Diese Webseite verwendet Cookies
Diese Cookies sind notwendig
Daten zur Verbesserung der Webseite durch Tracking (Matomo).
Das sind Cookies die von externen Seiten und Diensten kommen z.B. von Youtube oder Vimeo.
Geben Sie hier Ihren Nutzernamen oder Ihre E-Mail-Adresse sowie Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.
Zur Verlagsseite
Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers – Paula Schweers ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Derzeit wird sie beim ARTE Magazin und an der FreeTech Academy of Journalism und Technology zur Redakteurin ausgebildet.
Ob Medizin, Design oder Politik: Obwohl es uns im Alltag häufig nicht bewusst ist, werden viele Bereiche unseres Lebens durch den Einfluss wissenschaftlicher Daten geformt. In ihrem Buch Unsichtbare Frauen legt Caroline Criado-Perez die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung und Interpretation solcher Daten offen. Diese werden bis heute hauptsächlich von Männern und über Männer gesammelt. Die hierdurch entstandene Wissenslücke, der sogenannte Gender Data Gap, wird und wurde zwar nicht bewusst erzeugt, führt aber zu einer strukturellen Benachteiligung von Frauen. Aus diesem Grund plädiert die Autorin für eine kritische Debatte und fordert einen Systemwandel. Sie zeigt, dass Bedürfnisse von Frauen besser berücksichtigt werden, wenn sie gleichberechtigt in Forschung, Wirtschaft und Politik vertreten sind.
Die datenbasierte Analyse macht deutlich, wie sehr Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auf vielfältige Weise in unser Leben und unsere Gesellschaft eingewoben ist. Dies zu verändern und individuelles wie gesellschaftliches Leben gleichberechtigt und vielfältig zu gestalten, ist ein zentraler Wert einer gerechten Gesellschaft und somit ein Kerninteresse der Sozialen Demokratie.
Verlag: Penguin Random HouseErschienen: 10.02.2020Seiten: 496ISBN: 978-3-442-71887-0
Caroline Criado-Perez, 1984 geboren, ist Autorin und Rundfunkjournalistin. Sie publiziert unter anderem im New Statesman und Guardian. Ihr erstes Buch Do it Like a Woman erschien 2015. Sie zählt zu den international einflussreichsten feministischen Aktivistinnen der Gegenwart. Zu ihren bekanntesten Kampagnen gehören der erste Abdruck eines Frauenbildes auf britischen Banknoten und die Verpflichtung von Twitter, seinen Umgang mit sexuellem Missbrauch zu ändern. 2013 wurde Caroline Criado-Perez zum Human Rights Campaigner of the Year ernannt.
Der Gender Data Gap und die daraus entstandenen Annahmen über die Wirklichkeit haben Einfluss auf ganz unterschiedliche Bereiche des alltäglichen Lebens: Die Tendenz, Männlichkeit als Norm zu definieren, beeinflusst zum Beispiel Forschung, Sprache, Design, die Nutzung des öffentlichen Raums, Medizin, Krisen und Politik. Besonders brisant ist dies in einer digitalisierten Welt, in der Daten immer wichtiger werden. So ist beispielsweise auch künstliche Intelligenz nicht über menschliche Stereotypen erhaben. Stattdessen stecken in den Datensätzen, mit denen KI gefüttert wird, oft gesellschaftliche Vorurteile. Hieraus ergibt sich, dass sich der Gender Data Gap bei fortschreitender Digitalisierung sogar noch vergrößern kann, wenn solche Zusammenhänge nicht erkannt werden.
Das Beispiel der Forschungsdisziplin Anthropologie zeigt, wie Voreingenommenheit in Bezug auf Geschlechterstereotype die Arbeitsergebnisse von Wissenschaftler_innen verzerren kann. Archäolog_innen, die 1889 in Schweden ein gepanzertes Wikingerskelett entdeckten, das zusammen mit Jagdwaffen begraben worden war, gingen ganz selbstverständlich davon aus, die Knochen eines männlichen Kriegers vor sich zu haben – obwohl der gefundene Beckenknochen eindeutig weiblich war. Der Fehler blieb unentdeckt, verlangsamte den weiteren Erkenntnisfortschritt und wurde erst 2017 durch Tests eindeutig widerlegt. Dennoch gab es weiterhin kontroverse Diskussionen um den Fund, da manche Wissenschaftler_innen die Existenz von kämpfenden Wikingerfrauen nach wie vor für unwahrscheinlich hielten.
Die feministische Anthropologin Sally Slocum kritisierte bereits 1957 die Art, wie spärliche Daten auf der Basis von Vorannahmen interpretiert werden und somit eine möglichst objektive Erhebung von Erkenntnissen unmöglich machen. Sie veröffentlichte diese Kritik in ihrem berühmten Artikel Woman the Gatherer: Male Bias in Anthropology. In dem Aufsatz stellte sie auch fest, dass die Verwendung des generischen Maskulinums in wissenschaftlichen Texten zusätzlich der Unvoreingenommenheit von Forschenden entgegenstehen kann.
Studien über die Verwendung des generischen Maskulinums zeigen, dass sich Menschen dabei eher an berühmte Männer als an berühmte Frauen erinnern, dass sie glauben, dass bestimmte Berufsgruppen von Männern dominiert seien und eher männliche Bewerber für Posten oder politische Ämter vorgeschlagen werden. Woran liegt das?
Dass Sprache unsere Gedanken und somit auch unsere Wirklichkeit formen kann, ist eine bekannte These, die aus der Linguistik stammt. Weiterführende Erkenntnisse aus der Forschung in zahlreichen Disziplinen, wie zum Beispiel Kognitionspsychologie oder Erziehungswissenschaften, belegen zudem, dass eine explizite sprachliche Repräsentation direkt mit kognitiver Repräsentation korreliert. Für Debatten über gesellschaftliche Teilhabe bedeutet diese Annahme: Menschen, die sprachlich unterrepräsentiert sind, über deren Belange wenig gesprochen wird, oder die kaum gehört werden, wie zum Beispiel Minderheiten, geraten aus dem Blick und rücken auch gesellschaftlich in den Hintergrund.
Dies hat sogar messbare Auswirkungen: Eine Analyse des Weltwirtschaftsforums von 2012 weist nach, dass tendenziell in jenen Ländern die geringste Geschlechtergerechtigkeit herrscht, deren Sprachen nach Geschlecht gebeugt werden und deutliche Vorstellungen von männlich und weiblich transportieren. Im Umkehrschluss bedeuten diese Erkenntnisse jedoch auch, dass eine veränderte Sprache, die Frauen gleichberechtigt repräsentiert, auch dazu beitragen kann unsere soziale Wirklichkeit zu verändern und gerechter zu machen.
Gutes Design unterliegt dem Anspruch, funktional und ästhetisch zu sein. Aber wer genauer hinsieht, stellt fest, dass Gebrauchsgegenstände auch benachteiligen können. So sind Klaviertastaturen oder Bohrmaschinen für Männerhände geformt, Spracherkennungssoftware reagiert häufig nicht auf die Frequenzen weiblicher Stimmen. Ein Großteil der Geräte und Werkzeuge, die wir tagtäglich benutzen, sind für Männer gemacht. Ein Beispiel hierfür ist das Smartphone. Vorgeblich sind Mobiltelefone extra für die Bedienung mit einer Hand konstruiert. Aber gilt das für alle Nutzer_innen? Im Jahr 2018 betrug die Durchschnittsgröße eines Smartphones 14 Zentimeter. Für eine durchschnittlich große Frauenhand ist das ziemlich unpraktisch. Damit ist das Geschlecht des hypothetischen Smartphone-Nutzers ziemlich eindeutig männlich.
Neue Forschung zeigt, dass die Standardbreite von Smartphones bei Nutzerinnen sogar zu Erkrankungen des Bewegungsapparats führen könnte. Die meisten Studien zu diesem Thema unterscheiden allerdings weiterhin nicht nach Geschlecht und auch eine Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in der Entwicklung der Produkte wird bisher zumeist nicht vorgenommen. Genderblinde Gestaltungspraxis kann ihre Wurzeln somit auch in der zugrunde liegenden Datenlage suchen, die Bedürfnisse und Verhaltensweisen nicht nach Geschlecht differenziert.
Bereits in den späten 1970ern kritisierten Stadtplanerinnen, Architektinnen und Stadtsoziologinnen in Deutschland, dass die Perspektiven von Frauen in der Stadtplanung fehlten. Ihre These: Frauen nutzen den öffentlichen Raum anders, weil sie neben der Erwerbsarbeit einen Großteil der unbezahlten Hausarbeit und Kindererziehung erledigen und weniger mit dem Auto, sondern häufiger zu Fuß unterwegs sind oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Zugleich arbeiten Männer prozentual öfter in Vollzeit als Frauen, was zu unterschiedlichen Fortbewegungsmustern führt. Auch aktuelle internationale Studien kommen mehrheitlich zu diesem Ergebnis.
Dennoch orientiert sich städtische Verkehrsplanung zumeist trotzdem an diesen männlichen Mustern und konzentriert sich auf die Mobilität von Vollzeitbeschäftigten, wie eine EU-weite Studie aus dem Jahr 2012 belegt. Das Ergebnis ist ein Transportsystem, das auf die Hauptreisezeiten dieser Gruppe ausgelegt ist. Der Gender Data Gap führt somit dazu, dass Nutzerinnen des öffentlichen Nahverkehrs durch ihre Fahrgewohnheiten benachteiligt werden. Zudem ist die Infrastruktur von Städten in der Regel noch immer darauf ausgelegt, dass Autofahrer_innen gegenüber Fußgänger_innen im Vorteil sind. Enge Gehwege, schlechte Beleuchtung oder steile Treppen benachteiligen Frauen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit als Männer diese Wege mit Kinderwagen oder Einkäufen zurücklegen, zusätzlich.
Diese Erkenntnisse machen deutlich, dass die Erhebung von Mobilitätsdaten und die anschließende Interpretation und Umsetzung, solche unterschiedlichen Fortbewegungsmuster deutlich stärker berücksichtigen muss, damit Männer und Frauen gleichermaßen profitieren.
Der männliche Körper wird in der medizinischen Forschung noch immer meist als Standard angesehen, auch die Ausbildung von Ärzt_innen orientierte sich jahrelang an dieser Norm. Eine 2008 durchgeführte Analyse medizinischer Lehrbücher, die von renommierten Universitäten in Europa, den USA und Kanada verwendet werden, ergab, dass Abbildungen von Körperteilen dreimal mehr männliche als weibliche Gliedmaßen zeigten. Dabei belegen zahlreiche Studien, dass sich männliche und weibliche Körper nicht nur anatomisch, sondern auch auf organischer und sogar zellulärer Ebene unterscheiden. Eine verbesserte Datenlage über weibliche Körper ist daher von entscheidender Bedeutung, um eine wirksamere medizinische Versorgung für Frauen herstellen zu können. Dennoch sind Frauen in medizinischen Studien systematisch unterrepräsentiert – selbst Tierversuche werden weiterhin zu 70% an männlichen Tieren vorgenommen. Das bedeutet unter anderem, dass Medikamente oder andere medizinische Produkte auf den Markt kommen, ohne dass sie ausreichend an Frauen getestet wurden.
Ein solches Ungleichgewicht wirkt sich natürlich auf die Behandlung von Patientinnen aus: Die Stellung von Diagnosen, die Gabe von Medikamenten oder die Behandlungspläne sind häufig nicht ausreichend auf sie abgestimmt. In der medizinischen Lehre und Forschung ist die geschlechtsbezogene Datenlücke somit besonders gefährlich.
Die Datenlücken, die Frauen bereits im Alltag häufig benachteiligen, vergrößern und vervielfältigen sich in Krisen wie bei Naturkatastrophen, Kriegen und Pandemien weiter. So werden Frauen bei Hilfsaktionen nach Naturkatastrophen häufig nicht einbezogen. Ein Beispiel sind die Arbeiten zum Wiederaufbau nach dem Hurrikan Andrew 1992 in den USA. Das Gremium, das die Entscheidungen traf, bestand aus 56 Männern und nur elf Frauen. Es wollte zwar Wolkenkratzer und Einkaufszentren neu errichten, die Bedeutung von Kindertagesstätten oder Gesundheitszentren wurde jedoch übersehen. Dies führte zwar zu wütenden Protesten von Frauenrechtler_innen, jedoch nicht zu einer Anpassung für künftige Katastrophen. Bisher gibt es auch kein internationales Gesetz, das die Einbeziehung von Frauen in Wiederaufbaupläne nach Katastrophen vorschreibt.
Des Weiteren sind Frauen in der Politik und somit unter den gestaltenden Entscheidungsträger_innen, massiv unterrepräsentiert. So waren im Jahr 2017 weltweit gerade einmal 23,4% aller Politiker weiblich. Hinzu kommt, dass es Frauen, die in die Politik gehen, nicht leicht gemacht wird. Studien der University of Berkeley in Kalifornien zeigen, dass Frauen, die in männlich dominierten Kontexten das Wort ergreifen, negativer beurteilt werden als Männer, die exakt dasselbe sagen. Sie werden schnell als aggressiv wahrgenommen, Männer hingegen als durchsetzungsstark. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Politikerinnen häufiger geschlechtsbezogene Beleidigungen erfahren als Politiker. Eine Umfrage der Interparlamentarischen Union von 2018 unter weiblichen Abgeordneten und Mitarbeiterinnen in nationalen Parlamenten in der Europäischen Union ergab, dass bereits 67,9% von ihnen sexistischen Äußerungen ausgesetzt waren.
Dabei zeigen Studien, dass Politikerinnen eher bereit sind, den Gender Gap zu überwinden und Themen wie Familienpolitik, Bildung und soziale Infrastruktur auf die Agenda zu setzen. Eine Analyse des Einflusses von Politikerinnen aus 19 OECD-Ländern zwischen 1960 und 2005 ergab, dass Frauen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit mit Themen befassen, die Frauen betreffen. Eine indische Studie von 2004 bestätigt dies: Als ein Drittel der Sitze in den Gemeinderäten mit Frauen besetzt war, erhöhten sich die Investitionen in für Frauen wichtige Infrastruktur. Wenn Frauen in politischen Ämtern besser repräsentiert sind, betreiben sie also aktiv eine Politik, die die Bedürfnisse von Frauen anerkennt und berücksichtigt.
Criado-Perez Analyse ist kritisch, akribisch recherchiert und eine Fundgrube für Zahlen und Statistiken. Durch ihre Vermessung der Welt zeigt die Autorin anschaulich auf, in wie vielen Lebensbereichen Frauen aufgrund des Gender Data Gaps Benachteiligungen erfahren, aber auch, wie eine Veränderung dieser Situation möglich wäre. Aus Sicht der Sozialen Demokratie knüpft das Buch hiermit an die vielfältigen Debatten über Gleichstellung an, die gesellschaftlich und auch parteiintern geführt werden. Criado-Perez untermauert die Diskussion, auch gegenüber populistischen Argumenten, mit Zahlen und Fakten. Insbesondere der Lösungsansatz, für den sich die Autorin stark macht, ist hierbei für künftige Handlungsempfehlungen interessant: nämlich die Repräsentation von Frauen in politischen Ämtern und in der Forschung zu erhöhen, um den Gender Data Gap und seine Auswirkungen zu überwinden.