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Moderne Demokratien kennzeichnet eine grundlegende Spannung: Sie versprechen einerseits, durch größtmögliche politische und soziale Teilhabe die Herrschaft »des Volkes«, also die Machtausübung der Vielen zu realisieren, und gründen darauf ihre Legitimität. Andererseits kommen sie, selbst wenn sie partizipatorischen Demokratieverständnissen verpflichtet sind, nicht umhin, die Herrschaft der Vielen an Repräsentant:innen, die für eine Gruppe oder eine Partei stehen, zu delegieren: Macht haben die Vielen dann nur bei der Wahl ihrer Vertreter:innen und bei Abstimmungen oder Referenden über konkrete politische Sachfragen. Das Repräsentativsystem ist deshalb immer wieder für seine Partizipationsdefizite kritisiert, wenn nicht gar verdammt worden. Das derzeit in mehreren Staaten, auch auf sub- und supranationaler Ebene laufende Experiment der (beratenden) Bürgerräte ist eine Reaktion auf das aktuelle Verlangen nach ergänzenden Mitspracheformen in der repräsentativen Demokratie. Darüber hinaus stellen außerparlamentarische Akteure seit einiger Zeit die Frage, wer eigentlich repräsentiert wird, wie es um die »Repräsentanz« gewisser Gruppen bestellt ist. Diese Frage ist in der Geschichte der Demokratie wiederum nicht neu, wird aber in den letzten 20 Jahren mit wachsender Intensität – auch beispielsweise unter der Perspektiven eines Vertrauensverlusts – diskutiert.
Wir möchten diese Bestandsaufnahme auch vor dem Hintergrund des 75. Jubiläums von Grundgesetz und Bundesrepublik zum Anlass nehmen, einmal systematisch nach dem (Spannungs-)Verhältnis zwischen beziehungsweise der Komplementarität von Repräsentation und Partizipation zu fragen. Welche Rolle spielten etwa soziale oder politische Proteste, also nichtrepräsentative Praktiken der Partizipation, für die Schaffung moderner demokratischer Repräsentationsformen? Wie spezifisch sind Legitimationsprobleme politischer Repräsentation für demokratische Systeme und ihr Partizipationsversprechen, vergleicht man sie mit Diktaturen, die autoritäre, plebiszitäre Formen der politischen Beteiligung der Vielen entwickelten? Wie lässt sich die Qualität von Repräsentationsbeziehungen in demokratisch verfassten Republiken konkret beschreiben und etwa von jener in (konstitutionellen) Monarchien abgrenzen? Wie unterschieden sich demokratische Repräsentationsbeziehungen je nach Zeit, Gebiet, ideologischer Ausrichtung und institutioneller Rahmung und welche spezifischen oder universalen Partizipationsverständnisse und -probleme gingen damit einher? Welche sozialen Schichten partizipierten in besonderem Maße, wer wurde ausgeschlossen, welche Bedeutung kam Geschlechterrollen und ethnischer Zugehörigkeit für die Entwicklung der demokratischen Partizipationsformen zu? Wie genau wurde eigentlich partizipiert (symbolisch, beratend, entscheidend) und wie repräsentiert? Wie war und ist Partizipation konkret durch Repräsentation beschränkt und begrenzt; welche Wandlungsprozesse lassen sich in dieser Hinsicht ausmachen? Und schließlich: Welche Repräsentationen – im kultursoziologischen Sinne – von Partizipation und politischer Vertretung, von »Volk« oder Parteibasis, von Vertreter:innen und politischem Führungspersonal prägen die Geschichte der Moderne? Die Fragen zielen nicht zuletzt darauf, die Historizität der Begriffe, Konzepte und Praktiken in modernen demokratischen Gesellschaften zu beleuchten.
Auf der Tagung, die am 13./14. Juni 2024 in den Räumlichkeiten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn stattfinden wird, möchten wir Beitragsideen, Themenangebote und gemeinsame Fragen des hier skizzierten Rahmenthemas des Archivs für Sozialgeschichte 65 (2025) entwickeln. Teilnahme im Einzelfall nach Anmeldung möglich.
Begrüßung und Einführung in die Tagung
Philipp Kufferath, Bonn
Partizipation und Repräsentation – geschichtswissenschaftliche Zugänge und Fragen
Claudia Gatzka, Freiburg/Anja Kruke, Bonn
Panel 1: Monarchien | Moderation: Ute Planert, Köln
»Rheinländische Politiker«. Partizipation und Repräsentation zwischen Anspruch und Wirklichkeit im frühen 19. Jahrhundert Katharina Thielen, Saarbrücken/Bonn
Der »Kampf um die Geschworenengerichte« im Vormärz. Strategien bürgerlicher Partizipation und Repräsentation im Werk Carl Joseph Anton Mittermaiers (1787–1867) und seiner Zeitgenossen Oliver Mohr, Heidelberg
»Einer von uns«. Die repräsentative Wende der europäischen Monarchie Moritz Sorg, Freiburg
Panel 2: Nation und Föderalismus | Moderation: Dietmar Süß, Augsburg
Weibliche Kommunalpolitik im ländlichen Raum zwischen 1919 und 1969 Bianka Trötschel-Daniels, Erfurt
Der Kampf um die Republik vor Ort. Steuerzahler- und Arbeitslosenproteste im urbanen Frankreich in den 1930er-Jahren Sebastian Petznick, Freiburg
Zweckehe statt Liebesheirat: Föderalismus und parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Ariane Leendertz, München
Panel 3: Systemumbrüche | Moderation: Kirsten Heinsohn, Hamburg
Duty, Deliberation, Contest, Battle: Visions of Participation and Representation in Russian Provincial Newspapers during the Spring and Summer of 1917 Daniel Schrader, Regensburg
Democracy and Participation under the Postwar Consensus Jan de Graaf, Bochum
Democratic Minorities. Middle Class, Party Competition, and Diverging Political Cultures of the Post-Soviet City Anton Liavitski, Budapest
Panel 4: Repräsentationsansprüche | Moderation: Thomas Kroll, Jena
Die Nation repräsentieren, um das Wahlrecht zu erkämpfen? Probleme der Partizipation und Repräsentation am Beispiel der deutschösterreichischen Sozialdemokratie, 1897–1907 Sebastian Fahner, Freiburg
Geschlecht in der Krise – Arbeiterklasse und Mutterschaft im Spiegel der Hyperinflation 1923 Naima Tiné, Greifswald
Panel 5: Repräsentationsansprüche II | Moderation: Nikolai Wehrs, Bonn
Debating the Political Representation and Participation of Immigrants in the Netherlands, c. 1980s–2000s Fons Meijer, Nijmegen
Migrantischer Kampf um das Kommunalwahlrecht Zwischen Selbstorganisation, Gewerkschaften und Ausländerbeiräten bis Ende der 1980er-Jahre Caner Tekin, Bochum
Panel 6: Partizipationsspielräume | Moderation: Meik Woyke, Hamburg
Representative Democracy Legitimized with ›Participation‹. The German Federal Parliament in the North-West European Context since 1968 Pasi Ihalainen, Jyväskylä
Die Parlamentarier vor den partizipatorischen Forderungen der 68er-Bewegung. Ein westdeutsch-französischer Vergleich (1967–1972) Nicolas Batteux, Nancy
Television as a Parallel Parliament. Dutch Public Broadcasting between Political Classroom and Participatory Platform, 1950s–1980s Harm Kaal/Solange Ploeg, Nijmegen
Moderation: Anja Kruke, Bonn
Abschlussdiskussion
Die neueren Jahrgänge der Zeitschrift sind ein Jahr nach Erscheinen online frei verfügbar weiter
Aktuelle Besprechungen von Neuerscheinungen zur Sozialgeschichte und zu weiteren Themen weiter
Alle seit 1961 erschienenen Bände des AfS stehen in retrodigitalisierter Form zur Verfügung weiter
In der Reihe Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte werden Aufsätze aus den Rahmenthemen publiziert.
In der ReiheBeihefte zum Archiv für Sozialgeschichte erscheinen vorwiegend Quelleneditionen mit Dokumenten zur Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung sowie zur Zeitgeschichte.