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Eva von Redecker: Bleibefreiheit

Verlag S. Fischer, Berlin (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hanna Fath
Hanna Fath hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Sie ist Stipendiatin des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München und arbeitet derzeit als freie Journalistin.


buch|essenz

Kernaussagen

Eva von Redecker entwirft mit „Bleibefreiheit“ einen neuen Freiheitsbegriff für die postmoderne Welt. Der Ausgangspunkt ihrer Argumentation besteht in der Kritik, dass Freiheit bisher vor allem räumlich verstanden wurde, also als Reisefreiheit und als Areal der freien Entfaltung des Individuums. Dagegen plädiert von Redecker für eine Verzeitlichung des Freiheitsbegriffs: Es geht nicht mehr um Raumbeherrschung, sondern darum, unsere Freiheit in der Zeit zu bewahren und eine neue Zukunftsfähigkeit zu entwickeln. Dementsprechend identifiziert von Redecker zusätzlich zur räumlichen Dimension drei weitere Ursprünge von Freiheit: erstens unsere Sterblichkeit und unser Verhältnis zu der von uns gestaltbaren Lebenszeit; zweitens die Möglichkeit, radikale Brüche zu begehen und Neuanfänge zu gestalten; und drittens die Befreiung als einen sozialen Akt, der mehr Selbstbestimmung für alle verspricht. Bezogen auf unsere Gegenwart diagnostiziert von Redecker, dass der negative und antisoziale Freiheitsbegriff der liberalen Tradition angesichts der apokalyptischen Krisen und bedrohten Lebensgrundlagen an seine Grenzen stößt: Einen Ort zu haben, den man beleben und intakt halten kann, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die räumliche Bewegungsfreiheit kann mithin nicht ohne die zeitliche Dimension des Bleibens gedacht werden. Freiheit gibt es also nur dort, wo auch das Bleiben möglich ist.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

In Eva von Redeckers Konzeption der Bleibefreiheit finden sich viele Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit dem Freiheitsbegriff der Sozialen Demokratie, der in enger Verbindung mit Gerechtigkeitsfragen steht: Nur wer sich sozial ausreichend gesichert weiß, kann Gebrauch von seiner Freiheit machen. Die Relevanz dieses sozialdemokratischen Prinzips entfaltet sich besonders in der zeitlichen Dimension der Bleibefreiheit. Eva von Redecker zeigt auf, wie die Lebenserwartung hierzulande von den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Position innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung abhängt. Ein weiteres Grundprinzip des Freiheitsbegriffs der Sozialen Demokratie besteht in der Ermöglichung, seine Fähigkeiten zu entfalten und Gesellschaft und Politik aktiv mitzugestalten. Auch in Eva von Redeckers Konzept der Bleibefreiheit ist dieser soziale Aspekt positiver Freiheit zentral. Daher umfasst Bleibefreiheit den Akt kollektiver Befreiung ebenso wie das gemeinsame Übernehmen von Verantwortung für unsere Mitmenschen und die geteilte Welt.


buch|autorin

Eva von Redecker ist Autorin und Philosophin. Sie studierte Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft und arbeitete von 2009 bis 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Humboldt-Universität. 2015 unterrichtete sie als Gastdozentin an der New School for Social Research in New York. Ihre Dissertation „Praxis und Revolution“ wurde 2018 veröffentlicht.

Im September 2020 erschien ebenfalls im S. Fischer-Verlag ihr in verschiedene Sprachen übersetztes Buch „Revolution für das Leben“.


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buch|inhalt

Auf knapp 150 Seiten entwirft Eva von Redecker einen neuen Freiheitsbegriff, die Bleibefreiheit. Es geht ihr darum, Freiheit nicht nur in Bewegungsspielräumen – dem räumlichen Aspekt der Freiheit – zu bemessen, sondern Freiheit auch zeitlich zu denken. In drei Kapiteln – „Zeitfülle“, „Erfüllte Zeit“ und „Zeit der Fülle“ – arbeitet sie heraus, wie Freiheit in einer zeitlichen Dimension erlebt werden kann.

Zeitfülle – Zeit als endliche Lebenszeit

In unserer kapitalistischen Überflussgesellschaft ist Freiheit deshalb so verlockend, weil wir uns Wohlstand erhoffen. Freiheit ist kein idealistischer Wert, sondern materiell bestimmt. Eva von Redecker kritisiert die „Phantasie des kapitalistischen Wachstums auf dem ewigen Zeitstrahl“. Anstatt alle am vorhandenen planetaren Reichtum teilhaben zu lassen, hat die industrielle Moderne einen Teil ihrer eigenen Grundlagen zerstört. Mit der Einsicht, dass dem wirtschaftlichen Wachstum natürliche Grenzen gesetzt sind, kommt auch die Freiheit ins Straucheln. Daher plädiert von Redecker dafür, die Freiheit von der Verheißung des materiellen Überflusses zu entkoppeln.

In der westlichen Tradition ist die Freiheit untrennbar mit Bewegungsfreiheit verknüpft. So definierte zum Beispiel Thomas Hobbes Freiheit bereits im 17. Jahrhundert als das „Fehlen von Widerstand“ im Sinne äußerer Bewegungshindernisse. Freiheit räumlich zu denken, ist nicht per se falsch, und historisch ließ sich Freiheit oft als Ortswechsel erfahren. Wir müssen Freiheit aber auch zeitlich denken.

Warum also machen wir nicht das „Bleiben-Wollen“ zum Maßstab für unsere Freiheit? Zum einen, weil das Streben nach Freiheit von der Sehnsucht nach Unendlichkeit angetrieben wird, die in der Bewegungsfreiheit scheinbar gegeben ist. Und zum anderen, weil wir dann, wenn wir uns Freiheit in einer zeitlichen Dimension bewusst machen, unweigerlich auf unsere eigene Sterblichkeit stoßen.

Die liberale Freiheit entspringt einer Mischung aus Todesfurcht und Todesverdrängung. Dies führt dazu, dass wir den Tod endlos von Neuem inszenieren. Nach dem Motto „Etwas anderes muss tot sein, damit ich meine Freiheit erfahre“ verbannt der Mensch den verleugneten Tod in andere Körper. Diese Herrschaft bindet jedoch Zeit und begrenzt so auch die Privilegierten, die sie ausüben.

Zur Bleibefreiheit gehört hingegen, sich den Tod zu vergegenwärtigen: „Der Tod ist keine bittere Grenze der Bleibefreiheit, sondern geradezu eine Gnade. Unerträglich, also in tiefe Bindungen aneinander und an das Leben eingebrochen. Unabänderlich, also niemandes Schuld.“

Erfüllte Zeit – Zeit als Initiative

Aus der Perspektive des räumlichen Freiheitsverständnisses ist Bleiben mit Stagnation gleichzusetzen. Aus zeitlicher Perspektive verspricht Bleiben zumindest Fortdauer. Darin allein besteht aber noch keine Freiheit. Denn Zeit zur Verfügung zu haben, wird nicht per se positiv erlebt. Im Gegenteil: Menschen, die in Haft sitzen, keine erfüllende Beschäftigung haben, gelangweilt sind oder unter Depressionen leiden, erfahren freie Zeit zuweilen als Belastung. Und wäre die Fortdauer selbst ultimatives Ziel, dann käme ein früher Tod einer gescheiterten Existenz gleich.

Worauf also kommt es an, wenn man Freiheit in einer zeitlichen Dimension denkt? Im Sinne des klassischen Besitzindividualismus liegt es nahe, Freiheit als Eigentum von Zeit zu verstehen, also als Zeit, die einem selbst gehört und mit der man machen kann, was man will. Diese leere, verfügbare Zeit ist die Voraussetzung dafür, die eigene Arbeitskraft verkaufen zu können – wie es im klassischen Lohnarbeitsverhältnis geschieht. Die Freiheit als Zeiteigentum folgt also einer kapitalistischen Logik.

Wir erfahren unser Leben aber häufig gerade dann als erfüllt, wenn uns unsere Zeit nicht allein gehört, sondern wenn wir sie mit anderen teilen. Tiefe Bindungen zu haben, langfristige Vorhaben zu verfolgen und Verantwortung zu übernehmen heißt immer auch, nicht mehr alleine über seine Zeit verfügen zu können. Die Qualität der Zeit bemisst sich dann daran, dass sie erfüllt ist. Simone de Beauvoir und Hannah Arendt etwa sehen den Schlüssel zur Freiheit im Handeln selbst und nicht in der Entscheidungsfreiheit zwischen verschiedenen Optionen. Freiheit bedeutet entsprechend nicht, zu jeder Zeit alles an den verschiedensten Orten der Welt tun oder erleben zu können. Sie liegt vielmehr darin, eine Idee, eine Lebensform oder ein Projekt in verbindlicher Kooperation mit anderen verwirklichen zu können. Hierbei handelt es sich um ein zutiefst soziales Verständnis von positiver Freiheit: Die eigene Freiheit wird durch die Freiheit anderer nicht beschnitten, sondern potenziert, denn viele Ideale oder Pläne können nur gemeinsam realisiert werden.

Eva von Redecker verteidigt diese soziale Freiheit gegen die Verfechter rein negativ verstandener Freiheit. Negative Freiheit heißt, seine Ziele ungestört verfolgen zu können, ohne von äußerem Zwang behindert zu werden. Vertreter positiver Freiheit bestreiten den Wert der negativen Freiheit nicht. Sie betonen aber, dass es ohne eine soziale Umgebung kein wollendes oder wählendes Individuum gäbe. Um tatsächlich aktiv aus verschiedenen Optionen für die eigene Lebensführung wählen zu können, bedarf es sozialer Institutionen und Infrastrukturen wie Bildung, Recht und Versorgung: „Aus Sicht der positiven Freiheit sind gesellschaftliche Vorgaben oder Gegenüber deshalb nicht immer nur mögliche Hindernisse oder gar Zwangseinrichtungen. Im Gegenteil, sie ermöglichen überhaupt erst die Freiheit. Freiheitsliebhaber_innen sollten sich der irdischen Politik zuwenden und gemeinsam dafür einsetzen, diese Bedingungen möglichst freiheitsfördernd zu gestalten.“

Neben der Sterblichkeit ist auch die Geburtlichkeit eine Grundbedingung menschlichen Lebens. Jegliche Neuanfänge, die gewohnte Strukturen unterbrechen, lassen sich als Wiederholungen der Geburt begreifen. Dieses Neu-zur-Welt-Kommen bedeutet Befreiung. So verstanden ist Zeit eine Abfolge von Entwürfen und Anfängen, die Resultate der eigenen Initiative, aber auch Effekte der Verbundenheit mit anderen sein können. Auf kollektiver Ebene liegt der stärkste Ausdruck solcher Befreiungskraft im Generalstreik. Aber auch jede demokratische Entscheidung kann uns zu kollektiver Befreiungskraft verhelfen. Das Neue kann in Selbstveränderung bestehen, es kann aber auch darin liegen, dass sich die Beziehung zur Welt ausweitet. Bleibefreiheit, die auf solch „initialer Zeitlichkeit“ beruht, ist „erfüllte Zeit.“

Zeit der Fülle – Zeit als zyklische Regeneration

Bleibefreiheit kann nur in einer intakten Umwelt, in einem menschenfreundlichen Lebensraum existieren. Sie ist daher auf die Konzeption einer ökologischen Freiheit angewiesen, die unsere Autonomie mit unserer Abhängigkeit von dem uns umgebenden Lebensraum versöhnt. Der Ausgangspunkt ökologischer Freiheit ist nicht das souveräne Individuum, sondern die schöpferische Beziehung zur Welt. Diese vollzieht sich in der Regeneration – sowohl von uns Menschen als auch der Umwelt, die ständig Prozessen der Zerstörung ausgesetzt ist. Ungezwungene Zeit ist Zeit, die uns nicht von unserer Regeneration abschneidet. „Aber unsere Regeneration ist keine eigene Fähigkeit. Sie ist vermittelt über die Welt. Wirklich regenerieren können wir uns nur in einer Fülle intakter Gezeiten. Wir brauchen Zeit.“ Ökologische Freiheit bedeutet also, etwas Lebendigem seine Zeit zu lassen.


buch|votum

Eva von Redeckers Essay liest sich zunächst als große Abrechnung mit dem Freiheitsbegriff der liberalen Tradition. Kritisiert werden dabei all jene Konzeptionen von Freiheit, die im Kern antisozial sind und vom Menschen als Einzelkämpfer ausgehen. Demgegenüber entwickelt von Redecker mit ihrem Konzept der sich zeitlich entfaltenden Bleibefreiheit einen neuen und reicher definierten linken Freiheitsbegriff. Als auch künftig lebbare Freiheit rückt die Bleibefreiheit die Erhaltung unserer gemeinsamen Lebensgrundlagen in den Vordergrund und geht von einem emanzipatorischen, sozialen Freisein aus. Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen – und sie wächst, wenn wir sie teilen. Philosophisch betrachtet ist die Bleibefreiheit ein Appell, nicht vor der eigenen Sterblichkeit zu fliehen; politisch erfordert sie die nachhaltige Sicherung bestmöglicher Lebensbedingungen für alle.

Mag der häufig bemühte Dualismus aus Raum und Zeit stellenweise unterkomplex erscheinen, entfaltet sich im Verlauf des Essays dahinter doch ein vielschichtiger Entwurf eines neuen Freiheitsbegriffs. Eva von Redecker nimmt sich in ihrer Zeitkritik Raum für einen eingehenden Blick auf unseren Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und der uns umgebenden Umwelt. Die Philosophin rekurriert dabei auf Konzepte aus der progressiven, feministischen Theoriegeschichte. Daraus ergeben sich in manchen Teilen abstrakte und utopische und in anderen Teilen greifbarere Bezüge zu unserer gegenwärtigen und möglichen zukünftigen Lebensform. Mit ihrem Konzept der Bleibefreiheit liefert von Redecker eine Transformationsperspektive und regt dazu an, über unsere Freiheit neu und positiv nachzudenken.

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Verlag: S. Fischer Verlage
Erschienen: 24.05.2023
Seiten: 160
ISBN: 978-3-10-397499-7

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