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Kurzgefasst und eingeordnet vonAnne-Kathrin Weber – Anne-Kathrin Weber ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk und schließt gerade ihre politiktheoretische Promotion über die politische Wirkmächtigkeit von Mitgefühl, Mitleid und Empathie ab.
Die Idee der Chancengleichheit ist kein Mittel, um mehr Gleichheit zu erzeugen – die gegenwärtige Bildungsideologie ist ein neoliberales Konstrukt, mit dem verschleiert werden soll, wie es um die Gleichheit als umfassendes gesellschaftspolitisches Projekt eigentlich steht: nämlich schlecht. Wir brauchen daher eine radikale egalitäre Vision, nicht nur für den Bildungssektor, sondern für unser gesamtes Leben. Ziel muss es sein, die zunehmende Individualisierung zu stoppen und stattdessen unser politisches Handeln stärker entlang kollektiver Verantwortung, Planung und Teilhabe zu orientieren.
Die Anliegen von Arbeiter_innen sind im Kapitalismus kaum repräsentiert. Stattdessen befördert die Wettbewerbsmaxime politischen Klassizismus, soziale Ungleichheit und wirtschaftlichen Machtmissbrauch der Eliten – und damit den Verfall der Demokratie. Um diese Missstände zu beheben, sollten wichtige Grundgüter unter zentrale Planung gestellt und entsprechende Sektoren vergesellschaftet werden. Das Genossenschaftswesen ist ein weiteres mögliches Instrument, um das Ziel materieller Gleichheit langfristig zu erreichen. Vor allem aber müssen Arbeiter_innen wieder angemessen von der Politik repräsentiert werden und am politischen Prozess beteiligt werden – ein Prozess, der weniger von der defizitären Parteienherrschaft als von basisdemokratischer Deliberation geprägt sein sollte.
César Rendueles, 1975 in Girona geboren, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid. Er ist auch als Essayist und Kulturjournalist tätig, u.a. für die größte spanische Tageszeitung El País.
Wir alle wollen unter Gleichen leben – das ist ein „Distinktionsmerkmal der Menschheit“. Und doch wird dieses Bedürfnis systematisch missachtet und zerstört. Denn wir leben in Zeiten des Kapitalismus und damit in einer „elitären Dystopie“, die durch wachsende Ungleichheit geprägt ist und die fatale Folgen für uns hat: Sie beschädigt und vernichtet die Bindungen, die für unser Menschsein unerlässlich sind, und sie hinterlässt auch deutliche Spuren im Individuum:
„Es ist, als würde die Ungleichheit uns in die Knochen kriechen.“
Das Bedürfnis, als Gleiche zusammenzuleben, ist dabei als kollektives Ziel an sich zu verstehen, das aber auch das Wesen der Demokratie ausmacht. Von diesem Egalitätsbestreben entfernen wir uns jedoch immer weiter: Das kapitalistische Individualitätsideal hat den Wunsch nach Gleichheit seit den 1970er-Jahren systematisch verdrängt – so weit, dass wir oft gar nicht mehr wissen, was Egalität eigentlich bedeutet.
Um wieder mehr Gleichheit in unserer Gesellschaft zu schaffen, muss unter anderem der Arbeitsmarkt umgestaltet werden, der insbesondere für die Arbeiter_innenklasse von Ausbeutung und Ausschlussmechanismen geprägt ist. Historisch betrachtet können wir auf ein gewisses Repertoire an Werkzeugen zurückblicken, die auf mehr materielle Gleichheit abzielen, zum Beispiel auf Tarifverhandlungen, den Zusammenschluss in Gewerkschaften oder Genossenschaften – die allerdings kaum mehr gesellschaftspolitische Schlagkraft besitzen:
„Jedes Scheitern betrachten wir als unwiderlegbaren Beweis dafür, dass kollektives Handeln auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen unmöglich ist. Es fällt uns schwer zu begreifen, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür nicht existieren. Deshalb verstehen wir Gleichheit als das Recht, die Privilegien der Eliten zu genießen, und nicht als unsere Pflicht, mit den uns Gleichen zu teilen.“
Einige Instrumente sind für den heutigen Arbeitsmarkt tatsächlich nicht mehr geeignet – andere wiederum schon: Neben Kollektivverhandlungen, freiwilliger Arbeit und Einkommensdeckel verspricht auch die „aggressive Vergesellschaftung strategischer Wirtschaftssektoren“ dazu beizutragen, mehr materielle Gleichheit für und über den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Versorgung mit essenziellen Grundgütern sollte daher zentral geplant und darüber für alle gesichert sein.
Der zunehmende Individualismus, den die Marktkräfte forcieren, steht einem gemeinsamen Engagement in kollektiven Strukturen diametral entgegen. Es braucht daher einen entschiedenen, auch einschneidenden politischen Kampf für die egalitäre Vision:
„Es reicht weder, die Bedingungen zu verbessern, unter denen wir am Spiel der Marktkräfte teilnehmen, noch die Spielregeln zu modifizieren: Das Spiel selbst muss geändert werden. Wenn man die Gleichheit als Nebenprodukt einer auf Versöhnung abzielenden Politik versteht, die zwar mit tiefgreifenden Veränderungen einhergeht, aber große gesellschaftliche Erschütterungen vermeidet, dann verzichtet man von vorneherein auf die Gleichheit.“
Allerdings steht jedes realistische egalitäre Projekt vor dem Problem, gleichzeitig soziale Bindungen und kollektives Handeln fördern zu wollen und dem modernen Freiheitsversprechen für das Individuum Rechnung tragen zu müssen. Außerdem sind kollektive Zusammenschlüsse oft davon geprägt, dass andere ausgeschlossen werden, weil sie nicht der jeweiligen herrschenden Gruppe angehören. So stammen nur wenige Politiker_innen aus einfachen Verhältnissen, ergo werden die Anliegen von Arbeiter_innen kaum ernsthaft adressiert. Dieser Klassizismus ist auch innerhalb der politischen Linken verbreitet.
Statt einer Parteienherrschaft als „Misthaufen der Demokratie“ empfehlen sich daher politische Instrumente, die auf direktere Partizipation und Deliberation abzielen – und die im Alltag immer und immer wieder eingeübt werden müssen:
„Deliberation ist nicht nur ein Verfahren, sondern auch eine Sozialisationserfahrung, die sich in sehr unterschiedlichen Zusammenschlüssen entfaltet: in gewerkschaftlichen, politischen und kulturellen Organisationen, aber auch in Nachbarschafts- und Sportvereinen. Die soziale Praxis, Argumente gegenüber Personen vorzubringen, die wir als Gleiche anerkennen, ist eine Form, richtigere und legitimere Entscheidungen zu treffen, aber auch ein Instrument, um die politische Gleichheit im sozialen Leben materiell werden zu lassen.“
Neben kollektiv bindenden Deliberationsprozessen ist auch die Bürokratie ein wichtiges Werkzeug für das egalitäre Projekt, denn sie kann, richtig eingesetzt, Gleichbehandlung fördern.
Die Hoffnung auf eine egalitärere Zukunft wird oft auf den Bildungssektor projiziert – allerdings hat die politische Rechte dafür gesorgt, dass soziale Ungleichheit dort nach wie vor an der Tagesordnung ist und repliziert wird. So glauben wir, dass das Konzept der Chancengleichheit ein befriedigender Ausdruck von egalitären Verhältnissen ist. Diese „Bildungsideologie“ ist aber ein „diskursives Placebo“; Maßnahmen, die beispielsweise darauf abzielen, die Schüler_innenschaft entlang von vermeintlichen Leistungsparametern aufzuteilen, wirken letztlich als „kostengünstiges Surrogat elitärer Distinktionsmechanismen, die mit einer Rhetorik von Mühen und Exzellenz aufgehübscht werden“.
Bei der Chancengleichheit geht es also letztlich nicht eigentlich um den Wettbewerb an sich, der damit legitimiert wird, sondern um das Monopol auf Privilegien der Wohlhabenden, die diese damit rechtfertigen können.
Es ist an der Zeit diese Verschleierungstaktik offenzulegen und für eine alternative Art und Weise des Zusammenlebens einzutreten. Wir brauchen keine Chancengleichheit – wir brauchen eine Vision und breites Engagement für ein wirklich egalitäres Projekt, das die Verpflichtungen füreinander nicht leugnet, sondern anerkennt und fördert. Bildung ist dabei nicht als Weg zu verstehen, um Gleichheit zu fördern, sondern Gleichheit dazu zu nutzen, um die bestmögliche Bildung zu ermöglichen, und zwar für alle.
Aber nicht nur die Bildungseinrichtungen sind zu demokratisieren und egalisieren, sondern auch der Kulturbetrieb, in dem seit jeher kollaborative Praktiken gelebt werden:
„Wir machen Musik, damit andere die hören können, wir hören mit anderen Musik und sprechen über unsere Vorlieben, wir schreiben, um gelesen zu werden, sind – formal oder auch nicht – Teil von Leserinnengemeinschaften […], wir gehen an Orte, an denen wir zur selben Musik mit anderen tanzen etc. All das hinterlässt tiefe Spuren in unserer gemeinsamen Identität, es schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv von Gleichen.“
Allerdings ist es bislang zu wenig gelungen, die Kultur wirklich in den Alltag zu integrieren und damit für alle zugänglich zu machen. Denn genau hier, im alltäglichen und geteilten Leben, zeigt sich die „Magie revolutionärer Transformationsperioden“ – eine Magie, auf die es im Sinne der egalitären Vision hinzuarbeiten gilt.
Vergesellschaftung, Planung, Bürokratie: Mit Schlagwörtern wie diesen sorgt César Rendueles in seinem von ihm selbst so genannten „Pamphlet“ dafür, dass eine Reihe seiner Leser_innen – auch die progressiven – bei der Lektüre in Schnappatmung verfallen könnten. Tatsächlich erscheinen einige seiner Vorschläge dafür, wie unser Zusammenleben egalitärer werden soll, durchaus radikal. Dem Autor gelingt es dabei meisterlich aufzuzeigen, dass es uns kaum noch gelingt, uns Alternativen überhaupt nur vorzustellen. Das gilt laut Rendueles auch und vielleicht gerade für die politische Linke, der er selbst angehöre. Schonungslos legt er Widersprüche und Doppelmoral linker Politiken offen, die insbesondere das Kernklientel, die Arbeiter_innen, betreffen.
Wie wir mehr Gleichheit erreichen können, darüber lässt sich mithilfe dieses Buches auch und vor allem aus einer sozialdemokratischen Perspektive vortrefflich streiten – nicht aber darüber, dass wir genau das tun sollten. Denn im Grunde ist das, was der spanische Soziologe mit seiner durchaus polarisierenden und mit scharfer Feder geschriebenen, aber sehr lesens- und denkwerten Vision einer egalitären Welt anregt, eigentlich gar nicht so extrem: dass wir uns nämlich auf unser Gebundensein besinnen, also darauf, dass wir Verantwortung und Verpflichtung gegenüber anderen haben – und dass die Bedürfnisse und Anliegen aller in einer Demokratie gleiches Gewicht haben sollten.
Verlag: SuhrkampErschienen: 26.09.2022Seiten: 329ISBN:978-3-518-02980-0