Diese Webseite verwendet Cookies
Diese Cookies sind notwendig
Daten zur Verbesserung der Webseite durch Tracking (Matomo).
Das sind Cookies die von externen Seiten und Diensten kommen z.B. von Youtube oder Vimeo.
Geben Sie hier Ihren Nutzernamen oder Ihre E-Mail-Adresse sowie Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.
Zur Verlagsseite
Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß – Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.
Vor zwei Jahrzehnten hat Geert Mak ein Buch über Europa im 20. Jahrhundert geschrieben, das im Jahr 1999 aufhörte – mit einem optimistischen Tenor. Dies ist seine Fortsetzung: Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen? Wo stehen wir heute, zwanzig Jahre später? Was ist aus den großen Erwartungen geworden? Von Schottland bis in die Ukraine hat er den Kontinent durchstreift und spürt hier in seinen Geschichten und Erzählungen vor allem den innereuropäischen Bruchlinien der vergangenen zwei Jahrzehnte nach. Von der Euphorie des EU-Beitritts der osteuropäischen Länder über die Finanzkrise von 2008/9 bis zur Flüchtlingskrise von 2015 und dem zunehmenden Rechtspopulismus nimmt er die zeitgenössischen Herausforderungen und Krisen bis zum Beginn der Corona-Pandemie in seinen Blick. Bei aller nüchternen Betrachtung ist das Buch trotzdem durchzogen von einer strapazierten, aber dennoch ungebrochenen Hoffnung auf Europa.
Der kühle Kopf von Geert Mak begleitet unaufgeregt durch die zurückliegenden zwei Jahrzehnte und ermöglicht es nebenbei auch, eine Bilanz sozialdemokratischer Europapolitik zu ziehen und diese kritisch zu hinterfragen. Er liefert Erklärungen für zentrale Anliegen der sozialen Demokratie oder Befürchtungen: etwa für die Gründe des wachsenden Nationalismus und offenen Antisemitismus, für die Folgen neoliberal forcierter ökonomischer und sozialer Schieflagen, für das Ressentiment gegenüber Migration und Geflohenen, aber auch für einen fanatisierten Islamismus. Schließlich, was bedeuten die fragiler werdenden Bindungen in der Wertegemeinschaft des Westens und die schwindende Kraft der Weltmacht USA für Europa?
Das soziale Europa kommt in seinen Erzählungen etwas zu kurz, Gewerkschaften tauchen bei ihm nur am Rande auf. Dafür dürfte besonders ein Satz bei vielen Leser_innen beifälliges Nicken hervorrufen: „In meinem Kopf wohnten seit Jahrzehnten ein Europäer und ein Demokrat. Sie waren immer recht gut miteinander ausgekommen. Doch inzwischen stritten sie sich ständig, und das nahm gar kein Ende mehr.“
Verlag: Siedler VerlagErschienen: 31.08.2020Seiten: 640ISBN: 978-3-8275-0137-0
Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen Das Jahrhundert meines Vaters (2003) und In Europa (2005). Für sein Werk erhielt er 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Seine neue Inspektionsreise beginnt dort, wo sein erstes Europa-Buch hoffnungsvoll geendet hatte. Ein selbstbewusstes Europa sprach sich eine kulturelle, politische und mentale Führungsrolle an der Seite der USA zu. Seinen Erfolg, seine Stärke und Dynamik verdankte Europa dabei zwei Eigenschaften: der „Vielfalt und Beweglichkeit“. Zur Jahrtausendwende blickte der Kontinent auf eine wirtschaftliche Blüte seines sanften Kapitalismus mit seinen regionalen Spielarten. Später kam schleichend die Wende, wurden überall in Europa Wirtschaften und Gesellschaften marktgerecht ummodelliert. Der Fall der Mauer hatte die Wiedervereinigung West- und Osteuropas auf die Tagesordnung gesetzt, die politische Vertiefung würde später erfolgen. Die Transformationskosten in Osteuropa wurden dabei bei Weitem unterschätzt!
Realitätstest: Jahr für Jahr macht er sich auf die Spuren des europäischen Traums und warnt: „Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht.“ Er zitiert im Rückblick den ungarischen Schriftsteller György Konrád: „Ihnen war nicht bewusst, wie dünn die Schicht der Zivilisation war, welche vulkanischen Kräfte unter der Oberfläche arbeiteten.“
Wählen wir jahresweise und stichwortartig einige wirtschafts-, demokratie- und sicherheitspolitischen Schwerpunkte aus seiner komplexen Geschichten- und Faktensammlung aus:
Im Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Einführung des Euro zum Jahr 2000 offiziell beschlossen. So wurde in der Sturm- und-Drang-Zeit der größten geopolitischen Veränderung in Europa seit 1945 – in den Worten von Timothy Garton Ash – ein kränkliches Kind gezeugt. Schon damals lautete die zentrale Warnung: Der Euro ist eine Fehlkonstruktion, eine Währungsunion ohne politische Union kann unmöglich funktionieren.
Der Zusammenbruch des Sowjetreiches war eine einzige Demütigung gewesen, die Jelzin-Jahre brachten Chaos und das große Plündern. Nun entwickelte Putin seine ‚gelenkte Demokratie‘, eine typisch russische Mischung aus modernem Zarismus kombiniert mit westlichen Formen und Werbemethoden und einem modernisierten, allgegenwärtigen Geheimdienst als Kern der Macht.
Aus sicherheitspolitischer Perspektive: Mit 9/11 flammt der Terrorismus mit all seinen Folgen im Innern und außen auf. Der Krieg der USA und der Koalition der Willigen gegen den Irak spaltet die Union in Befürworter und Gegner, in ‚altes und neues‘ Europa.
Die große Erweiterung um zehn mittel- und osteuropäische Staaten sollte zu einem Triumph des wiedergeborenen Europas werden – doch bereitet sie in den Folgejahren immer mehr Europäern Sorgen. All die historischen Erfahrungen Osteuropas, die so anders waren als die des Westens, bleiben auch in den Jahren danach auf unterschiedlichen Gebieten prägend. Ein autokratischer, populistischer Nationalismus überschattet nicht nur Ungarn und Polen.
Die Ausarbeitung des Vertrages über die Europäische Verfassung scheitert durch Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich mit ablehnendem Ausgang – ein Augenblick der Wahrheit. Das Nein so vieler Bürger im Kerngebiet der EU war der erste offene, massenhafte Protest gegen das gewachsene Europa der Behörden, der das demokratische Defizit der Union offenbarte. Die politische Integration wurde für Jahre abgebrochen. 2009 trat stattdessen der im Vergleich zum Verfassungsentwurf abgespeckte Grundlagenvertrag von Lissabon in Kraft, der der Gemeinschaft trotzdem neue zukunftsweisende, auch institutionelle und verfahrensmäßige Verbesserungen brachte.
Die Jahre der großen Finanz- und Eurokrise nährten durch die Rettung der Banken mit Steuergeld zu Recht das Misstrauen gegen den Finanzkapitalismus. Der Euro geriet in Bedrängnis und erzwang einen Rettungsschirm, der indes nicht verhinderte, dass Millionen vor allem in Südeuropa in die Armut rutschten. Mehr noch: Eine ganze junge Generation galt als verloren. Mit dem Fiskalpakt (2012) und anderen Instrumenten wurden strenge Verschuldungsregeln und mit ihm Sparpolitiken verankert, die das Diskussionsklima zwischen dem Norden und Süden der Gemeinschaft für Jahre bestimmten, ja vergifteten. Mehrfach hing die Zukunft an einem seidenen Faden.
Die Konflikte mit dem neuen Russland Putins nehmen zu. Neben dem Krieg in Georgien sorgt die Ukraine für anhaltende Auseinandersetzungen. Zwar wurde die Ukraine 1991 unabhängig, doch die Diskussionen über die Identität des Landes verstummten nie. Die russische Annexion der Krim liefert anhaltende Sprengkraft und führt – wie andere internationale Konflikte auch – der EU immer wieder die Grenzen ihrer außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit vor Augen.
Das gelobte Land – die Kriege in Afghanistan, dem Irak und in Syrien sorgten in Europa für eine Welle von Migranten, über deren politischen Umgang sich die EU- Mitgliedsländer letztlich bis heute streiten. Das Ende des Schengen-Systems lag in der Luft. In den meisten Mitgliedsstaaten wuchs die Angst vor Migration stetig, als Folge des ‚Wir schaffen das‘ treten nationalistische Rechtspopulisten ihren Siegeszug an, kommen an die Macht oder vergiften das innenpolitische Klima. In Frankreich, Deutschland, Schweden, Dänemark oder Niederlande breitete sich Wohlstandschauvinismus aus.
In Großbritannien wurde Immigration zum Hauptthema der immer aggressiver geführten Brexit-Debatte. Im Juni stimmten 52 % der Briten bei einem Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union, der indes erst nach jahrelangen, quälenden Verhandlungen zum 31.12.2020 vollzogen wird. Entgegen vieler Befürchtungen hielt die Einheit der verbliebenen 27 Mitgliedsländer.
Mit der Renaissance nationaler Träume und Emotionen steht das Vereinigte Königreich nicht allein. Die Volksparteien des 20. Jahrhunderts zeigen sich müde und verbraucht, der Fortschrittsoptimismus der Mittelschichten schmilzt dahin. Vor allem zwischen der Union und den rechtspopulistisch regierten Polen und Ungarn wachsen die Meinungsverschiedenheiten über Werte und Institutionen des demokratischen Rechtsstaates – eigentlich konstitutionelle Elemente der EU.
Wird die labile staatliche Konstruktion namens EU überleben? Die erst kurz, 50 Jahre währende Geschichte der EU hat gezeigt, dass Bedrohungen und Krisen auch verbindend wirken können. Die „demokratische Unreife“ der Union wird ein immer ernsteres Problem, auch weil heute im Zuge der digitalen Kommunikation neue Akteure auftreten und neue Konfliktformen und Desinformationskampagnen entstehen.
Nach innen zeigt sich die Union oft zerstritten (vor allem in grundsätzlichen Fragen der Demokratie und der Migrationspolitik), nach außen liegen zwischen Anspruch und Wirklichkeit geopolitischer Macht wohl noch lange Jahre – auch wenn die Erfahrungen mit der Präsidentschaft von Donald Trump dem Ziel einer strategischen Autonomie der EU energischen Nachdruck verliehen hat. Alles im Schatten des unaufhaltsamen Aufstieges Chinas und der geostrategischen Neuordnung nach dem Ende des amerikanischen Jahrhunderts.
Die Corona Pandemie testet den Zusammenhalt der Gemeinschaft erneut. Erstmals nach Jahrzehnten gibt es Grenzschließungen und Kontrollen im Schengenraum. Die aus der Gesundheitskrise erwachsene Rezession möchte die Union mit einem engagierten, milliardenschweren Wiederaufbaufonds ‚NextGenerationEU‘ gemeinsam anpacken. Vor allem dem besonders betroffenen Süden will man im Gegensatz zum Krisenmanagement im Zuge der Finanzkrise diesmal solidarischer mit erstmals gemeinsamen EU-Schulden begegnen. Mehr noch sollen Krisenbekämpfung sowie digitaler und klimafreundlicher Strukturwandel verknüpft werden – ein engagiertes Versprechen an die EU-Bürger, dessen Einlösung im laufenden Jahrzehnt mit über den Fortgang der Union entscheiden wird.
Um die Jahrtausendwende konnte von einer europäischen Öffentlichkeit kaum die Rede sein. Heute ist Europa oft ein Hauptthema auf den Titelseiten. Auch dank des Internets beginnt es allmählich Wirklichkeit zu werden: „ein europäisches Kaffeehaus mit permanenter öffentlicher Diskussion“. Trotz mancher düsterer Beschreibungen ist der Schlusssatz des Buches von Geert Mak noch einmal eine allegorische Bekräftigung seines europäischen Zukunftsoptimismus: „Ich gehe zu unserer Dorfkirche und ziehe am Glockenseil, hoch über mir beginnt wieder die Glocke zu läuten. Sie stammt aus dem Jahr 1354, sie hat alles gesehen und erlebt, und doch wird sie nicht müde.“
Geert Mak ist ein detailreicher Erzähler unter den Historikern unserer Zeit. Mehr Reisebericht als nach Themen strukturiertes Sachbuch knüpft er direkt an sein Buch ‚In Europa‘ an. Wie damals gelingt es ihm, lebendig den europäischen Geschichtsfaden als reflektierte Chronik weiterzuspinnen. Es gelingt ihm, das fragile Wesen Europas als eine Kette von Krisenbewältigungen zu ergründen, es in zahllosen lokalen Beobachtungen und Gesprächen mit Augenzeugen sichtbar und wahrnehmbar zu machen. Europa erinnert an Karl Schefflers Beschreibung von Berlin aus dem Jahre 1910: Die Stadt, so der Kunstkritiker, sei „dazu verdammt immerfort zu werden und niemals zu sein“ (Berlin – ein Stadtschicksal).
Kaffeehaus Europa – bei einer Tasse Tee oder Kaffee im Lieblingscafé durch einen lebendigen und dennoch präzisen Text neue Über- und Einblicke gewinnen.