach verschiedenen Tätigkeiten in der freien Wirtschaft wurde er 2012 Geschäftsführer des Landesintegrationsrats NRW.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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