„Sie, das Volk“ – diese verfremdende Wendung des Slogans „Wir sind das Volk!“ weist auf das Thema des zweiten großen Abschnitts von Krastevs Buch hin: Die Perspektive des europäischen politischen Establishments, dem die zu Regierenden scheinbar fremd geworden sind. Den Auftakt macht eine Rekapitulation der Geschehnisse rund um den drohenden Staatsbankrott Griechenlands, der zunächst zur Abwahl des griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou führte, dann zum kurzen Kampf von Alexis Tsipras' Syriza-Partei gegen das austeritätspolitische Diktat der „Troika“, bestehend aus IWF, Europäischer Zentralbank und der Europäischen Kommission, und schließlich mit einer Niederlage von Tsipras endete, der die harten Sparauflagen akzeptieren musste.
„Die zeitweilige Lösung der Griechenlandkrise war in einem fundamentalen Punkt lehrreich. Wenn die gemeinsame europäische Währung überleben soll, muss den Wählern der Schuldnerstaaten das Recht zu einem Kurswechsel in ihrer Wirtschaftspolitik genommen werden, auch wenn sie durchaus das Recht behalten, ihre Regierung auszuwechseln.“
Die harte Haltung der „Troika“ gegenüber Griechenland erklärt sich zum Teil aus dem Dilemma, weder den griechischen Staatsbankrott zulassen, noch ein Signal an andere europäische Staaten senden zu wollen, indem man Tsipras Zugeständnisse gemacht hätte. Die drakonischen Bedingungen der Neuorganisation des griechischen Staatshaushaltes hatten ihr Drohpotenzial in Richtung anderer populistischer Regierungen bewiesen. „Aber hat der Sieg der ökonomischen Vernunft über den Willen der [griechischen] Wähler einen Beitrag zum Überleben der Union geleistet? […] Statt dass Brüssel den Glanz eines gemeinsamen europäischen Heims symbolisiere, steht die Hauptstadt der EU längst für die unkontrollierte Macht der Märkte und die zerstörerische Kraft der Globalisierung.“
Warum hassen (oder verachten) Europas Bürger die Europapolitiker? Brüsseler Politiker gelten als meritokratische Elite, die als solche die unangenehme Eigenschaft hat, alle auszuschließen, die es nicht „verdient“ haben, in ihren Kreis aufzusteigen. „Meritokratie“ ist ein vom Soziologen Michael Young geprägter Begriff, der von Anfang an davor warnte, dass eine meritokratische Rechtfertigung von gesellschaftlicher Ungleichheit dazu tendiert, diese Ungleichheit, da an „Verdienst“ und „Leistungsfähigkeit“ gekoppelt, zu zementieren. Krastev vergleicht die Meritokraten mit den hochbezahlten Stars im internationalen Fußball: Die Vereine kaufen sie ein, um zu gewinnen, aber die Fans bedauern sie nicht, wenn sie verlieren.
Eine Erklärung für die wachsende Illiberalität vor allem mittel- und osteuropäischer Staaten ist das Gefühl ihrer Bürger, zu bedrohten Mehrheiten zu gehören: „Der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie nicht nur das Privateigentum und das Recht der politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen, sondern auch das Recht der Minderheiten schützt und sicherstellt, dass die Wahlverlierer bei den nächsten Wahlen erneut antreten können und nicht ins Exil oder in den Untergrund gehen müssen, während die Sieger ihren Besitz konfiszieren.“
Der von liberalen Demokratien garantierte Minderheitenschutz wird in Osteuropa als Instrument zur Entmächtigung politischer, ethnischer und religiöser Mehrheiten empfunden. „Populistische und radikale Parteien […] versprechen ihren Wählern etwas, das in der liberalen Demokratie ausgeschlossen ist: das Gefühl eines Siegs, der es den Mehrheiten […] erlaubt, nun zu tun, was ihnen gefällt.“