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Die Entwicklungen seit 1990 rücken zunehmend in das Blickfeld der historischen Forschung. Für den geplanten Band 66 (2026) des Archivs für Sozialgeschichte laden wir Autorinnen und Autoren aus der Geschichtswissenschaft und den historisch arbeitenden Sozial- und Kulturwissenschaften ein, mit uns über die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nachzudenken, die sich von den 1990er-Jahren bis in unsere unmittelbare Gegenwart vollzogen haben. Es geht uns um die vielfältigen Umbrüche nach dem großen »Epochenumbruch« von 1989/90, eine Geschichte von Transformation und Ko-Transformation, die gegenwärtig intensiv debattiert wird. Anhand von vier analytischen Achsen möchten wir die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels in der jüngsten Zeitgeschichte in erweiterter Perspektive vermessen.
Hatten neoliberale Ordnungsvorstellungen schon vor der Zäsur von 1989/90 an Einfluss gewonnen, so bestimmten sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in besonderer Weise die politische Agenda im Transformationsprozess. Doch wer genau steuerte diesen Prozess? Wie wirkungsmächtig waren neoliberale Deutungsangebote für politische Parteien und Institutionen, aber auch für Gewerkschaften oder etwa die Internationale Arbeitsorganisation? In welcher Weise prägten sie die Debatten über den Charakter des Kapitalismus in Ost und West? Vor allem aber: Welche Auswirkungen hatte die neoliberale Transformation unternehmerischer Politik und wirtschaftspolitischer Steuerung auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit – sei es im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Reformen seit Ende der 1990er-Jahre, im Zuge der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, durch unterschiedliche Politiken der Privatisierung, oder aber in den Auseinandersetzungen um Deindustrialisierung und Standortkonkurrenzen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd? Neben Veränderungen in der Tarif- und Lohnpolitik und Versuchen, auf die Herausforderung des entfesselten Finanzmarktkapitalismus mit neuen Streik- und Protestformen zu reagieren, interessieren uns hier auch die Veränderungen der industriellen Arbeitswelt und dabei insbesondere die Rolle von klassen- und geschlechtsbedingten sowie- ethnischen Ungleichheiten bei der Entstehung einer neuen »Dienstleistungsklasse«, aber auch bei der zunehmenden Digitalisierung der Arbeit.
Zeitgenössisch galten die Umbrüche von 1989/90 als Ausdruck einer umfassenden demokratischen Erfolgsgeschichte. Kaum eine Rede bemühte nicht Francis Fukuyamas Diktum vom »Ende der Geschichte«. Für eine Vermessung der Umbrüche seit den 1990er-Jahren scheint es dagegen nötig, dieses Erfolgsnarrativ zu hinterfragen und zu historisieren. Woraus speiste sich die Legitimität demokratischer Systeme vor dem Hintergrund des sozioökonomischen und soziokulturellen Wandels? Wo zeigten die Demokratien sich stabil, wie wandelten sich, nicht zuletzt durch die forcierte europäische Integration, die Formen der politischen Partizipation, Kommunikation, Repräsentation und Problembearbeitung – wo und von wem wurde die parlamentarische Demokratie insgesamt als krisenhaft wahrgenommen? Auch hier gilt, dass der institutionelle Wandel der politischen Systeme auf längerfristige Verschiebungen sozial-moralischer Milieus reagierte, die weit vor 1989 zurückreichen. Vor diesem Hintergrund soll der Band dazu anregen, insbesondere die Pluralisierung des Parteienwesens in Europa seit 1990 in den Blick zu nehmen: die Geschichte der Etablierung neuer Parteien ebenso wie das Verschwinden alter Parteien (etwa der kommunistischen Parteien in Ost- und Mitteleuropa). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch Debatten über »Parteienverdrossenheit«, das Verhältnis zu den »neuen« sozialen Bewegungen und die Verbindung von Staats- und Parteienkritik, die aus unterschiedlichen Lagern kamen und aus denen sich etwa auch der gemischte Chor europaskeptischer Stimmen speiste – bis hin zum Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Nicht zuletzt ist nach der Pluralität demokratischer Pfade in Europa und nach dem Fort- und Nachwirken beziehungsweise einer Neubegründung ost-westlicher Spezifika zu fragen, ob auf institutioneller oder auf der Wahrnehmungsebene von Politik.
Auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik währte die Euphorie über das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 nicht lange. An die Stelle des bipolaren Bedrohungsszenarios des Kalten Kriegs traten neue internationale und sicherheitspolitische Herausforderungen, die erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen hatten. Willkommen für dieses Themenfeld sind etwa Beiträge zur Geschichte der militärischen Interventionen westlicher Staaten in den 1990er- und 2000er-Jahren (in Somalia, Jugoslawien und andernorts), vor allem mit gesellschaftsgeschichtlichen Fokus – zum Beispiel zu den vor allem in Deutschland geführten Debatten über die NATO und die Zunahme von »Out-of-Area«-Einsätzen der Bundeswehr. Von besonderem Interesse sind auch die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, etwa mit Blick auf die weitreichenden Anti-Terror-Maßnahmen. In welchem Spannungsverhältnis stand die Bedrohung durch neue Formen des Terrorismus zur Einschränkung von Freiheitsrechten?
Nach »9/11« und den Kriegen in Afghanistan und im Irak verschoben sich allmählich die Grundlagen der internationalen Ordnung. So wurde etwa die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen offenkundig, in deren Sicherheitsrat das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder zwischenstaatliche Konflikte häufig eher verfestigte als zu ihrer Lösung beitrug. Das komplexe Problem, wie multilaterale Organisationen mehr Durchsetzungsstärke entwickeln können, bildet – neben ersten Koordinierungen der Europäischen Union auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik – ein weiteres Themenfeld des geplanten Bandes, das sozialhistorisch eingeordnet werden könnte. Die gesellschaftspolitischen Dimensionen ließen sich aber beispielsweise auch anhand der bis in die 1970er-Jahre zurückreichenden Partizipationsansprüche von Nichtregierungsorganisationen untersuchen. In welcher Form traten in einer politisch zunehmend weniger fest gefügten Welt nichtstaatliche Akteure auf den Plan? Wie vernetzten sich diese national und länderübergreifend, um etwa auf dem Feld der Migrationspolitik und zur Bekämpfung der Klimakrise vergleichsweise machtlose Gruppen der Weltbevölkerung (Flüchtlinge, Klimageschädigte etc.) zu stärken und ressourcenschonende Ökonomiekonzepte zu propagieren?
Ein zentrales Moment der sozialen Umbrüche seit 1990 ist der rasante Wandel der Medienwelt und der Kommunikationstechnologie. Seit den späten 1980er-Jahren entfaltete zunächst das Privatfernsehen mit seinen neuartigen Talk-, Casting- und Gameshows, sogenannten Realityformaten sowie eigenen Musik- und Pay-TV-Sendern enorme Popularität, verstärkte aber auch gesellschaftliche Parzellierungen. Doch schon in den 1990er-Jahren begann der weltweite Siegeszug der digitalen Revolution. Internet und Mobiltelefone weiteten dank immer schnellerer Datenverbindungen exponentiell die Zahl und den Zugang zu Kommunikationskanälen und Informationen ganz unterschiedlicher Art und Qualität. Beiträge, die diese Veränderungen kulturhistorisch analysieren, sind ebenso willkommen wie Vorschläge, die sich mit Fragen von Produktionsbedingungen, Teilhabe und Ungleichheiten in der neuen Medienwelt befassen.
Pluralisierung von Lebensstilen, Veränderungsdruck und neue soziale Ungleichheiten prägten auf verschiedene Weise das Alltagsleben. Innerhalb Europas wurden Beschränkungen nicht nur für Arbeitsmärkte, sondern auch für Reisende abgebaut. Mit der Liberalisierung der Luftfahrt und des Bahn- und Busverkehrs entstanden neue Reisegewohnheiten, die durch »Billigflieger« und Pauschalreisen, Vergleichsportale und Mitfahrbörsen ausgestaltet wurden. In den Auslagen der Supermärkte und vor allem in der Angebotspalette großer Onlinemarktplätze spiegelte sich die steigende Vielfalt der internationalen Warenproduktion ebenso wider wie die durchschlagende Dynamik der globalen Preis- und Standortkonkurrenz und eine wachsende lebensweltliche Kluft zwischen reich und arm. Wir sind außerdem dankbar für Beitragsideen, die neuere jugend- und popkulturelle Phänomene wie Hiphop, Techno, Gaming oder Cosplay mit ihren spezifischen Liveevents, Fanritualen und Dresscodes jenseits reiner Diskursanalysen sozial-, alltags- und medienhistorisch verorten.
Auf einer Tagung, die am 26./27. Juni 2025 von der Friedrich-Ebert-Stiftung voraussichtlich in Berlin ausgerichtet wird, möchten wir Beitragsideen, Themenangebote und gemeinsame Fragen des hier skizzierten Rahmenthemas des Archivs für Sozialgeschichte 66 (2026) diskutieren und weiterentwickeln. Wir laden alle Interessierten ein, uns bis zum 31. Januar 2025 Vorschläge an afs(at)fes.de einzureichen. Sie sollten 3.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten und können – ebenso wie die Vorträge und die späteren Texte – auf Deutsch oder Englisch verfasst werden. Die anschließend von der Redaktion für den Band ausgewählten Beiträge im Umfang von etwa 60.000 Zeichen sollten bis zum 31. Dezember 2025 fertiggestellt werden.
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