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Kurzgefasst und eingeordnet von Anne-Kathrin Weber – Anne-Kathrin Weber ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk und schließt derzeit ihre Promotion in Politischer Theorie ab.
Die beste Antwort auf multiple politische Krisen der Gegenwart ist eine liberale. Das ist die These Christoph Möllers, der angesichts von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, Pandemie und Klimakatastrophe den Versuch unternimmt, den politischen Liberalismus zu verteidigen. Ausgehend von den verschiedenen Strängen, den Ambivalenzen und Mängeln der liberalen Tradition legt der Autor einen eigenen Theorieentwurf vor – die sogenannte „Ordnung der Freiheitsgrade“. Damit sei politische Freiheit auch angesichts der aktuellen Herausforderungen möglich und sinnvoll.
Christoph Möllers plädiert entschieden gegen eine liberale Politik aus der Mitte heraus – eine Mitte, die Gefahr laufe, das spezifisch Politische zu entpolitisieren. Für die Soziale Demokratie bietet das Buch dahingehend provokante Denkanstöße. Gleiches gilt für die Frage, ob, in welchem Ausmaß und in welcher Form soziale Ungleichheit unter sozialliberalen Vorstellungen vertretbar oder sogar wünschenswert ist.
Verlag: Suhrkamp VerlagErschienen: 27.09.2020Seiten: 343ISBN: 978-3-518-12755-1
Christoph Möllers, Jahrgang 1969, ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem ist er Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Was (alles) ist „liberal“? (Begriffs-)historische Vielfalt und Ambivalenzen
Es gibt unzählige liberale Dogmen, die nicht nur die Vielfalt der Begriffsgeschichte widerspiegeln, sondern durchaus widersprüchliche Elemente und Positionen beinhalten. Allenfalls sind sie durch eine „Familienähnlichkeit“ gekennzeichnet.
Diese Liberalismen können anhand verschiedener Grundfragen charakterisiert und eingeordnet werden. Eine davon ist die Frage, vor wem sich Liberale mehr fürchten müssen: vor der Macht der anderen oder vor einer politischen Herrschaft, die diese anderen kontrolliert. Dieses Spannungsverhältnis stellt die „emotionale Grundambivalenz“ des Liberalismus dar. Das Verhältnis zum Staat ist daher entscheidend. Denn das Gros liberaler Dogmen sieht zwar vor, dass individuelle Freiheit staatlich durchgesetzt und abgesichert wird, zeichnet sich aber gleichzeitig durch eine große Skepsis gegenüber Politik aus.
Das Individuum steht oftmals im Zentrum neuerer politischer Liberalismen. Und doch kann es, politisch gesehen, nur in Verbindung mit politischen Gemeinschaften gedacht werden. In einem wechselseitigen Verhältnis ist das Individuum auf eine politische Gemeinschaft angewiesen, damit seine individuellen Freiheitsrechte durchgesetzt und geschützt werden. Diese wirken wiederum auf ein liberalen Prämissen entsprechendes Gemeinwohl zurück.
Diese Relevanz der kollektiven Ebene für den Liberalismus auszublenden, ist politikfern und entspricht nicht der liberalen Tradition. Auch die traditionelle Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hat weiterhin Bestand: Das Private muss unbedingt als „rechtsfreier“ Raum existieren. Problematisch wird es, wenn das Öffentliche durch zu viele private Einflüsse vereinnahmt und damit entpolitisiert wird.
Wie die Sphärentrennung ist auch soziale Ungleichheit im liberalen Denken kein Mangel, den es zu beheben gilt. Sie kann dazu beitragen, dass sich bestehende Verhältnisse im öffentlichen Raum verändern. Das ist für eine liberale politische Ordnung von Vorteil, solange daraus nicht Armut, persönliche Abhängigkeit und Korruption resultieren, die liberale Grundideale bedrohen. Der Preis, den Gesellschaften für soziale Ungleichheit zahlen, ist allerdings hoch. Ungleichheitsprämissen müssen daher politisiert und stets kritisch überprüft werden.
Viele Probleme, die auf sozialer Ungleichheit beruhen, werden zwar durch den Kapitalismus verschärft. Allerdings schafft er freiheitliche Potenziale und befriedigt Bedürfnisse zuweilen äußerst effektiv. Das Verhältnis des Liberalismus zum Kapitalismus ist daher ambivalent besetzt – genauso wie dasjenige zwischen Kapitalismus und Sozialer Demokratie, die einige liberale Strukturelemente beinhaltet.
Mit dem Begriff der „Freiheitsgrade“ wird ein Bild aus der Mechanik aufgegriffen, um damit eine gegenwarts- und zukunftsfähige liberale Ordnung zu skizzieren:
„In der Mechanik beschreibt der Begriff des ‚Freiheitsgrads‘ die Zahl der voneinander unabhängigen Bewegungsmöglichkeiten eines Körpers.“
Politische Freiheit offenbart sich demnach darin, dass sich Menschen innerhalb dreier weitreichender Dimensionen frei bewegen und entfalten können: a) zwischen den Polen individueller und gemeinschaftlicher Freiheit, b) im Spielraum zwischen rationalen und rein willkürlichen Entscheidungen und c) im Rahmen sowohl formalisierter als auch informeller politischer Praxis.
Zur ersten Dimension politischer Freiheit: In einer genuin liberalen politischen Ordnung stehen die individuelle und die gemeinschaftliche Freiheit gleichberechtigt nebeneinander und sind voneinander abhängig. Individuelle Freiheit ist nicht das Verdienst Einzelner, sondern ein Produkt der Gemeinschaft.
Der Bezug auf die Gemeinschaft bedeutet allerdings nicht, dass damit Ungleichheit zwischen den Einzelnen um jeden Preis nivelliert werden sollte:
„Statusgleichheit, die Anerkennung als rechtsfähige Bürgerin, ist der formalisierte und fixe Punkt, an den informelle bewegliche Praktiken der Ungleichheit anschließen können, etwa ungleich Gewolltes wie Präferenzen und ungleich Gekonntes wie verschiedene Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu nutzen.“
Aus dieser Ungleichheit ergibt sich ein großes Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt – wenn denn stets aufs Neue überprüft wird, dass sie zumutbar ist und die Freiheitsausübung der Einzelnen nicht grundsätzlich behindert. Außerdem darf der Zugang zu wirtschaftlichen Gütern nicht dazu führen, dass politische Macht erlangt wird, über die die einen verfügen, andere aber nicht. Das Private – auch privates Eigentum – ist vom Politischen zu trennen.
Das bedeutet aber wiederum auch, dass nicht alles politisch ist und sein kann. Diese Sphärentrennung sichert die Distanz politischer Herrschaft gegenüber sozialen Interessen und Praktiken ab, denn der öffentliche Raum sollte von genuin politischen Positionen geprägt sein. Auch diese Grenzziehung muss immer wieder überprüft werden.
Forderungen, die oft abwertend unter dem Stichwort „Identitätspolitik“ genannt werden, sind allerdings durchaus als politisch einzuordnen:
„Wenn sich Individualität nur als Leistung einer Gemeinschaft verstehen lässt, dann ist der Schutz von Gemeinschaften, seien sie sprachlich, kulturell oder religiös, Bedingung der Möglichkeit individueller Freiheit.“
Gestärkt wird diese anerkennende Haltung gegenüber Emanzipationsbewegungen auch durch die These, dass eine liberale Gemeinschaft den Menschen als „Körperperson“ verstehen muss: Körperliche Bedürfnisse gilt es zu berücksichtigen und zu befriedigen. Hierbei kommt die zweite Dimension der „Freiheitsgrade“ zum Tragen. Demnach sind auch willkürliche Entscheidungen zu respektieren, die nicht rational durchdrungen sind und beispielsweise aufgrund körperlicher Bedürfnisse getroffen werden.
Die dritte Dimension politischer Freiheit – die sowohl formalisierte als auch informelle politische Praxis umspannt – äußert sich unter anderem darin, dass Politik nicht nur auf institutioneller Ebene gestaltet wird. Auch wenn Institutionen für eine „Ordnung der Freiheitsgrade“ essenziell sind, liegt es aus dieser liberalen Perspektive heraus doch schließlich an den Einzelnen, sich selbst innerhalb und außerhalb von institutionellen Strukturen aktiv politisch zu betätigen.
Politik sollte allerdings nicht als Idealismus oder moralisches Engagement verstanden werden. Sie ist – aus liberaler Sicht – Ausdruck einer respektvollen Verantwortung dafür, das Gemeinwohl im Sinne liberaler Freiheiten zu gestalten. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass eigene Erfolge immer auch auf gesellschaftliche Umstände zurückzuführen sind.
Aus einer politischen Mitte kann – formalisierte oder informelle – Politik jedoch langfristig nicht erfolgreich sein, da diese Mitte eine entpolitisierende Wirkung entfaltet.
„Liberale reagieren [..] auf die Herausforderungen aktueller Politik häufig damit, sich in eine imaginierte politische Mitte zu setzen – um damit im Ergebnis Politik zu vermeiden.“
Daraus folgt, dass sich der Liberalismus eindeutig entweder als Links- oder Rechtsliberalismus positionieren sollte – und das nicht unbedingt in einer eigenen Partei:
„Das liberale Projekt ist in den Flügeln anderer Parteien aufgehoben und dort in manchen Konstellationen einflussreicher als in einer eigenen Kleinpartei.“
Diese Polarisierung in Links- und Rechtsliberalismus ist wichtiger Ausdruck von Freiheit einer politischen Gemeinschaft, die im Ganzen als liberal verstanden werden sollte. Geschützt und begrenzt werden muss sie durch eine Verfassung. Das ist beispielsweise eine der Stärken der EU, die durch formale Regeln zusammengehalten wird.
Politiken, die sich an den „Freiheitsgraden“ orientieren, bieten gute Antwortmöglichkeiten auf multiple Krisen, die politische Systeme aktuell bewältigen müssen – vor allem Rechtspopulismus und -extremismus, Pandemie und Klimakrise.
Gegen die populistischen und extremistischen Bewegungen von rechts wird oft der Liberalismus als Gegenpol ins Gespräch gebracht – das kann jedoch die Gefahr mit sich bringen, dass sich alle anderen letztlich nicht mehr als eine „Notgemeinschaft der Systemanhänger“ verstehen. Eine klare eigene inhaltliche Positionierung im links- oder rechtsliberalen Spektrum ist auch hierfür notwendig.
Auf den Begriff des „Volkes“ darf sich in der Gestaltung dieser links- oder rechtsliberalen Politiken aus taktischen Gründen durchaus berufen werden – allerdings muss dieser Begriff zwingend durchlässig und veränderbar sein. Und auch wenn die Auffächerung eines politischen Systems nach links und rechts Ausdruck von politischer Freiheit ist, darf Extremist_innen keine Bühne geboten werden. Denn ein öffentliches Gespräch bestätigt und hofiert diesen Extremismus.
„Wenn sich alles ohne Reibung öffentlich sagen lässt, befeuert das den Diskurs. Es beginnt die öffentliche Herrschaft der privaten Ungezogenheit.“
Selbsternanntes „Querdenken“ fällt allerdings nicht automatisch unter extreme Meinungsäußerung – im Gegenteil: Die Stimmen derjenigen, die gegen die politischen Maßnahmen gegen Covid-19 protestieren, sind wichtig für das Fortbestehen demokratischer Politik in der Pandemie. Denn diese hat deutliche Missstände in der öffentlichen Herrschaft offengelegt – allen voran die mangelnden rechtlichen Grundlagen von Kontaktsperren und Freiheitsentzug:
„Man muss in diesem Vorgehen keine autoritäre Machtergreifung erkennen, um es für verstörend zu halten. Die Einhaltung von rechtlichen Formen ist eben auch eine Art, sich das Vertrauen der Betroffenen zu verdienen.“
Anderen zu begegnen und sich weiterhin dort aufzuhalten, wo man möchte – das ist ein aus pandemischer Sicht zwar unvernünftiger, aber dennoch legitimer Ausdruck individueller Freiheit. Er ist auch auf die eigene Körperlichkeit zurückzuführen, die eine liberale Politik präventiv und situativ berücksichtigen muss.
Das erfordert langfristiges Denken, das oft mit kurzfristig angelegter Politik in Konflikt steht; Letztes ist darauf ausgerichtet, konkrete Bedürfnisse zu befriedigen. Die Folgen hiervon sind im politischen Umgang mit der Klimakrise ersichtlich. Um dieser globalen Herausforderung angemessen zu begegnen, sind nicht nur formale Regeln vonnöten, sondern auch ein proaktiveres Engagement, den nötigen Wandel zu vollführen.
Mit Freiheitsgrade hat Christoph Möllers eine theoretisch dichte Auseinandersetzung über den politischen Liberalismus vorgelegt, die sich an vielen Stellen an der liberalen Tradition reibt. Gleichzeitig greift sie daraus Elemente für den eigenen Theorieentwurf auf und aktualisiert das liberale Projekt auf gleichsam originelle und profunde Weise.
Auch wenn sich einige der Thesen Möllers im Zuge der Bundestagswahl 2021, konkret der guten Wahlergebnisse der SPD und der FDP, zumindest aktuell nicht bewahrheitet haben, besticht das Buch mit seinem markanten Plädoyer gegen die politische Mitte – eine Mitte, in der sich die Soziale Demokratie gut eingerichtet hat. Der Autor fordert zudem entschieden dazu auf, sich politisch einzubringen, um demokratische Politik mitgestalten zu können.
Politische Beteiligung ist nach dieser Interpretation allerdings ein nüchterner und ideologiefreier Prozess. Durchaus streitbar ist Möllers’ These, dass Freundlichkeit und Empathie in der Politik ungeeignet sind. Damit reiht sich der Autor zwar in das Gros der liberalen Tradition ein; aber gerade diese patriarchal geprägte Exklusion weiblich konnotierter Fähigkeiten sollte ein aktualisierter und durchaus progressiver liberaler Theorieentwurf kritisch hinterfragen.
Die mosaikartig präsentierten Thesen des Autors bieten insgesamt viele Anknüpfungs- und einige Reibungspunkte für die Soziale Demokratie, die es auszuhalten und auszudiskutieren gilt. Dazu gehört vor allem der Aspekt der Sozialen Ungleichheit, die laut Möllers durchaus Motor für Veränderung ist und sein sollte, deren Parameter aber immer wieder aufs Neue besprochen und angepasst werden müssten.