Felix Heidenreich (2023): Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie, Berlin: Suhrkamp Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Anne-Kathrin Weber
Anne-Kathrin Weber ist promovierte Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin und Rezensentin.


buch|essenz

Kernaussagen

Um unsere Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten, wird vor allem auf technische Innovationen und Marktanreize gesetzt. Dabei ist eine deutliche Entpolitisierung des Nachhaltigkeitsdiskurses zu beobachten. Hier gilt es einzugreifen, denn ein gesellschaftlicher Wandel kann nur dann langfristig gelingen, wenn Nachhaltigkeit als politisches Ziel definiert wird – und wenn wir begreifen, dass sich dabei nicht nur die Gesellschaft verändern muss, sondern sich auch die Prozesse und Institutionen unserer Demokratie wandeln müssen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Nachhaltige Politik darf nicht von Expert_innen bzw. Gerichten ‚verordnet‘ werden. Sie muss vielmehr von Bürger_innen für Bürger_innen gemacht werden. Dafür bieten sich eigens eingerichtete und auf gerechter Partizipation beruhende Gremien an, die über politische Maßnahmen zur Nachhaltigkeit beraten und entscheiden. Diese republikanische Vision öffentlicher Deliberation stärkt die Demokratie in Zeiten des Wandels.


buch|autor

Felix Heidenreich ist Politikwissenschaftler und Philosoph. Er arbeitet als wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart und als assoziierter Forscher am Forschungszentrum CEVIPOF der Universität Sciences Po in Paris.


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buch|inhalt

Die Klimakrise verändert Gesellschaften auf fundamentale Weise. Im Rahmen dieser sogenannten „großen Transformation“ muss nicht nur unsere Wirtschaft, sondern unser gesamtes Leben umgestaltet werden. Viele Vorschläge, um diesen Wandel anzuleiten und zu begleiten, sind allerdings rein technischer Natur; an einer neuen politischen Kultur der Genügsamkeit mangelt es hingegen deutlich. Das führt zu einer Entpolitisierung der Nachhaltigkeitsthematik, die doch in erster Linie eine politische Herausforderung ist – auch und gerade für die historisch gewachsenen Grundfesten der Demokratie:

„Es ist damit zu rechnen, dass die Zielsetzung des nachhaltigen Lebenswandels sich auf die Struktur von Demokratien auswirken wird, dass neue Institutionen und Verfahren entstehen und etablierte Ordnungsvorstellungen zweifelhaft werden.“

Republikanismus statt Liberalismus

Diese tiefgreifende Transformation der Demokratie wird mit einer klassisch liberalen Vision nicht zu bewältigen sein. Denn der Liberalismus drückt sich nach wie vor durch eine „Kultur des expressiven Individualismus, des Wachstums und der Beschleunigung“ aus und will den Bürger_innen selbst die Wahl lassen, sich für einen nachhaltigen Lebensstil zu entscheiden. Angesichts der fundamentalen Herausforderungen, die die Klimakrise mit sich bringt, kann sich ein Staat gegenüber nichtnachhaltigen Lebensstilen aber nicht neutral verhalten. Entsprechend gilt, dass das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen nicht Marktkräften allein überlassen werden kann, sondern ein politisch aktiv verfolgtes Ziel sein muss.

Allerdings darf auch dieses übergeordnete politische Ziel nicht mit aller Gewalt und gegen die Bürger_innen durchgesetzt werden:

„Die Herausforderung besteht […] darin, die nichtnachhaltigen, ja rundweg fahrlässigen Formen eines expressiven Individualismus so einzuschränken, dass nicht zugleich das Ideal der Freiheit verabschiedet wird. Damit wird allerdings die genaue Ausdeutung von ‚Freiheit‘ zentral und eine Umdeutung erforderlich […].“

Genau hier kommt eine republikanische Theorie der Nachhaltigkeit ins Spiel, bei der Freiheit nicht als Mobilitäts-, Selbstentfaltungs- und Konsumfreiheit verstanden, sondern an das Ideal der Volkssouveränität gekoppelt wird. Diese Art der Freiheit ist somit in der politischen Mitbestimmung zu erleben.

Legitimation durch Volkssouveränität

Um in diesem Spannungsfeld den Herausforderungen der Zukunft angesichts knapper werdender Ressourcen erfolgreich zu begegnen, bieten sich verschiedene Formate von Bürger_innenräten an, die nachhaltige politische Maßnahmen entwickeln:

„Konkret bedeutet das: Per Zufallsprinzip ausgewählte Bürgerinnen und Bürger deliberieren unter Anleitung von Moderatorinnen und Moderatoren über Nachhaltigkeitsfragen und erarbeiten möglichst konkrete Politikvorschläge.“

Da somit die Entscheidungsgewalt wieder stärker an die demokratische Basis gebunden wird, wirkt dieses Gremium positiv auf die Bürger_innen zurück, die sich durch sie und in ihnen als handlungs- und gestaltungsfähig erleben:

„Die größte Wirkung, die man sich von Bürgerräten erhoffen könnte, wäre dann ihre Einbettung in die Lebenswelten: Bürgerräte machen anschaulich, dass die Gestaltung von Lebenswelten gerade keine an ‚Profis‘ zu delegierende Aufgabe ist, sondern alle angeht.“

Hierin besteht ein entscheidender Vorteil gegenüber Expert_innengremien oder dem Versuch, politische Entscheidungen zugunsten von Nachhaltigkeit über den Weg der Rechtsprechung durchzusetzen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2021 ist hierfür ein gutes Beispiel. Die „expertokratische Tendenz“ von Strategien wie diesen ist eine demokratische Schwachstelle. Wenn die Bürger_innen hingegen selbst damit beauftragt würden, eine Politik der Nachhaltigkeit mitzugestalten, hätte dies eine breitere Legitimation zur Folge, sodass entsprechende politische Maßnahmen nicht länger als „ökologischer Paternalismus“ wahrgenommen und abgelehnt würden.

Neue „mentale Infrastrukturen“

Nachhaltige Lebenswelten können nicht von Expert_innen verordnet werden, sondern müssen von uns allen erschaffen werden. Sie müssen mithin auf „kollektive[n] Selbstbindungen und eine[r] autopaternalistische[n] Regierung des Verhaltens“ basieren, der sich die Bürger_innen aktiv verschreiben. Die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten werden sich dadurch erheblich verschieben:

„Jedes klimarelevante Verhalten ist für eine solche Politik legitimer Gegenstand kollektiv bindender Entscheidungen.“

Eine wahrhaft demokratische Politik der Nachhaltigkeit wird dann geglückt sein, wenn die Bürger_innen entsprechende Entscheidungen nicht mehr als eine Einschränkung ihrer Freiheit, sondern als Ausdruck derselben wahrnehmen. Wir müssen daher neue „mentale Infrastrukturen“ ausbilden, mit denen wir anerkennen, dass wir voneinander abhängig sind – und dass wir es gemeinsam in der Hand haben, die Zukunft nachhaltig zu gestalten.


buch|votum

Mit seinem Entwurf einer Politischen Theorie der Nachhaltigkeit macht Heidenreich zu Recht deutlich, dass ein klimaverträglicher Wandel unserer Gesellschaft weder vom Markt noch von Technologie allein getragen werden kann, sondern auf grundlegende Weise politischer Regulation bedarf – einer Regulation allerdings, die nicht ‚von oben‘ durchgedrückt werden darf, sondern zu der sich die Bürger_innen selbst verpflichten.

Heidenreich zeichnet ein republikanisches Idealbild, in dem sich die Bürger_innen aktiv und umfassend in die Gestaltung neuer, nachhaltiger Lebenswelten einbringen. Seine Vision, dass wir unsere gewohnten liberalen Freiheiten der Mobilität und des Konsums gegen eine neue Freiheit größerer politischer Mitbestimmung eintauschen, wird allerdings nicht einfach umzusetzen sein. Wie genau dieses verheißungsvolle Ziel angesichts einer tiefgreifenden strukturellen Ungleichheit und teils eklatanten Unwillens erreicht werden kann, ist leider nicht Gegenstand des Buches. Nichtsdestoweniger eignet sich Heidenreichs Beitrag zu einer „Repolitisierung der Nachhaltigkeitsdebatte“ ausgezeichnet als Denk- und Debattenanstoß. Dass sich nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Demokratie an sich entsprechend wandeln muss – diese These allein macht Heidenreichs Politische Theorie der Nachhaltigkeit zu einer absolut lohnenden Lektüre.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 06.05.2024
Seiten: 243
ISBN:978-3-518-29988-3

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