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Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie

Muss man die direkte Demokratie fürchten? Frankfurt a. M.: Klostermann (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Die direkte Demokratie ist eine wichtige und sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Die meisten Einwände gegen sie entpuppen sich bei näherer Betrachtung als unbegründet. Volksentscheide fördern die öffentliche Debatte über Sachfragen, stärken die Selbstbestimmung und sichern die Unterstützung der Demokratie durch die Bevölkerung. Sie sollten in Deutschland auch auf Bundesebene möglich sein.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Da die Demokratie der Kern der sozialen Demokratie ist, sind sämtliche Überlegungen, sie zu stärken, grundsätzlich in ihrem wohlverstandenen Interesse. Sozialdemokratische Parteien haben aber keine einheitliche Meinung zur Frage, ob und unter welchen Bedingungen Volksentscheide sinnvoll sind und möglich sein sollten. Das Buch ist eine Bereicherung dieser Debatte. Es plädiert zwar klar zugunsten der direkten Demokratie, tut dies aber unter sorgfältiger Abwägung der Argumente und relevanten Fakten.

 


buch|autorin

Die Juristin Gertrude Lübbe-Wolff war Professorin für öffentliches Recht an der Universität Bielefeld und zwölf Jahre Richterin am Bundesverfassungsgericht. Sie hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu juristischen und rechtsphilosophischen Fragen verfasst.


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buch|inhalt

Das Buch umfasst fünf Hauptkapitel, die Grundwissen zu verschiedenen Formen der direkten Demokratie liefern und einen detaillierten Überblick über die Pro- und Contra-Argumente bieten. Es ist sehr gut recherchiert, mit einem etwa 500 Titel umfassenden Literaturverzeichnis sowie 449 Fußnoten, die fast die Hälfte des gesamten Textvolumens ausmachen. Hinzu kommt ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe erläutert.

Während der Bund in Deutschland keine direkte Demokratie kennt, gibt es auf Ebene der Länder und Kommunen für die Bürger_innen eine große Vielfalt von Mitwirkungsmöglichkeiten. Zeitweilig waren zwar in vielen Parteiprogrammen auch Volksbegehren auf Bundesebene als wünschenswerte Ziele genannt. Die meisten Parteien haben sich inzwischen jedoch wieder davon distanziert und fordern bestenfalls konsultative Verfahren.

Die Argumente gegen die direkte Demokratie sind schwach oder falsch

Die Gegner der direkten Demokratie sagen, das Volk sei nicht in der Lage, Sachfragen angemessen zu beurteilen. Indirekt stellen sie damit die Demokratie insgesamt, auch die repräsentative, in Frage. Außerdem hängt die Bewertung von Alternativen letztlich nicht nur von Kenntnissen, sondern auch von Interessen und Wertepräferenzen ab. In Demokratien sollten Entscheidungen deshalb nicht nur sachgerecht sein, sondern die Wünsche der Mehrheit widerspiegeln. Außerdem ist zu beobachten, dass dort, wo die direkte Demokratie implementiert wurde, das Sachwissen der Bürger_innen im Vorfeld von Volksentscheiden steigt – in der Schweiz etwa durch ein System öffentlicher Aufklärung. Das gilt auch für Finanzfragen, die in Volksentscheiden häufig ausgeklammert werden, weil der Gesetzgeber befürchtet, das Volk werde unverantwortliche Entscheidungen treffen. Tatsächlich haben sich die Bürger_innen aber oft als sparsamer erwiesen als die Politik.

Ein weiteres Gegenargument lautet, Demagogen könnten Volksentscheide für gefährliche Zwecke und letztlich zum Schaden der Demokratie nutzen. Schon als das deutsche Grundgesetz ohne Möglichkeit von Volksentscheiden beschlossen wurde, spielte diese Überlegung eine Rolle. Denn man sah den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus auch als Folge von Volksentscheiden. Historisch betrachtet ist dies jedoch unzutreffend. Hinzu kommt, dass der Missbrauch von Referenden überwiegend dann geschieht, wenn sie von oben, also der Exekutive oder auch aus dem Parlament heraus, angeordnet werden. Initiativen von unten sind dagegen ein Weg, demagogischer Politik von oben entgegenzutreten.

Oft wird auch befürchtet, bei Volksentscheiden würden sich extreme Positionen (meist rechts-konservative, aber auch linke) durchsetzen. Als Beispiele werden fremdenfeindliche Volksentscheide in der Schweiz (Minarett-Verbot) oder das Brexit-Votum in Großbritannien angeführt. Bei Fällen wie dem Brexit ist aber zu bedenken, dass es in dem jeweiligen Land oft keine Tradition von Volksabstimmungen gibt und sich bei den seltenen Gelegenheiten für direkte Mitbestimmung eher angestauter allgemeiner Unmut durchsetzt als spezifische Interessen. Zudem ist es nicht so, als würden nicht auch die Volksvertretungen im Rahmen der repräsentativen Demokratie auf verschiedenen Ebenen immer wieder populistischen Tendenzen nachgeben, um sich so Stimmen für die nächsten Wahlen zu sichern.

Gegen die direkte Demokratie wird auch angeführt, sie sei unsozial, da sich statistisch gesehen an Volksentscheiden die sozial schwächeren Schichten noch weniger beteiligen als an Wahlen. Allerdings führt das nicht zwangsläufig zu unsozialeren Ergebnissen. Denn die schwache Beteiligung hat auch mit der Ausgestaltung des Beteiligungs- und Zustimmungsquorums zu tun, wie es bei vielen Volksentscheiden vorgesehen ist. Häufig liegt die Nicht-Beteiligung daher insbesondere für Menschen nahe, für die eine Beteiligung einen größeren Aufwand darstellt, wenn die Ergebnisse absehbar sind und vielleicht auch der eigenen Präferenz entsprechen.

Zuletzt wird der Einfluss von Reichen auf Volksentscheide, etwa durch die Finanzierung von Werbekampagnen, als Argument gegen die direkte Demokratie angeführt. Dieser ist jedoch nicht höher als bei Wahlen und kann durch geeignete Verbote (z. B. der Werbung im Fernsehen und Rundfunk) begrenzt werden. Der Vergleich mit repräsentativ-demokratischen Systemen zeigt außerdem, dass in ihnen der Einfluss der Wirtschaft erheblich ist, da sie über vielfältige Kanäle auf Entscheidungen einwirken kann, z. B. über Lobbying, bezahlte wissenschaftliche Beratung, Einbindung privater Fachleute in die Ausarbeitung von Gesetzen oder Jobaussichten für Politiker nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik.

Keine schlechteren Ergebnissen als die repräsentative Demokratie

Die direkte Demokratie führt nicht zu schlechteren Ergebnissen als die repräsentative Demokratie

Viele Untersuchungen für die Schweiz und die USA (wo die Bundesstaaten unterschiedliche Regelungen haben) zeigen, dass die Staatsausgaben dort niedriger sind, wo die direkt-demokratische Mitwirkung stärker ist. Gleichzeitig ist die Haushaltspolitik dort zielorientierter und die Steuermoral höher. Im Ergebnis ist die soziale Ungleichheit geringer. Dies liegt unter anderem auch an einer besseren Primärverteilung, die eine staatliche Umverteilung weniger dringlich macht. So haben Referenden oft die Lohnhöhe – z. B. durch Mindestlöhne – geschützt und neoliberale Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen (z. B. Wasserversorgung) verhindert.

Es kann nicht geleugnet werden, dass Minderheitenrechte durch Volksentscheide eingeschränkt werden können, wie etwa in der Schweiz geschehen. Grundsätzlich stehen die Entscheide zwar auch Personen offen, die selbst zu den betroffenen Minderheiten gehören; beteiligen dürfen sich aber nur jene, die über die Staatsbürgerschaft verfügen. Statistisch gesehen hatten Volksentscheide, die sich gegen Minderheiten richteten, zwar nur in weniger als der Hälfte der Fälle Erfolg; die Erfolgsquote von Referenden, die Minderheitenrechte ausdehnen wollten, ist allerdings noch geringer. Trotzdem tragen Volksinitiativen zur Sensibilisierung für Minderheitenfragen bei und eröffnen somit Wege zu einem besseren Schutz. Außerdem unterliegen in den meisten Ländern auch Volksentscheide der Rechtsprechung durch Verfassungsgerichte oder supranationales Recht und entsprechende Gerichte, sodass Minderheiten vor Diskriminierung geschützt werden.

Direkte Demokratie funktioniert unter fast allen Bedingungen

Volksentscheide erfordern meist Ja/Nein-Entscheidungen, die komplexen Sachverhalten nicht gerecht werden und Kompromisse verhindern. Tatsächlich gehen der Formulierung der Alternativen aber lange Diskussionen und Verhandlungen voraus, in denen der gesamte Sachverhalt behandelt wird und die unterschiedlichen Interessen zur Geltung kommen. Initiativen für Volksentscheide lösen zudem parlamentarische Prozesse aus, die ihrerseits angemessene Lösungen und Kompromisse produzieren.

Oft wird gesagt, die direkte Demokratie sei bestenfalls für kleine Gemeinschaften geeignet, nicht aber für „Massendemokratien“. Dabei wird die direkte Demokratie jedoch mit der „Versammlungsdemokratie“ mit direkter Anwesenheit der Abstimmenden verwechselt, die tatsächlich nur für kleine Gruppen funktioniert. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Massendemokratie“ an elitäre Theorien zur „Masse“ anknüpft und suggeriert, dass Menschen in großer Zahl nicht in der Lage seien, rational zu entscheiden.

Direkte Demokratie und repräsentative Demokratie sind also keine Gegensätze, sondern können sich gegenseitig ergänzen und stärken. Volksbegehren und Initiativen bewegen Regierungen und Gesetzgeber dazu, auf Probleme einzugehen und Interessen zu berücksichtigen, die zuvor ausgeblendet wurden. Umgekehrt werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für Volksentscheide durch Organe der repräsentativen Demokratie festgelegt.

Es besteht zwar die Möglichkeit, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden und Entscheidungen der Parlamente kollidieren. Dasselbe gilt aber für Entscheidungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten gefällt wurden, beispielsweise wenn spätere Volksentscheide frühere revidieren oder wenn Gesetze geändert werden, wenn sich Mehrheiten verändert haben. Diese Anpassungsprozesse sind also Teil aller Formen der Demokratie, die eben einen dynamischen Volkswillen ausdrücken sollen und können. Die direkte Demokratie kann auch gegen ideologische Frontlinien von politischen Parteien einer Sachlogik zur Geltung verhelfen.

Weitere Vorteile der direkten Demokratie

Man darf erwarten, dass die direkte Demokratie die Selbstbestimmung der Bevölkerung fördert, die repräsentative Politik verantwortungsvoller und sachlicher macht, die Durchsetzung rein parteipolitischer und persönlicher Interessen von Politikern erschwert und damit insgesamt zu mehr Akzeptanz des politischen Systems beiträgt.

Aber die direkte Demokratie bietet noch weitere Vorteile. Die von Parteien getragene repräsentative Demokratie zwingt die Wähler_innen, ganze Politikpakete zu akzeptieren, die in den Parteien aus ideologischen Gründen oder zur Bedienung der jeweiligen Klientelinteressen geschnürt wurden. Dieses Muster kann durch Initiativen aufgebrochen werden, indem sie bestimmten Sachfragen oder dort ausgeblendeten Interessen mehr Geltung verschaffen.

Ein weiterer Vorteil besteht hinsichtlich der Außenpolitik. Die repräsentative Demokratie hat hier ein Demokratiedefizit, da die Außenpolitik von der Exekutive dominiert wird und weil durch den Abschluss internationaler Verträge oder den Beitritt zu supranationalen Organisationen nationale Handlungsspielräume beschränkt werden. So produzieren etwa Freihandelsabkommen oder die Mitgliedschaft in Freihandelszonen, insbesondere in einem gemeinsamen Markt wie der Europäischen Union, Verlierer und Gewinner in der eigenen Gesellschaft. Diese Effekte fallen umso dramatischer aus, je schneller sie verlaufen, da die Menschen und Unternehmen mit der Anpassung überfordert sind. Volksentscheide bieten hier ein Ventil, um Druck aus dem Integrationsprozess zu nehmen.

Anders als die repräsentative Demokratie neigt die direkte Demokratie auch nicht dazu, sich auf kurzfristige Erfolge zu konzentrieren. In der repräsentativen Demokratie müssen die Parteien Entscheidungen immer mit Blick auf die nächste Wahl treffen, wobei langfristige Nachteile tendenziell ausgeblendet werden und an die künftigen Regierungen vererbt werden, die eventuell von anderen Parteien getragen sein können. Dagegen kann die direkte Demokratie dazu beitragen, eine sinnvolle Berücksichtigung der langfristigen Kosten und Nutzen durchzusetzen.

Zuletzt bietet die Kombination repräsentativer und direkter Demokratie bessere Möglichkeiten, um Fehler beider Ausdrucksformen des Volkswillens zu korrigieren. Initiativen von unten können Parlamente und Regierungen dazu zwingen, Entscheidungen zu überdenken. Umgekehrt haben Gesetzgebung und Exekutive die Umsetzung von Volksentscheiden in der Hand, insbesondere wenn diese konsultativ und nicht verbindlich sind.

Fazit

Die Gegnerschaft gegenüber der direkten Demokratie resultiert meist aus einer grundsätzlichen Demokratieskepsis. Gerade in schwierigen Zeiten wie heute, in denen viele Bürger_innen ein wachsendes Misstrauen gegenüber der etablierten repräsentativen Demokratie entwickeln, wäre es im wohlverstandenen Interesse Deutschlands, Volksentscheide auch auf Bundesebene zuzulassen.


buch|votum

Das Buch ist sehr informativ und behandelt ein aus Sicht der sozialen Demokratie sehr wichtiges Thema, das innerhalb der Sozialdemokratie aber umstritten ist. Die Autorin nimmt zwar klar Partei für die direkte Demokratie. Sie stützt ihre Position aber auf eine intensive Untersuchung zahlreicher Facetten des Themas. Die Leser_innen erhalten die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren. Dabei haben sie die Wahl, das entweder zügig zu tun, nämlich durch ausschließliche Lektüre des Haupttextes, oder vertiefend durch zusätzliche Konsultation der Fußnoten und Literatur. Damit eignet sich das Buch sowohl für die politische Bildung als auch für eine analytische und empirisch belastbare Auseinandersetzung mit der Frage der Volksentscheide.

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Verlag: Vittorio Klostermann
Erschienen: 2023
Seiten: 212
ISBN: 978-3-465-04613-4

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