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Kurzgefasst und eingeordnet von Christian Krell – Prof. Dr. Christian Krell ist seit 10.2021 Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der HSPV NRW (Köln) und seit April 2019 Honorarprofessor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Von 2018 bis Oktober 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes in Brühl. Er studierte Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft an der Universität Siegen und der University of York. Forschungsschwerpunkte sind Europapolitik, Parteienforschung, Demokratieforschung sowie Theorie und Praxis sozialer Demokratie.
(Erstveröffentlichung A Theory of Justice (1971): Harvard University Press)
Eine gerechte Gesellschaft orientiert sich an zwei Grundsätzen: Sie verwirklicht ein größtmögliches Maß an Freiheiten für alle Menschen in diesen Gesellschaften gleichermaßen. Unterschiede in der Verteilung von Einkommen und Vermögen sind nur dann zu akzeptieren, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil bieten.
Wer sich mit der Ideengeschichte der Sozialen Demokratie auseinandersetzt wird feststellen, dass sie an vielen Stellen vom Liberalismus geprägt ist. Ab dem 19. Jahrhundert entwickelten die Ideen liberaler Denker von Rechten des Einzelnen – unabhängig von seinem Stand – politische Wirkmacht. Wahlfreiheit, Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw. wurden nach und nach in verschiedenen Gesellschaften durchgesetzt. In der politischen Programmatik und Praxis der Sozialen Demokratie wurde diese Dimension bürgerlicher und politischer Freiheitsrechte ergänzt durch einen Blick auf soziale und ökonomische Fragen. Denn die Freiheit des Einzelnen – so die Vorstellung Sozialer Demokratie – kann sich nicht allein durch das Erklären von Freiheitsrechten entfalten. Es müssen auch die materiellen Grundlagen zum Leben und Nutzen dieser Freiheiten vorhanden sind.
Der immense Einfluss von Rawls Theorie der Gerechtigkeit auch in der Sozialen Demokratie erklärt sich dadurch, dass Rawls genau diese Schnittstelle zwischen politischen Freiheitsrechten und der Verteilung begrenzter Güter berührt. Dass die von Rawls mitentwickelte Idee gleicher Freiheit heute programmatischer Kern vieler dieser Parteien ist, ist kein Zufall.
Verlag: Suhrkamp VerlagErschienen: 27.02.1979Seiten: 688ISBN: 978-3-518-27871-0
John Rawls (1921–2002) war einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er hat an der Harvard University, USA, gelehrt. Sein Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ gehört inzwischen zu den philosophischen Standardwerken und hat großen Einfluss auf die philosophische und politische Diskussion, wie gerechte Gesellschaften beschaffen sein müssen.
Was ist gerecht? Diese Frage ist so alt wie die Menschheit selbst. Immer wieder gab und gibt es Überlegungen darüber, wie Güter in einer Gesellschaft verteilt werden, wenn mehr als eines oder gar jedes Mitglied der Gesellschaft Interesse an diesen Gütern hat. Ob es sich bei diesen Gütern um materielle Größen handelt wie Nahrungsmittel, Geld, Wohnraum oder um immaterielle Größen wie Bildung oder Mitspracherechte, ist dabei zunächst egal.
Eine Theorie der Gerechtigkeit ist wichtig für eine Welt, in der es keine grenzenlose Erfüllung aller Wünsche und Bedürfnisse gibt. Gäbe es Letzteres, bräuchte es keine Gerechtigkeit. Denn bei Gerechtigkeit geht es um die Verteilung von begrenzten Gütern, um Verfahrensregeln für diese Verteilung und um gerecht agierende soziale Institutionen. Da wir aber in keiner Welt mit grenzenloser Erfüllung aller Bedürfnisse leben, müssen wir klären, was gerecht ist.
John Rawls hat sich dieser Frage mit einem spannenden Gedankenexperiment genähert. Er überlegt, wie freie und vernünftige Menschen über eine gerechte Güterverteilung entscheiden würden, wenn sie mit einem Schleier des Nichtwissens umgeben wären. Die Menschen in dieser Situation wissen weder, mit welchen Talenten und Begabungen sie ausgestattet sind, noch, ob sie reich oder arm, mächtig oder einflusslos sind. Sie wissen zwar um die gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre aktuelle gesellschaftliche Position ist ihnen aber unbekannt.
In diesem Urzustand sollen nun alle Mitglieder der Gesellschaft darüber beraten, wie eine gerechte Gesellschaftsordnung aussehen könne, der sich alle Mitglieder der Gesellschaft freiwillig anschließen würden.
Die Idee hinter dem Schleier des Nichtwissens ist, dass nun solche Regeln gesucht werden, die für alle in der Gesellschaft und die gesamte Gesellschaft vorteilhaft sind; nicht nur für diejenigen, die bestimmte gesellschaftliche Positionen innehaben. Denn niemand kennt seinen Platz in der Gesellschaft. Es ist also durch den Schleier des Nichtwissens möglich, Regeln und Verteilungsmechanismen herbeizuführen, denen jeder zustimmen kann, unabhängig von ihrem/seinem Platz in der Gesellschaft.
Fest steht allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit, in einer wenig privilegierten Position zu leben, recht hoch ist. Wenn man sich die Welt (und ihre Güterverteilung) anschaut, so wie sie ist, ist die Zahl der weniger Privilegierten höher als die Zahl der Privilegierten. Das legt nahe, dass die Regeln, die in einem solchen Zustand Zustimmung finden, eher denjenigen zu Gute kommen, die wenig begünstigt sind.
Einen solchen Urzustand hat es nie gegeben und es wird ihn wohl auch nie geben. Und trotzdem ist es wertvoll, sich ihn vorzustellen. Mit ihm können Gerechtigkeitsprinzipien entwickelt werden, die zwar die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten reflektieren, aber die Stellung des Einzelnen in dieser Gesellschaft ausblenden und so einen für alle Mitglieder der Gesellschaft zustimmungsfähigen Konsens darstellen. Weil die Bedingungen für das Aushandeln eines solchen Konsenses im Urzustand fair sind, kann diese Theorie auch als „Gerechtigkeit als Fairness“ bezeichnet werden.
Die Beratungen im Urzustand sind davon geprägt, dass die Menschen grundsätzlich zu vernünftigem Handeln und zu Kooperation in der Lage sind. Zwar konkurrieren alle Menschen um die gleichen begrenzten Güter. Aber sie haben auch gleiche Interessen wie das Bedürfnis nach Frieden, Sicherheit oder Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Die Fähigkeit, einen Gerechtigkeitssinn und gerechte Lösungen zu entwickeln, ist bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen vorhanden. Damit orientiert sich Rawls an einem realistischen Menschenbild, wie es der Philosoph Immanuel Kant entworfen hat: Menschen sind nicht per se gut oder schlecht, aber sie sind zu vernunftorientiertem Handeln und zur Verständigung in der Lage. Sie würden auf dieser Grundlage sogar Einschränkungen akzeptieren, die sich für ihre Bedürfnisse und Ziele durch allgemein verabredete Gerechtigkeitsgrundsätze ergeben würden.
In einem solchen vernünftigen Prozess des Aushandelns und Abwägens unter fairen Bedingungen würden sich zwei Grundsätze ergeben:
„Erster Grundsatz
Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
Diese Gerechtigkeitsgrundsätze beziehen sich auf die Zuweisung von Rechten und Pflichten in einer Gesellschaft und auf die Verteilung gesellschaftlicher Güter. Der Anspruch ist dabei hoch. Unser Handeln und unsere Lebensweise sollen diesen Grundsätzen jederzeit entsprechen; egal, an welcher Position wir uns in der Gesellschaft befinden (489).
Der erste Grundsatz bezieht sich auf gleiche individuelle Rechte. Damit sind zum Beispiel politische Freiheitsrechte wie Wahlfreiheit oder Versammlungsfreiheit, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf persönliches Eigentum gemeint. Es geht um gleiche Rechte und Freiheiten, frei von Diskriminierungen.
Der zweite Grundsatz bezieht sich auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und auf den Zugang zu Positionen, die mit unterschiedlich viel Macht und Verantwortung einhergehen. Hier würde im Urzustand immer eine solche Verteilungsregel gewählt, die den am wenigsten Begünstigten zugutekommt, weil man sich unter dem Eindruck des Nichtwissens auch mit der Vorstellung auseinandersetzen muss, selbst zu den am wenigsten Begünstigten zu gehören.
Die beiden Grundsätze stehen zueinander in lexikalischer Ordnung. Das bedeutet, dass der erste Grundsatz dem zweiten Grundsatz vorgeht. Größerer Nutzen in wirtschaftlicher Hinsicht darf nicht zur Verletzung der im ersten Grundsatz benannten gleichen Grundfreiheiten führen. Rawls formuliert deutlich: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.“ (19) Die Würde des Menschen ist, in Anlehnung an Kant, über allen Preis erhaben.
Während es bei dem ersten Grundsatz um ein Gleichheitsprinzip geht, ist bei dem zweiten Grundsatz durchaus eine ungleiche Verteilung möglich. Unterschiede in der Verteilung von Einkommen und Vermögen sind dann möglich, wenn die am wenigsten Begünstigten davon profitieren. „Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch auch den nicht so Begünstigten besser geht“, so Rawls (32).
Eine Verteilung gesellschaftlichen Reichtums nach Verdienst ist demgegenüber nicht durchführbar. Denn wie hoch der Verdienst ist, das hängt von Umständen ab, die nicht mit dem Einzelnen und seiner Leistung zusammenhängen. So können sich Angebot und Nachfrage nach einer Tätigkeit erheblich auf Löhne auswirken, ohne dass sich die Leistung des Einzelnen verändert.
Der im zweiten Grundsatz benannte Spargrundsatz bezieht sich auf eine Gerechtigkeit über Generationen hinweg. Denn es geht nicht nur darum, im Hier und Jetzt nur solche Ungleichheiten zuzulassen, von denen die am wenigsten Begünstigten profitieren, sondern auch um nachfolgende Generationen. Auch künftige Entwicklungen müssen im zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz eingepreist sein. Der rücksichtlose Verbrauch von Ressourcen, der dazu führt, dass spätere Generationen in ihrer Ressourcennutzung schlechter gestellt werden, ist deshalb abzulehnen.
Die Gerechtigkeit als Fairness grenzt sich von zwei wichtigen Gerechtigkeitsideen ab. Erstens bezieht sie sich nicht auf eine göttliche oder von Gott gewollte Ordnung. Die Vorstellung, dass die Gesellschaft, so wie sie ist, von Gott geschaffen sei und deshalb auch zu akzeptieren sei – trotz aller Ungerechtigkeiten – wird faktisch abgelehnt. Denn nun beraten freie und aufgeklärte Menschen über Gerechtigkeitsprinzipien. Zweitens wird hier die Vorstellung abgelehnt, dass sich Ideen für die gesellschaftliche Ordnung immer daran orientieren müssen, dass der größte Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes verfolgt wird. Im Gegenteil: Es gibt Rechte des Einzelnen, die auch bei größten Vorteilen für die gesamte Gesellschaft nicht verletzt werden dürfen.
In einer wohlgeordneten Gesellschaft sind die genannten Gerechtigkeitsgrundsätze öffentlich bekannt. Jeder kennt sie und weiß, dass sie auch von anderen anerkannt werden und dass die gesellschaftlichen Institutionen diesen Grundsätzen entsprechen. Wichtig ist, dass jeder und jede in der Gesellschaft die Chance hat, am politischen Leben teilzunehmen und mitzuwirken.
Maßgebliche Institutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft, die gleiche Freiheit verwirklichen kann, sind die Institutionen einer verfassungsgemäßen Demokratie. Die politischen Grundfreiheiten sind dort für alle zu verankern und das politische Geschehen gerecht zu organisieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Gesetzesherrschaft. Gesetze sind Zwangsregeln, die allen anderen Teilsystemen der Gesellschaft Vorschriften machen. Wenn sie gerecht sind, sind sie nicht nur eine stabile Grundlage für das Zusammenleben, sondern auch für berechtigte gegenseitige Erwartungen und gegenseitiges Vertrauen.
Während Rawls enge Vorgaben für die politisch-institutionelle Ordnung gibt, sind seine Festlegungen in Bezug auf die Wirtschaftsverfassung einer gerechten Gesellschaft offener. Sowohl ein marktwirtschaftlich geordnetes System als auch ein freiheitliches, sozialistisches System ist vorstellbar; und zwar so lange das Ziel verfolgt wird, die langfristigen Aussichten der am wenigsten Bevorzugten unter den Bedingungen der fairen Chancengleichheit zu maximieren und die gleichen Freiheiten für alle zu wahren.
Eine besondere Rolle im Wirtschaftssystem übernehmen der öffentliche Sektor und die öffentlichen Güter. Sie sind öffentlich und unteilbar in dem Sinne, dass jeder von diesem Gut haben möchte. Der Staat kann und muss ihre Bereitstellung und Finanzierung durchsetzen. Steuern oder Abgaben, die letztlich auch mit Zwang erhoben werden, sind dafür ein angemessenes Instrument, denn jeder möchte sicher sein, dass sich auch andere an die gesellschaftlichen Regelungen halten. Freiwillige Spenden oder Ähnliches würden dieses Wissen nicht erzeugen.
Der Einzelne hat in einer gerechten Gesellschaft die Pflicht, den vorhandenen gerechten Institutionen zu gehorchen und – wenn nötig – neue gerechte Institutionen zu schaffen. Jedermann hat das zu tun, was die gerechte Ordnung von ihm verlangt. Diese Pflicht zur Gerechtigkeit ist wichtig, weil sie verhindert, dass wir uns nur dann an die gerechte Ordnung und ihre Grundsätze halten, wenn wir persönlich davon profitieren. „Unsere Lebensweise muss ohne Rücksicht auf unsere besonderen Verhältnisse jederzeit den unabhängig davon festgelegten Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechen.“ (489)
Dies schließt auch die Pflicht zur gegenseitigen Hilfe ein, und zwar nicht nur, weil wir selbst in Situationen kommen können, in denen wir Hilfe brauchen, sondern auch, weil es einen großen Einfluss auf die Qualität unseres täglichen Zusammenlebens hat, wenn wir von wechselseitiger Hilfe ausgehen können. Auch deshalb ist eine gerechte Gesellschaft eine stabile Gesellschaft.
Rawls hat die Debatte darüber, was Gerechtigkeit eigentlich ist und wie sie ausgestaltet werden kann, nicht nur neu belebt, sondern auch anhaltend geprägt. Sein Titel ist heute ein absoluter Klassiker, wenn es um Gerechtigkeitsfragen geht. Libertäre Denker wie Robert Noszik haben entsprechend große Anstrengungen unternommen, um Rawls zu entkräften und einen Gegenentwurf zu präsentieren.
Und tatsächlich kann aus unterschiedlichen Perspektiven Kritik an Rawls geübt werden. Der Urzustand ist ein theoretisches Konstrukt. Man kann nicht von der eigenen Situation absehen. Auch Fragen der Geschlechtergerechtigkeit werden bei Rawls kaum berührt.
Gleichwohl prägt das Buch nach wie vor maßgeblich die Debatte um Gerechtigkeit und damit auch die Programmatik der Parteien, die sich eine gerechte Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben haben. Was durch Rawls neben vielem anderen für die konkrete politische Praxis bleibt, sind zwei Fragen: Erreichen wir wirklich das Maximum möglicher, gleicher Freiheitsrechte? Und nützen die Ungleichheiten in der Güterverteilung tatsächlich den am wenigsten Begünstigten? Jede politische Maßnahme muss sich daran messen lassen.