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Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers– Paula Schweers ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Derzeit wird sie beim ARTE Magazin und an der FreeTech Academy of Journalism und Technology zur Redakteurin ausgebildet.
Golineh Atai porträtiert in ihrem Buch die Entwicklung der iranischen Gesellschaft seit der Islamischen Revolution. Sie zeigt, welche Rolle oppositionelle Frauen beim Kampf für die Freiheit und für ihre Rechte in dieser Zeit gespielt haben und bis heute spielen. Hierfür hat Atai Interviews mit neun Frauen geführt, die teils in Iran, teils im Exil leben. Aus den Gesprächen nimmt sie folgende Erkenntnisse mit:
Für politische Entscheidungsträger_innen in Deutschland und anderen demokratischen Staaten ist es von zentraler Wichtigkeit, die Strategie des autokratischen Regimes in Iran zu verstehen. Atai zufolge besteht diese darin, die abflachende mediale und politische Aufmerksamkeit zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele zu nutzen. Vor diesem Hintergrund ist es Atais Anliegen, den Widerständigen in Iran mit ihrem Buch eine Stimme zu geben und die Aufmerksamkeit für die Proteste und die Situation im Land auf einem hohen Niveau zu halten. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über feministische Außenpolitik stellt es einen aus Sicht der Sozialen Demokratie wertvollen Beitrag dar.
Verlag: Rowohlt VerlagErschienen: 16.11.2021Seiten: 320ISBN: 978-3-7371-0118-9
Die in Teheran geborene Journalistin und Autorin Golineh Atai war von 2006 bis 2008 für die ARD als Korrespondentin in Kairo und von 2013 bis 2018 in Moskau. Seit 2022 leitet sie das ZDF-Studio in Kairo.
Atai wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem als Journalistin des Jahres 2014, mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis und dem Peter-Scholl-Latour-Preis sowie jüngst mit dem Marie Juchacz-Frauenpreis für ihre Arbeit zur Gleichstellung von Mann und Frau. Ihr 2019 erschienenes Buch „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist“ war ein Bestseller.
In sieben Kapiteln porträtiert Atai iranische Frauenrechtlerinnen und ihre Familien. Grundlage hierfür sind Interviews mit den Frauen, die sie zwischen Herbst 2020 und Sommer 2021 geführt hat, je nach Situation via Videochat, schriftlich oder persönlich vor Ort. Die porträtierten Frauen leben teils in Iran, teils im Exil in Belgien, den USA, Slowenien oder Kanada. Alle Protagonistinnen haben durch ihr Handeln Entwicklungen in der Gesellschaft angestoßen. Durch ihre persönlichen Schicksale sowie anhand wichtiger historischer Eckpunkte wird nachgezeichnet, wie das Mullah-Regime seit Jahrzehnten alle demokratischen Bestrebungen in Iran unterdrückt und wie die Bevölkerung unter der Verletzung elementarer Menschenrechte, Folter und Hinrichtungen leidet. Zugleich wird damit auch die Geschichte des Widerstands und insbesondere der Frauenbewegung in Iran erzählt. Dabei geht es Atai darum, die Auswirkungen des brutalen Regimes auf das Leben der Menschen in Iran deutlich zu machen und politische Verantwortungsübernahme einzufordern.
Die historische Entwicklung bis und seit der Revolution von 1979 wird von Atai unter anderem anhand der Familiengeschichte von Fatemeh Sepehri nachgezeichnet, der Tochter eines Mullahs, die später eine international bekannte Aktivistin wurde. In der Pilgerstadt Maschhad im Osten des Irans aufgewachsen, erlebte sie in den Jahren vor der Revolution den Gegensatz zwischen den strengen Vorschriften ihres tiefreligiösen Vaters und dem vom Schah verordneten Modernisierungskurs am eigenen Leib. Sie, die ihren Ganzkörperschleier, den Tschador außerhalb des Hauses nie ablegen durfte, schaute sehnsüchtig den Mädchen auf ihrem Weg zur Schule nach. Anhand ihrer Geschichte wird deutlich, dass die verordneten Modernisierungen in vielen konservativ geprägten Familien zu einer inneren Entfremdung führten und sie eine Retraditionalisierung ersehnten.
Tatsächlich trat diese auch ein. Die Revolution von 1979, von der sich viele Menschen ein Ende von Zensur, Folter und Hinrichtungen erhofften, brachte eine Zäsur für die Frauenrechte mit sich. Denn seit der Revolution ist der Iran ein islamischer Staat, der von der patriarchalischen Vorstellungswelt des Fiqh, der traditionellen islamischen Gesetzgebung geprägt ist. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch den Revolutionsführer Ajatollah Chomeini wurde die Scharia wieder eingeführt, das islamische Recht, das sich auf theologische Auslegungen des Korans und Überlieferungen bezieht. Zwar regte sich schon vier Wochen nach dem Machtwechsel Widerstand gegen die neuen Machthaber. So protestierten seit dem 8. März 1979 viele Iranerinnen gegen Verhüllungszwang und Unterdrückung. Doch ihre Bemühungen bleiben bis heute vergeblich.
Die Scharia verbietet Frauen nicht nur die Ausübung verschiedener Berufe, etwa des Richteramts, sondern diskriminiert sie insbesondere in puncto Ehe- und Familienrecht: Das progressive „Gesetz zum Schutz der Familie" von 1967 wurde außer Kraft gesetzt. Das Recht auf Scheidung und das Sorgerecht geschiedener Frauen für die Kinder wurden eingeschränkt. Außerdem wurde das Mindestalter für die Verheiratung von Mädchen zunächst auf dreizehn, dann auf neun Jahre herabgesetzt.
Auch Fatemeh Sepehri wurde mit fünfzehn Jahren ohne ihre Zustimmung verheiratet. Ihr Ehemann war glühender Anhänger der jungen islamischen Republik und verstarb als solcher 1982 im ersten Golfkrieg. Die Erlebnisse, die für Fatemeh Sepehri aus dem Dasein als junge Märtyrerwitwe folgten, sorgten für ihre endgültige Abkehr von dem iranischen Regime. Eine Auslegung des islamischen Rechts erlaubte es, ihr sowohl große Teile des Erbes ihres Mannes vorzuenthalten, als auch das Recht auf die Erziehung ihres Kindes abzusprechen. Diese Erfahrungen führten, zusammen mit der Verhaftung ihres widerständigen Bruders, dazu, dass sie künftig unter Einsatz ihrer Freiheit gegen das Regime und seine Führer kämpfte. Trotz zermürbender Gefängnisaufenthalte und Verfolgung setzt sie sich für eine Abschaffung der Islamischen Republik und für eine Demokratisierung des Irans ein.
Illustriert durch die Biografie der Menschenrechtsaktivistin und Bloggerin Shiva Nazar Ahari porträtiert Atai die Zeit der zivilgesellschaftlichen Öffnung in Iran. Unter der Regierung des ersten Reformerpräsidenten Mohammad Chatami entstanden zwischen 1997 und 2005 zahlreiche neue Zeitungen; anerkannte Nichtregierungsorganisationen formierten sich, und Frauen gewannen mehr Freiheiten. Shiva Ahari, die heute im Exil in Ljubljana lebt, sah, wie sich die Gesichter der Frauen um sie herum veränderten. Plötzlich trugen ihre Cousinen Nagellack und schminkten ihre Lippen. Die Studentinnen lagen in den Aufnahmeprüfungen an den Universitäten erstmals vor ihren männlichen Mitbewerbern.
Doch Chatami scheiterte bei der schrittweisen Öffnung des Irans. Schnell hatte er das konservativ geführte Parlament gegen sich. Die rechtliche Situation der Frauen wurde in seiner Amtszeit nicht entscheidend verbessert, und auch viele andere Reformbestrebungen konnten nicht verwirklicht werden. Demonstrationen der Studentenbewegung gegen Einschränkungen der Pressefreiheit wurden 1999 brutal niedergeschlagen. Für Shiva Ahari führte dies zu ihrer Politisierung. Sie erkannte, dass der Reformerpräsident sich nicht hinter die progressiven Bewegungen stellte, sondern seine Augen vor der Gewalt verschloss. Als Bloggerin schrieb sie engagierte Berichte über politische Gefangene und wurde nach Protestaktionen selbst inhaftiert.
Auch die enttäuschte Bevölkerung antwortete mit Resignation und Desinteresse an der Politik auf die gescheiterten Reformen. Die Wahlbeteiligung ging dramatisch zurück. 2005 folgte auf Chatami der für viele Iraner unbekannte Mahmud Ahmadinedschad, der die Frauenrechte massiv einschränkte und die sogenannte Sittenpolizei einführte, die unter anderem über die Einhaltung der Kleidervorschriften wacht. Nach der Wahl Ahmadinedschads durften iranische Frauen ohne die Zustimmung ihres Ehemanns weder arbeiten noch einen Pass beantragen und wurden auch im Erbschafts-, Scheidungs- und Sorgerecht systematisch benachteiligt. Die Zahl der Hinrichtungen vervierfachte sich allein in seiner ersten Amtszeit bis 2009. Shiva Ahari begleitete diese Entwicklungen als Menschenrechtsreporterin und unterstützte vielbeachtete Kampagnen, um die Öffentlichkeit über den rechtlichen Status von Frauen aufzuklären.
In den zwei Amtszeiten des Reformerpräsidenten war eine starke Zivilgesellschaft entstanden. Ihre letzte Hoffnung war die sogenannte Grüne Bewegung von 2009, in deren Rahmen Millionen auf die Straße gingen, um friedlich, aber vergeblich gegen die manipulierte Wiederwahl Ahmadinedschads zu protestieren. Doch die Bewegung wurde brutal niedergeschlagen, Hinrichtungen und Verhaftungswellen ausgelöst, Journalisten zum Schweigen gebracht. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2013 und 2017 unterstützten die an den Rand gedrückten und nach rechts gerückten Reformer schließlich den sogenannten Moderaten Hassan Rohani. Hierbei ging es ihnen weniger um politische als um wirtschaftliche Freiheiten und den Handel mit dem Westen. Für viele Bürger_innen stellte dies einen herben Rückschlag im Kampf um echte Reformen dar.
Shiva Ahari arbeitet heute aus dem Exil für eine Frauenorganisation, die sich für Menschenrechtler_innen im Nahen Osten einsetzt. Seit den Erlebnissen von 2009 glaubt sie nicht mehr an Reformen in Iran.
Im Dezember 2017 stieg Vida Movahed in Teheran auf einen Stromkasten, nahm ihr Kopftuch ab, band es an einen Stock und schwenkte es wie eine Flagge hin und her. Eine ganze Stunde lang stand sie so auf dem Stromkasten, bevor sie festgenommen wurde. Ihr Protest wurde zum Sinnbild für die neuen Demonstrationen der Frauen gegen den die Überwachung durch die Sittenpolizei.
Schon 2014 erstarkte eine Bewegung gegen die Kopftuchpflicht. Seitdem ist sie konstant gewachsen und sichtbarer geworden. Damals rief die iranische Menschenrechtlerin Masih Alinejad die Kampagne „My stealthy freedom“ (Meine heimliche Freiheit) ins Leben. Millionen Iranerinnen kamen ihrem Aufruf nach und schickten Handyvideos, die sie dabei zeigen, wie sie ihr Kopftuch abnehmen. Alinejad veröffentlichte die Videos, auf denen zum Teil auch gewalttätige Reaktionen von Männern zu sehen sind. Die Journalistin und Influencerin engagiert sich seit der Schulzeit in Iran für Menschen- und insbesondere für Frauenrechte. Nachdem sie als junge Parlamentsreporterin die hohen Gehaltsabrechnungen der iranischen Politiker und die Korruption im Land angeklagt hatte, wurde sie gefeuert. 2009 wurde es für sie zu gefährlich in Iran. Sie musste das Land verlassen. Heute gilt sie als eine der prominentesten und gefährdetsten Kritiker_innen des Mullah-Regimes.
Anhand ihres Engagements zeigt Atai, welchen Gefahren all die Künstler_innen, Aktivist_innen und Politiker_innen ausgesetzt sind, die sich in den neuen Protesten einbringen und als Oppositionelle gegen das iranische Regime kämpfen. So zählen Menschenrechtler allein über fünfhundertvierzig solcher Personen, die im Ausland von der Islamischen Republik ermordet wurden. Auch Masih Alinejad und ihrer Familie werden Entführung und Folter angedroht. Dennoch lässt die Aktivistin nicht nach die Demonstrationen in ihrer ehemaligen Heimat zu unterstützen.
Die Proteste sind von einer neuen Radikalität. Sie zeigen, dass es progressive Forderungen in Iran gibt. Und der Kampf der Frauen findet nicht nur auf Demonstrationen statt, sondern in der gesamten Gesellschaft. So bilden Frauen inzwischen eine deutliche Mehrheit an den Universitäten, und mehr als die Hälfte der Absolvent_innen sind Frauen. 80 Prozent der Frauen können lesen und schreiben, viele haben sich in der Gesellschaft etabliert, üben einen Beruf aus und machen sich dadurch unabhängiger.
Masih Alinejad gehört zu den Aktivist_innen, die ihre Kämpfe für eine breite Öffentlichkeit auf Social Media und in der Presse sichtbar machen. Sie zeigt, dass die iranische Gesellschaft auf der Unterdrückung der Frauen aufgebaut ist. Zugleich glaubt sie fest daran, dass gerade deshalb eine Revolution der Frauen das Potenzial hat, das Regime zu stürzen.
Es ist Atais Verdienst, die Stimmen der Aktivistinnen in ihrem eindringlichen und unbedingt lesenswerten Buch zu versammeln und Informationen über die Situation im Land aus erster Hand zu vermitteln. Die Geschichten ihrer Protagonistinnen zeigen die Brutalität der Unterdrückung in Iran auf und geben den Protestierenden ein Gesicht. Atais Buch ist ein Aufruf an Politiker_innen, Medienschaffende und Bürger_innen, stereotype Bilder von der iranischen Gesellschaft zu hinterfragen, bequeme Selbsttäuschungen über das Regime aufzugeben und politische Verantwortung zu übernehmen. Westliche Verhandlungsführer_innen sollten sich dringend an die Seite der Protestierenden stellen und beharrlich für universelle Werte und Menschenrechte eintreten. Ihnen stehen dafür die Mittel der Vereinten Nationen und das Weltrechtsprinzip zur Verfügung, das es ermöglicht, schwere Verbrechen auch im Ausland zu verfolgen.