Aladin El-Mafaalani (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Köln: Kiepenhauer & Witsch

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Kurzgefasst und eingeordnet von Clara Kaepernick.


buch|essenz

Kernaussagen

Obwohl weniges derart stark geächtet wird wie Rassismus, ist er in unserer Kultur und Gesellschaft strukturell verankert – und er betrifft alle Menschen, entweder als Benachteiligte oder als Privilegierte. Erforderlich sind ein gemeinsames Problembewusstsein und eine Kultur, in der historisch sowie sozial gewachsene Selbstverständlichkeiten infrage gestellt werden dürfen, in der über die Privilegien der Privilegierten gesprochen wird und in der es Betroffenen möglich ist, über rassistische Erfahrungen zu sprechen. Nur so kann ein offener Diskurs entstehen, in dem die individuellen, sozialen und institutionellen Ursachen von Rassismus reflektiert werden und durch den Nicht-Betroffene, aber auch Betroffene für alle – manchmal nicht bewusst wahrgenommenen – Formen und Auswirkungen von Rassismus sensibilisiert werden.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Gleichheit, Chancengleichheit und Teilhabe sind wesentliche Grundwerte der Sozialen Demokratie und einer offenen Gesellschaft. Auch wenn aktuell ein gesellschaftlicher Wandel erkennbar ist und eine Öffnung der Gesellschaft stattfindet, kommt es gleichzeitig wieder vermehrt zu rassistisch motivierten Taten, fremdenfeindlichen Äußerungen und es bilden sich radikale Gruppen. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, sich mit den Ursprüngen von Rassismus und den bis heute wirkenden strukturellen Ursachen zu beschäftigen, denn Rassismus führt zu Benachteiligung und Ausgrenzung, prägt die gesellschaftlichen Strukturen und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Betroffenen, insbesondere im Hinblick auf Themen wie Bildung und Chancengleichheit. Warum wir überhaupt noch über Rassismus in einer vermeintlich offenen und toleranten Gesellschaft sprechen müssen und was Rassismuskritik bedeutet, führt El-Mafaalani sachlich und anschaulich aus.


buch|autor

Aladin El-Mafaalani, geboren 1978, ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er forscht und äußert sich seit Jahren zu den Themen Bildung, Integration und Rassismus und ist Mitglied im Bundesjugendkuratorium, das die Bundesregierung in Fragen der Kinder- und Jugendpolitik berät. Bekannt wurde El-Mafaalani 2018 mit seinem Buch „Das Integrationsparadox“. Zuletzt ehrte ihn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie mit dem Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.


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buch|inhalt

Wieso, Wozu und Was ist Rassismus?

Die „rassistische Zeitrechnung“ beginnt Ende des 15. Jahrhunderts mit der Herausbildung des Nationalstaats und des Kolonialismus. Um eine vermeintlich „natürliche“ Ordnung im Sinne einer sozialen Hierarchie unter ethnischen Gruppen zu begründen und eine nationale Zugehörigkeiten herzustellen, wurden Gesellschaftsformen durchgesetzt, in denen natürliche und kulturelle Merkmale, insbesondere Blut und Religion sowie die Hautfarbe, eine entscheidende Rolle spielten. Mit der Aufklärung etablierte sich die sogenannte „Rassentheorie“, in der Menschen aufgrund ihrer biologischen Merkmale einer „Rasse“ zugeordnet und klassifiziert wurden. Auf diese Weise wurde Unterdrückung, Sklaverei und Gewalt gegenüber bestimmten Gruppen legitimiert und so die Herrschaft sichergestellt. Mit dem Fortschreiten der Globalisierung verbreitete sich die Rassenlehre in vielen Teilen der Welt. Mittlerweile ist das Konstrukt der „Rasse“ indes widerlegt und wird in hohem Maße kritisiert. Warum muss man dann noch über Rassismus sprechen?

„Jede Gesellschaft wird durch historisch gewachsene Strukturen getragen, in die die Geschichte eingeschrieben ist. […] Rassismus [ist] strukturell überall in Kultur und Gesellschaft verankert und damit in allen Bereichen wirksam.“ Die Auswirkungen sind bis heute spürbar und prägen maßgeblich die globalen politischen sowie sozialen Verhältnisse. Menschen werden aufgrund natürlicher und kultureller Merkmale kategorisiert, was sich in Wissensbeständen, Vorurteilen, diskriminierender Sprache und anderen Aspekten der Sozialstruktur widerspiegelt und so zu Benachteiligungen im Hinblick auf Bildung, Partizipation, Chancengleichheit und anderen Rechten und Werten führt.

Rassismus ist in unserer Gesellschaft strukturell verankert, „erkennbar an […] Klassenverhältnissen, erlebbar in Kultur und Alltag, hörbar in der Sprache.“ Zeitgleich werden die gegenwärtigen Strukturen „als Normalität […], als nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeiten“ erlebt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb es wichtig ist, über Rassismus zu sprechen und Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen.

Rassistische Diskriminierung als Prozess: Zuschreibung, Abwertung, Ausgrenzung

Der Diskriminierungsprozess verläuft in drei Stufen: „Rassistisch diskriminierend ist eine Handlung […] dann, wenn man einem oder mehreren Menschen aufgrund [von kulturellen und/oder biologischen] Merkmalen gruppenbezogene Eigenschaften zuschreibt und diese Zuschreibung dann zu Abwertung und schließlich zu Ausgrenzung führt.“ Das heißt, Menschen werden aufgrund von Merkmalen kategorisiert, basierend hierauf „als moralisch, kognitiv und anderweitig minderwertig in einem hierarchischen Gefüge positioniert“ und damit qualitativ abgewertet, worauf häufig ein vollständiger oder teilweiser Ausschluss der Menschen stattfindet.

Nicht jede rassistische Handlung ist Ausdruck einer bewussten Diskriminierung. Der Rassismusforschung zufolge sind nicht-intendierte rassistische Handlungen sogar häufiger als bewusste Diskriminierung. Doch auch unbewusste Ausgrenzung führt für die Betroffenen zu einer regelmäßigen und systematisch-strukturellen Benachteiligung.

Wenn die rassistisch geprägten kulturellen, sozioökonomischen und normativen Strukturen der Gesellschaft zu Diskriminierung führen, die „regelhaft in bestimmten Organisationen, Sektoren oder Branchen auftritt“, spricht man von institutionellem Rassismus. Beispiele hierfür finden sich im Gesundheitswesen, in der Polizei, im Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie an Schulen. Da diese und ähnliche Institutionen den Lebensalltag prägen und maßgebend für die gesellschaftliche Teilhabe sind, hat institutioneller Rassismus enorme Auswirkungen für die Betroffenen und kann zu einer lebenslangen Benachteiligung führen.

Rassistische Diskriminierung als persönliche Erfahrung: Wahrnehmung, Kom-munikation und Empowerment

„Je häufiger und systematischer Betroffene Rassismus erleben, desto schwerer fällt es ihnen, ihn als solchen wahrzunehmen. […] Strukturelle Benachteiligung und Ausgrenzung bekommen allein aufgrund der durchschlagenden Normalität eine Legitimität – etwas muss aus dem Rahmen fallen, um ernsthaft als illegitim zu gelten.“ Ob etwas als legitim oder illegitim empfunden wird, hängt also davon ab, ob die Realität den Erwartungen der Betroffenen entspricht oder eine Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität besteht.

„[D]urch gestiegene Teilhabe [von benachteiligten Gruppen wachsen] auch die Erwartungen nachfolgender Generationen […], und zwar deutlich schneller als die realen Entwicklungen“, wodurch heutzutage mehr als illegitim wahrgenommen wird als früher.

Ungeachtet dessen fällt es Betroffenen oft schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Zum einen besteht eine große Erklärungsunsicherheit im Hinblick auf das Motiv der handelnden Personen und damit bezüglich der vermeintlichen Legitimation der Handlung. Zum anderen werden rassistische Vorfälle häufig skandalisiert und als Einzelfall dargestellt. Dies führt dazu, dass nicht die Täter_innen, sondern die Betroffenen sich rechtfertigen müssen. Zudem werden die Täter_innen oft pauschal dem rechten Rand zugeordnet, sodass kein sinnvoller Diskurs über strukturellen Rassismus etabliert werden kann.

Nicht selten suchen von Rassismus Betroffene die Schuld bei sich selbst, was gesundheitliche Folgen haben kann. Auch ihre Leistungsfähigkeit sinkt, da die eigenen Ambitionen reduziert werden und häufig ein Gefühl von Ohnmacht entsteht. Dies kann Resignation verursachen, aber auch in Rebellion münden und somit zu einer Abwendung von der „Mehrheitsgesellschaft“ führen. Diese „typischen Reaktionen sind jedoch nicht nur Ergebnis von rassistischer Diskriminierung, sondern auch Folge der Nicht-Thematisierbarkeit dieser Erfahrungen […].“ Tatsächlich scheint der Rassismusvorwurf heute oft schwerer zu wiegen als die Tat selbst. Umso wichtiger ist es, sich mit den Ursprüngen und strukturellen Verankerungen des Rassismus auseinanderzusetzen.

Damit ein Diskurs geführt werden kann, bedarf es eines gemeinsamen Problembewusstseins für strukturellen und institutionellen Rassismus sowie eines Raums, in dem Diskriminierung ohne Empörung, Skandalisierung oder Schuldzuweisungen zur Sprache kommen kann. Zum einen ist dies erforderlich, um Betroffene darin zu bestärken, „ihre Erfahrungen zu kommunizieren, einen konstruktiven Umgang damit zu finden und insbesondere selbstbestimmt die eigenen Interessen zu vertreten.“ Zugleich ist dies auch für die Sensibilisierung von Nicht-Betroffenen nötig, die ihnen dabei helfen kann, ihre eigene Rolle zu reflektieren und die eigenen Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen.

Rassismuskritik: Wissen, Haltung, Praxis

Rassismus ist ein hochgradig komplexes, historisch belastetes und emotional aufgeladenes Thema. Seit den Anschlägen in Halle und Hanau sowie der Tötung von George Floyd in den USA erfährt das Thema in der breiten Öffentlichkeit eine große Resonanz und stärkere Unterstützung. Bewegungen wie „Black Lives Matter“und die Initiative „Say Their Names“ haben eine enorme Wirkungsmacht. Betroffene sind in der Öffentlichkeit vertreten und mehr Menschen solidarisieren sich mit Opfern von Polizeigewalt im Besonderen und strukturellem Rassismus im Allgemeinen. Es findet ein gesellschaftlicher Wandel statt. Die realen Möglichkeiten über Rassismus zu sprechen, und hier vor allem gehört und verstanden zu werden, sind gewachsen.

Durch diese Öffnung des Diskurses können mehr Menschen teilnehmen und auch inhaltlicher wird die Debatte breiter: „Es wird nicht mehr nur über die Benachteiligung der Benachteiligten gesprochen, sondern auch über die Privilegien der Privilegierten“. Dies führt einerseits zu einem „sehr emotionalisierten Diskurs“, wodurch teilweise das Diskussionsniveau sinkt; andererseits erlaubt die zunehmende Sensibilisierung es, verschiedene Formen von Rassismus zu identifizieren und über Alltagsrassismus sowie strukturellen Rassismus zu sprechen.

El-Mafaalani versteht Rassismuskritik „als soziale Positionierung, als Perspektive auf die Welt und als soziale Praxis der Reflexion“. Von zentraler Bedeutung sind dabei das Wissen und Bewusstsein, dass Rassismus strukturell in Kultur und Gesellschaft verankert ist und jeder von uns involviert ist – entweder als Benachteiligter oder als Privilegierter. Wir sind Teil des Problems, können so aber auch Teil seiner Lösung werden. Es ist ein „kontinuierlicher Prozess der Selbstreflexion und der Reflexion der sozialen Ordnung und ihrer Legitimität.“ Rassismuskritik erlaubt es, über Rassismuserfahrungen zu sprechen, sich seiner eigenen Rolle bewusst zu werden und für Widersprüchlichkeiten und historisch sowie sozial gewachsene Strukturen sensibilisiert zu werden. Gleichzeitig „ist [es] eine Haltung, die erfasst, dass das Sprechen über Rassismus notwendig, aber nicht unproblematisch ist.“


buch|votum

El-Mafaalani schreibt, „[w]er nicht rassistisch sein möchte, muss sich mit Rassismus auseinandersetzen, darüber sprechen und aktiv werden.“ Mit seinen Ausführungen versucht El-Mafaalani der Komplexität dieses Themas gerecht zu werden und einen nüchternen Überblick über die historischen und bis heute wirkenden strukturellen Dimensionen von Rassismus zu geben. Auf verständliche und zugleich fundierte Art und Weise veranschaulicht er, wie tief verankert Rassismus in unserer Kultur und Gesellschaft ist und warum es Betroffenen bis heute schwer fällt, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Er bietet die Basis für einen differenzierten und sachlich-informierten Diskurs, bei dem wir keine Angst davor haben sollten, über Rassismus zu sprechen. Viel mehr appelliert er an ein gemeinsames Problembewusstsein, und fordert einen offeneren, vertrauensvolleren Austausch, ohne Schamgefühl, Empörung oder Skandalisierung. Gelingt ein solcher Austausch nicht, erinnert El-Mafaalani an die zahlreichen Opfer rassistisch-motivierter Taten.

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Verlag: KiWi-Taschenbuch
Erschienen: 09.09.2021
Seiten: 192
ISBN: 978-3-462-00223-2

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