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Anne Case & Angus Deaton: Tod aus Verzweiflung

Der Untergang der amerikanischen Arbeiterklasse und das Ende des amerikanischen Traums. Kulmbach: Plassen Verlag (2022)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe
Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.


buch|essenz

Kernaussagen

In den USA nehmen nicht nur Ungleichheit und Armut zu. Trotz wirtschaftlichen Wachstums fällt seit einigen Jahren die Lebenserwartung, während sie in anderen Industrienationen weiter steigt. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass diese Entwicklung im Wesentlichen durch eine stark gestiegene Sterblichkeit der weißen Männer aus der Arbeiterklasse erklärbar ist. Hohe Selbstmordraten, der Missbrauch von Medikamenten, Alkohol und Drogen sowie körperliche und seelische Probleme führten zu einer Vielzahl von Toden aus Verzweiflung.

Armut und Ungleichheit greifen als Erklärung zu kurz. Denn genauso wie Tode aus Verzweiflung sind Armut und Ungleichheit die Resultate viel grundsätzlicherer Mechanismen des amerikanischen Kapitalismus. Der schrankenlose Wettbewerb am Arbeitsmarkt führt zu Ausbeutung. Globale Unternehmensverlagerungen zerstören die ökonomische Basis ganzer Regionen. Und das teure aber von Lobbyinteressen geprägt Gesundheitssystem steuert nur wenig gegen diese Entwicklung.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Der Blick auf den Zustand der USA zeigt, dass Kapitalismus nicht zwingend mehr Wohlstand für alle bedeuten muss. Zwar lässt sich eine solch massive Zunahme der Tode aus Verzweiflung für Deutschland nicht belegen. Aber das Gefühl, ökonomisch und sozial abgehängt zu werden, gibt es durchaus und erklärt die Wahl der AfD an vielen Orten der Republik. Für die Soziale Demokratie gibt das Buch Hinweise darauf, dass der Blick auf Statistiken über Armut, Verteilung und Arbeitsplätze allein nicht ausreicht, um die soziale Lage zu begreifen. Regionaler Strukturwandel und echte Beteiligung an wirtschaftlichem Wohlstand müssen sozial organisiert werden, um gegenzusteuern und Entwicklungen wie in den USA zu verhindern.


buch|autor_innen

Anne Case und Angus Deaton sind emeritierte Wirtschaftswissenschaftler mit einer Professur an der Princeton University.

Case beschäftigt sich mit den Auswirkungen makroökonomischer Entwicklungen auf die Gesundheit der Menschen.

Deaton ist Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2015 und beschäftigt sich mit der Analyse des Konsumverhaltens von Haushalten, insbesondere von Armen und Arbeitern, und den damit verbundenen Auswirkungen auf Armut und Gesundheit.


Anne Case und Angus Deaton: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Die Statistik über die ökonomische, soziale und gesundheitliche Situation der Amerikaner spricht eine klare Sprache: Die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA sinkt, obwohl es Wirtschaftswachstum gab und in anderen westlichen Industrienationen die Lebenserwartung weiter steigt. Blickt man auf die Ursachen, fällt ein Muster auf: Die weiße Arbeiterklasse der USA weist seit den 1990er-Jahren einen erheblichen Anstieg der Tode aus Verzweiflung auf. Sie stellen die Ursache dafür dar, dass in der Statistik die durchschnittliche Lebenserwartung sinkt. Was aber sind Tode aus Verzweiflung?

„Es waren nicht genügend Selbstmorde, um diesen Umschwung bei den Todeszahlen zu erklären. Wir blickten auf die Ursachen, die wohl verantwortlich sind. Zu unserer Überraschung stehen unabsichtliche Vergiftungen für ein großen Teil der Story. Wie kann das sein? […] In unserer damaligen Unwissenheit wussten wir nicht, dass unabsichtliche Vergiftungen die Kategorie waren, die Überdosen von Medikamenten und Drogen enthielt, und dass es eine Epidemie der Tode durch Opioide gibt, die bereits etabliert ist und noch stärker ansteigt. Tode durch alkoholische Leberkrankheiten waren auch stark angestiegen […]. Diese Todesarten werden sich alle selbst zugefügt, mal schnell mit einer Pistole, mal langsamer und weniger sicher mit einer Drogenabhängigkeit und noch langsamer durch Alkohol. Wir kamen dazu, diese ‚Tode aus Verzweiflung‘ zu nennen […]. Welche genaue Art der Verzweiflung vorliegt, ob ökonomisch, sozial oder psychologisch, wussten wir nicht […]. Aber der Name trifft es und dieses Buch widmet sich der tiefen Erforschung dieser Verzweiflung.“

Was treibt die Epidemie der Tode aus Verzweiflung an?

Ein wichtiger Anhaltspunkt stellt die Ausbildung dar. Tode aus Verzweiflung treten häufiger unter den Menschen in den USA auf, die über keinen Universitätsabschluss verfügen. Allerdings sind in dieser Gruppe Männer deutlich stärker betroffen als Frauen. Außerdem trifft die Epidemie, also der starke Anstieg der Tode aus Verzweiflung, vor allem weiße Männer. Während es im Vergleich zu weißen Männern mit Universitätsabschluss keinen Anstieg gab, verzeichnet die Gruppe ohne diesen Abschluss ab den Jahrgängen 1955 und jünger eine kontinuierlich steigende Rate der Verzweiflungstode. Schwarze Menschen ohne Universitätsabschluss haben lange Zeit keinen vergleichbaren Anstieg dieser Tode erlebt, auch wenn die Raten deutlich höher gegenüber den Vergleichsgruppen weißer Menschen lagen. Allerdings steigen seit Beginn der 2010er-Jahre die Verzweiflungstode in dieser Gruppe ebenfalls deutlich an, sodass künftig auch schwarze und andere Gruppen jenseits der weißen Arbeiterklasse von der Epidemie der Tode aus Verzweiflung getroffen werden können.

Blickt man auf die gesundheitliche Situation, erkennt man erste Ursachen für die Epidemie der Verzweiflungstode. Bei weißen Männern ohne Universitätsabschluss im Alter zwischen 20 und 60 Jahren stiegen die gesundheitlichen Probleme deutlich an. Bei der Gruppe mit diesem Abschluss kommen gesundheitliche Probleme nicht nur deutlich seltener vor, sie steigen auch nicht. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Entwicklung mentalen Stresses, von dem ebenfalls vor allem weiße Männer mittleren Alters und ohne Universitätsabschluss betroffen sind. Warum führen Krankheiten zu Toden aus Verzweiflung? Körperliche und mentale Probleme hindern Menschen daran, ihrer Arbeit nachzugehen und sich mit anderen Menschen in ihrer Freizeit zu treffen.

„Etwas macht das Leben schlechter, gerade für weniger gebildete Weiße. Wichtige Fähigkeiten, die das Leben lebenswert machen, wurden entwertet, einschließlich der Fähigkeit zu arbeiten oder der Fähigkeit, das Leben mit anderen zu genießen. Schwerer mentaler Stress steigt. Natürlich erleben viel mehr Menschen diese Verschlechterung ihrer Lebensqualität als jene, die dann sterben. Aber die Verschlechterung ist mit Sicherheit der Hintergrund für die Tode.“

Körperliche Schmerzen stellen einen weiteren Indikator des Wohlbefindens dar. In einer Befragung zwischen 2008 und 2017 traten Schmerzen unter weißen Amerikanern ohne Universitätsabschluss deutlich häufiger auf im Vergleich zur gebildeteren Gruppe. Während für die Gebildeten und Vergleichsgruppen aus dem Ausland die Schmerzkurve mit zunehmendem Alter ansteigt, erfährt die Schmerzkurve in der Gruppe der Weißen ohne Universitätsabschluss einen Höhepunkt bei der Häufigkeit von Schmerzen etwa im 60. Lebensjahr. Ältere in dieser Gruppe erfahren Schmerzen im Vergleich wieder seltener, obwohl eigentlich mit dem Alter Schmerzen steigen sollten, selbst wenn durch die Rente körperlich harte Arbeit wegfällt.

Es hat offensichtlich einen starken Anstieg der Schmerzen in der Gruppe der 30- bis 60-jährigen weniger gebildeten Weißen gegeben. Eine Erklärung hierfür könnte die Zunahme von Fettleibigkeit und den damit verbundenen körperlichen Beschwerden sein, aber diese reicht für die Stärke des Befundes nicht aus. Vielmehr spielt der Arbeitsmarkt eine Rolle, allerdings weniger durch die Zunahme körperlich anstrengender Arbeit in dieser Gruppe. Lohneinbußen und Verlust des sozialen Status in dieser Gruppe werden statistisch als Ursache für Schmerzen erfasst.

Dieser Zusammenhang kann auch mit der Zunahme von Selbstmorden, Drogen- und Alkoholkonsum begründet werden. Weiße Amerikaner mittleren Alters und ohne Universitätsabschluss sind nicht nur prinzipiell stärker suizidgefährdet, auch die Selbstmordrate ist seit dem Jahr 2000 nochmals deutlich angestiegen. Alkoholkonsum ist zwar häufiger in der Gruppe der Gebildeten zu beobachten, aber starkes Trinken tritt wesentlich mehr in der Gruppe ohne Universitätsabschluss auf und hat im Zeitverlauf deutlich zugenommen. Schließlich stellt der Missbrauch von Medikamenten und Drogen die größte und am stärksten wachsende Ursache der Tode aus Verzweiflung dar.

Armut, Einkommen und die große Rezession als schwache Erklärungen

Oftmals werden Armut oder Ungleichheit als Ursache für Tode aus Verzweiflung genannt. Doch der Wirkungszusammenhang ist komplizierter.

„Tode aus Verzweiflung und Einkommensungleichheit sind tatsächlich stark miteinander verbunden, aber nicht so, wie oft argumentiert wird, mit einem einfachen kausalen Pfeil von Ungleichheit zu Tod. Stattdessen sind es tiefere Kräfte der Macht, Politik und des sozialen Wandels, die die Epidemie und die extreme Ungleichheit verursachen. Ungleichheit und Tod sind die gemeinsamen Konsequenzen dieser Kräfte, die die weiße Arbeitsklasse zerstören.“

So sind die Tode aus Verzweiflung nicht direkt dort konzentriert, wo es in den USA besonders hohe Armutsquoten gibt. Zudem kann eine hohe Rate der Drogenabhängigkeit durch besondere regionale Umstände erklärt werden. Auch Ungleichheit ist verbunden mit dem Anstieg der Verzweiflungstode, aber ähnlich allgemein und ohne tiefere Erklärungszusammenhänge wie bei Armutsquoten. Wenn der weißen Arbeiterklasse statt Aufstiegsmöglichkeiten in Wachstumszeiten keine Chancen in einer sich schneller technologisch und global verändernden Welt gegeben werden, steigen die Probleme deutlich an. Die Rezession ab 2008 kann ebenfalls nicht als größere Ursache gedeutet werden, weil sie nicht den Anstieg der Tode aus Verzweiflung seit den 1990er-Jahren erklärt.

Welche Kräfte führen wirklich zur Epidemie der Tode aus Verzweiflung?

Viel spricht dafür, dass es der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist, der zwar zu beträchtlichem Wohlstand geführt hat, nun aber auch die Epidemie der Tode aus Verzweiflung verstärkt. Erklärungen lassen sich besser aus der Lebenswirklichkeit der betroffenen weißen Arbeiterklasse ableiten. Arbeit hat sich für Menschen ohne Universitätsabschluss stark verändert. Oftmals arbeiten Leih- und Zeitarbeiter nicht mehr im gleichen Unternehmen wie die Chefs und die Stammbelegschaft, sodass Begegnungen kaum noch stattfinden und akademisch und nicht akademisch Gebildete als Gruppen sich immer mehr voneinander entfernen. Das mag ökonomisch effizient sein, aber nicht sozialverträglich.

Ebenso wirkt sich der Verlust an Privilegien für die weiße Arbeiterklasse gegenüber der schwarzen Bevölkerung aus. Denn zunehmende Konkurrenz erzeugt mehr Druck und Wettbewerb um gute Arbeitsplätze. Und diese gute Arbeit ist zunehmend durch prekäre Arbeit ersetzt worden, sei es durch Automatisierung und Strukturwandel oder zunehmenden Druck auf jeden Einzelnen am Arbeitsmarkt der Mittelklasse. Deswegen sind niedrige Arbeitslosenzahlen kein Ausweg aus der Epidemie der Tode aus Verzweiflung, denn die Statistik erfasst nicht, wie viele Jobs in Wirklichkeit schlecht bezahlt sind, Menschen ausbeuten und damit unter körperlichen und seelischen Stress setzen.

Darüber hinaus wirkt sich die regionale Deindustrialisierung besonders negativ aus, weil kollektive Abstiegserfahrungen die Verzweiflung über die berufliche und private Lage stark vergrößern, wenn Unternehmen ins Ausland verlagert werden und dadurch Regionen Wirtschaftskraft und auch soziale Infrastruktur verlieren. Aus diesem Grund erklären nicht Armutsquoten an sich eine Zunahme der Tode aus Verzweiflung, sondern Abstiegserfahrungen von ehemals entwickelten Regionen, selbst wenn diese die Armutsquoten anderer Regionen nicht erreicht haben.

Auch das Gesundheitssystem der USA bedingt die Epidemie der Tode aus Verzweiflung. Es ist keineswegs von Wettbewerb geprägt, sondern von kapitalistischen Großunternehmen, die mittels Lobbying ihre Interessen leicht, aber wirksam durchsetzen können. Als Resultat ist durch die hohen Kosten das Verhältnis zu den Gesundheitsausgaben der USA daher im internationalen Ländervergleich besonders schlecht. Wegen der schlechten Gesundheitsversorgung fehlt Hilfe bei gesundheitlichen Problemen. Stattdessen wird Medikamentenmissbrauch vergünstigt und damit auch der Tod aus Verzweiflung.


buch|votum

Case und Deaton räumen auf mit den einfachen Erklärungen für die negativen Auswirkungen von Kapitalismus und richten den Blick auf das Wesentliche. Tode aus Verzweiflung stellen dabei den traurigen Höhepunkt der Entwicklung dar, die ein selbstzerstörerischer Wettbewerb am Arbeitsmarkt, globale Verlagerungen von Unternehmen oder Lobbymacht in der öffentlichen Gesundheitsversorgung verursachen. Armut und Verteilungsgerechtigkeit sind nicht die Ursachen, sondern ebenfalls Auswirkungen dieser Fehlentwicklungen im Wirtschaftssystem.

Das Buch bietet für Interessierte an Zahlen und Statistiken ganz hervorragende Ausarbeitungen, Grafiken und verständliche Erklärungen – auch über die Grenzen der Belastbarkeit von Daten hinaus. Für die USA werden verschiedene politische Maßnahmen diskutiert, die zwar nicht auf den Kontext europäischer Wohlfahrtsstaaten anwendbar sind, aber die prekäre politische Situation in den USA aufzeigen.

Auch wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung feststellt, dass eine vergleichbare Entwicklung von Toden aus Verzweiflung für Deutschland nicht stattfindet, sollten wir von der Analyse des Buches lernen – zumal zum Beispiel Großbritannien bei der Lebenserwartung und anderen Indikatoren bereits einen ähnlichen Pfad einschlägt. Unzufriedenheit und das Gefühl, abgehängt zu werden, existieren auch in Deutschland und bedingen die Wahl der AfD. Ebenso gibt es Verwerfungen am Arbeitsmarkt durch schlechte (schlecht bezahlte?) Arbeit. Auch Erfahrungen mit Strukturwandel wie in Ostdeutschland oder in westlichen Industrieregionen haben zu Enttäuschung und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in Regionen beigetragen, was dort merklich zu einem Stimmenzuwachs für die AfD geführt hat.

Für die Soziale Demokratie war daher die kritische Aufarbeitung der Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt ein wichtiger Baustein, um stärker gegenzusteuern. Wirtschaftlicher und psychologischer Stress stellen kein legitimes Fordern um Mitwirkung dar, sondern verursachen viele gesundheitliche Probleme bis hin zum Tod aus Verzweiflung. Angesichts der noch kommenden Transformationsaufgaben durch Digitalisierung und Nachhaltigkeit wird der Umgang mit Arbeitslosigkeit und Strukturwandel eine zentrale Aufgabe sein.

Menschen dabei mitzunehmen bedeutet, ihnen den Druck, sich zu verändern, nicht einfach in Gänze aufzuerlegen. Eibe soziale und demokratische Arbeitspolitik muss den Fokus auf echte, langfristig orientierte Weiterbildung richten statt auf eine schnelle Eingliederung am Arbeitsmarkt. Das erfordert eine statussichernde Förderung des Erwerbs einer neuen Ausbildung über mehrere Jahre.

Es ist bemerkenswert, dass sich die neue Ampelregierung eine solche Arbeitsmarktreform zum Ziel gesetzt hat. Es bleibt aber noch abzuwarten, ob die Umsetzung stark genug dafür ist, Ängsten vor Veränderung und Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen zu begegnen, die auch durch die bisherigen Regelungen am Arbeitsmarkt herrühren.

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Verlag: PLASSEN
Erschienen: 10.02.2022
Seiten: 400
ISBN: 978-3-86470-769-8

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