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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle – Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Die ökologische Frage ist eine zentrale Frage unserer Zeit. Sie tritt neben die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Um gesellschaftliche Wirkmacht zu erlangen, müssen sich Arbeiter_innen und Klimabewegung verbinden und die Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Transformation als gemeinsamen Kampf verstehen. Als verbindendes politisch-ideologisches Element bietet sich die Bezugnahme auf die Utopie eines ökologisch inspirierten Sozialismus an.
Verbindungen zwischen Arbeiter_innen- und Umweltbewegung existieren seit den Anfängen beider Bewegungen im 19. Jahrhundert. Zugleich werden in manchen aktuellen Debatten Zielkonflikte zwischen dem Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen und der notwendigen ökologischen Transformation der bestehenden Industriegesellschaft postuliert.
Für die Entwicklung eines gemeinsamen politisch-ideologischen Bezugsrahmens ist es von Bedeutung, den Anspruch an die Gestaltung einer modernen und solidarischen Arbeitsgesellschaft und den Anspruch an die Gestaltung der ökologischen Transformation nicht als Gegensätze zu diskutieren.
Mit dem vorliegenden Band unternimmt Klaus Dörre den anspruchsvollen Versuch, aus einer Sichtung der Theoriegeschichte insbesondere der sozialdemokratischen Arbeiter_innenbewegung das aktualisierte Leitbild eines nachhaltigen Sozialismus zu entwerfen. Damit leistet der Band nicht nur einen Beitrag zur Verständigung von Arbeiter_innen- und Umweltbewegung, sondern bietet auch Bausteine für die Aktualisierung einer Theorie der Sozialen Demokratie.
Klaus Dörre wurde 1957 in Volkmarsen-Külte geboren. Nach einem sozialwissenschaftlichen Studium und einer Promotion an der Universität Marburg folgte im Jahr 2002 die Habilitation an der Universität Göttingen.
Seit dem Jahr 2005 ist Dörre Professor für Arbeits-, Industrie-und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dörre vertritt das Konzept einer „öffentlichen Soziologie“, deren Aufgabe es auch ist, ihre Erkenntnisse in gesellschaftliche Debatten einfließen zu lassen. Dörre gehörte mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich zu den Initiatoren des Sonderforschungsbereichs „Postwachstumsgesellschaften“ an der Uni Jena.
Das Buch gliedert sich in elf Kapitel, denen eine Einführung vorangestellt ist. Abgeschlossen wird der Band durch ein Schlusskapitel. Gewidmet ist der Band dem 200. Geburtstag von Friedrich Engels sowie all denjenigen, die sich aktuell in der Klimabewegung engagieren. Damit versucht schon die Widmung die Verbindung zwischen hergebrachten theoretischen Ansätzen und neuen politischen Gestaltungsfragen zu unterstreichen.
Klimapolitisch ist eine „Nachhaltigkeitsrevolution“ geboten. Ob dies im bestehenden Kapitalismus gelingen kann, ist unwahrscheinlich. Studentische Veranstaltungen in Leipzig und Jena ließen spüren, „dass ein ökologisch inspirierter Sozialismus zu einer höchst lebendigen Praxis werden kann“. Voraussetzung sind neue politische Allianzen, die einen „labour turn der Klimabewegung und zugleich einen climate turn von Gewerkschaften und anderen arbeitsorientierten Akteuren anstreben“. In der etablierten politischen Linken ist diese neue Entwicklung bislang kaum angekommen – auch deshalb, weil viele Akteure von ihrem „Hang zu vermeintlich absoluten Wahrheiten, zu Sektierertum und Selbstzerfleischung“ bislang noch nicht abgelassen haben.
Zudem regiert eine „Hermeneutik des Verdachts“: Wer andeutet, dass „die imaginäre Revolte der radikalen Rechten“ auch etwas mit sozialen Verwerfungen zu tun habe, werde sogleich mit dem Vorwurf der Rassismusverharmlosung konfrontiert, während umgekehrt Forderungen nach einem offenen Migrationsregime gegen Sorgen der „einfachen Leute“ ausgespielt werden.
„Bei den Auseinandersetzungen um den ökologischen Gesellschaftskonflikt verhält es sich ähnlich. Üben sich die einen in der Kritik einer imperialen Lebensweise, die Herrschende und Beherrschte reicher Gesellschaften Beutegemeinschaften zur Ausplünderung ärmerer Länder zurechnet, verschanzen sich die anderen hinter den Grenzen nationaler Wohlfahrtstaaten, weil sie annehmen, dass Politik zugunsten der Benachteiligten nur innerhalb dieser Arena möglich sei. Zwischentöne sind da nur Krampf im gegenseitigen Abwertungskampf.“
Die Coronapandemie mit ihren sozialen Verwerfungen hat für die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einen Stoß extremer Heftigkeit ausgelöst. Was fehlt, ist eine glaubwürdige Alternative. „Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können.“
Dabei geht es nicht um die Beschreibung fertiger Gesellschaftmodelle, sondern um die Begründung von Koordinaten für eine ökologisch-sozialistische Transformation. Normative Prämisse ist, dass Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Modischen Abgesängen auf die parlamentarische Demokratie ist kritisch zu begegnen.
Von den Erfolgen bei der Bekämpfung der Coronapandemie angespornt, einigten sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Jahr 2021 darauf, die klimaschädlichen Emissionen binnen zehn Jahren auf null zu senken. Die Erfolge der 2021 eingeleiteten Nachhaltigkeitsrevolution sind durchschlagend – schon im ersten Jahr wurden die Klimaziele übererfüllt. Dieses Bild – ergänzt um weitere Elemente einer solidarischen Wirtschafts- und Arbeitsorganisation sowie des persönlichen Zusammenlebens – ist keine Beschreibung des aktuellen Zustands. Es zeigt die Konturen einer möglichen nächsten Gesellschaft.
Mit Blick auf die historischen Belastungen des Begriffs Sozialismus plädieren manche Kommentatoren für neue Begriffe, Paul Mason etwa für einen „radikalen Humanismus“. Demgegenüber gilt es, die höchst widersprüchliche Geschichte des Sozialismus zu reflektieren und den Begriff mit neuem Inhalt zu füllen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil sich zentrale Forderungen der Klimabewegung sonst nicht mit Leben füllen lassen werden.
So sind die Kernforderungen von Degrowth-Bewegungen zwar sinnvoll, wenn es um die Verteilungsfrage geht. „Ohne genauere inhaltliche Festlegungen bleibt die Postwachstumsperspektive derart diffus, dass sie für nahezu alles und jedes benutzt werden kann.“ Entscheidend ist nicht nur, wie verteilt wird, sondern vor allem, wie produziert wird. Der Neoliberalismus hat vorgemacht, wie ein Revival einer Theorie funktionieren kann. Es gibt keinen Grund, warum dem Sozialismus nicht Ähnliches gelingen kann.
Ein Rückgriff auf Marx und Engels ist durchaus möglich. Auch mit Bezug auf ihre Schriften lässt sich Sozialismus nicht nur als „unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre“ definieren: „Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. (…) So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.“
Einen „reinen“ Kapitalismus gibt es nicht. Kapitalistische Entwicklung ist immer eine komplexe Innen-Außen-Bewegung. Die kapitalistischen Formationen eingeschriebene expansive Dynamik beinhaltet stets die Okkupation eines bislang nicht oder nicht vollständig kommodifizierten Außen.
„Kapitalistische Landnahmen beruhen somit auf einem Expansionsparadoxon. Der Kapitalismus muss sich ausdehnen, um zu existieren und seine Funktionsmechanismen zu reproduzieren. Dabei zerstört er im Zuge der Ausdehnung von Marktbeziehungen allmählich, was er für seine eigene Reproduktion benötigt. Je erfolgreicher die Akkumulations-, Wachstums- und Kommodifizierungsmaschine arbeitet, desto wirkungsvoller untergräbt sie die Selbstreproduktionsfähigkeit sozialer und natürlicher Ressourcen, ohne die moderne kapitalistische Gesellschaften nicht überlebensfähig sind.“
Zangenkrise besagt vor diesem Hintergrund, dass Generierung von Wirtschaftswachstum als zentralem Element des Kapitalismus mit Status-quo-Bedingungen von hoher Ressourcen- und Energieintensität ökologisch zunehmend destruktiv und damit gesellschaftszerstörend wirkt.
Das aktuelle wirtschaftliche System lässt sich immer stärker als Postwachstums-Kapitalismus fassen. Dieses umfasst etwa eine Verlagerung des Wachstumspols von den frühindustrialisierten Ländern in Schwellenländer. „Die Anlage überschüssigen Geldkapitals im Finanzsektor und die Bereitschaft zu hochspekulativen Geschäften verstärken stagnative Tendenzen, erhöhen die Krisenanfälligkeit der Wirtschaft und tragen dazu bei, dass selbst in reichen Wohlfahrtsstaaten 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung nahezu vollständig aus geschützter Erwerbsarbeit und kollektiven Sicherungssystemen herausfallen.“
Zudem ist der Postwachstums-Kapitalismus „Geburtshelfer eines mehrdimensionalen sozial-ökologischen Verteilungskonflikts, der nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Industriestaaten und globalem Süden, zwischen Zentrum und Peripherie ausgetragen wird“. Ohnmachtserfahrungen in mehrdimensionalen Verteilungskonflikten können dazu beitragen, dass diese nicht mehr an Klasseninteressen aufbrechen, sondern eine völlig anders gelagerte Dynamik annehmen. Die Vermehrung von Produktion und Konsum haben zudem das Destruktionspotenzial der Produktivkräfte enorm anschwellen lassen.
Welche normativen Grundlagen kommen für eine nachhaltige und sozialistische Politik infrage? Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen können hier die Grundlage bilden. Wichtig ist zudem: Demokratische Verfahren und Institutionen besitzen einen Eigenwert. Vorstellungen, auf autoritäre Maßnahmen zurückzugreifen, um den Klimawandel zu bekämpfen sind abzulehnen. Zugleich muss Demokratie ihre Leistungsfähigkeit dadurch unter Beweis stellen, dass eine Wende zur Nachhaltigkeit mittels Bevölkerungsmehrheiten tatsächlich auch gelingt.
Positive Gegenentwürfe zum Kapitalismus müssen mehr umfassen als einige Grundprinzipien. „Nach der Implosion der staatsbürokratischen Sozialismen und dem Niedergang der europäischen Sozialdemokratien darf das Projekt eines nachhaltigen Sozialismus inhaltlich nicht mehr leer bleiben, weil nur so ausgeschlossen werden kann, dass sich lediglich wiederholt, was schon einmal gescheitert ist.“ Alle müssen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn vom Sozialismus der Zukunft die Rede ist.
Das Fundament bilden „transformative Rechtsverhältnisse, die Nachhaltigkeitszielen einen Verfassungsrang geben; kollektives Selbsteigentum an und in großen Unternehmen; kooperative Marktwirtschaft mit kleineren Unternehmen; die Eckpfeiler von Wirtschaftsdemokratie; Produktionsweisen mit langlebigen Gütern; ein neues Verhältnis von Markt und Plan sowie Nachhaltigkeits- und Transformationsräte als Innovationen im politischen System“.
„Vom Kapitalismus unterscheidet sie vor allem, dass anstelle des Gewinnstrebens soziale Bedürfnisse, Kooperation, kollektives Lernen und solidarische Sozialbeziehungen die Dynamik bestimmen. Diese Bewegungsform entsteht bereits unter kapitalistischen Bedingungen. Sie bricht sich überall dort Bahn, wo Strategien sozialistischer Handlungsfähigkeit ökonomische Kapitalmacht einschränken.“
Eine Engführung des Begriffs Sozialismus mit digitaler Technik wird eher zum Problem. „Das Internet und seine infrastrukturellen Voraussetzungen gehören in die Hände demokratischer Zivilgesellschaften. Vor dem Zugriff durch oligopolitische Konzerne muss es ebenso geschützt werden wie vor der Willkür unkontrollierter staatlicher Macht.“
Eine Forderung kann sein, eine „bedingungslose Grundzeit“ für alle zu institutionalisieren, das Recht, für eine bestimmte Zeit aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden oder die Arbeitszeit zu verkürzen. Damit lässt sich auch ein Einstieg in die sukzessive Aufhebung gesellschaftlicher Arbeitsteilung bewerkstelligen.
Digitale Infrastruktur muss demokratische Koordination und Planung unterstützen, „deren wichtigste Funktion darin besteht, positive wie negative Externalitäten in die Preisbildung und die ökonomischen Anreizsysteme zu integrieren. Weil so Krisen und die Verschwendung von Ressourcen vermieden werden können, handelt es sich bei demokratischer Koordination um soziale Mechanismen, die den in kapitalistischen Marktwirtschaften verfügbaren allemal überlegen sind“.
Anders als von manchen angenommen, ist Kapitalismus nicht in erster Linie Mentalität und Ideologie, die sich einfach überwinden lässt, wenn man es nur genug will. Ein utopischer Überschuss ist wichtig, reicht aber nicht. „Zu prüfen ist, wie die Pandemie auf Gesellschaften wirkt, was sie für die Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen und die Überwindung der Zangenkrise bedeutet, wie der Coronastaat agiert und auf welche Weise das Seuchenmanagement sozialistische Handlungsfähigkeit beeinflusst.“ Die Ableitung eines „Ökoleninismus“, wie von manchen Autoren propagiert, ist falsch. Der Staat ist in der Lage, verbindliche Maßstäbe zu definieren, die für die Gesellschaft einen Wahrheitsgehalt besitzen und Verständigung ermöglichen.
Die Transformation ist bereits an vielen Stellen im Gange, es gilt ihr eine nachhaltig sozialistische Richtung zu geben. Hier gilt es, an aktuelle Kämpfe anzuschließen – beispielsweise gemeinsam mit Gewerkschaften nach möglichst kostengünstiger öffentlicher Mobilität. Auch der Bezug auf Projekte wie etwa einen globalen Green New Deal erscheint möglich. Die Polarisierung zwischen Klassen- und Identitätspolitik ist zu überwinden.
Die Verwirklichung der Utopie des Sozialismus wird auf demokratischem Wege, aber nicht ohne erhebliche und intensive politische Auseinandersetzungen gelingen können. Offensichtlich ist, dass es um grundsätzliche gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsfragen geht.
Klaus Dörre hat ein hochinteressantes Buch geschrieben. Dabei schafft er es zum einen, unter den Schlacken der Geschichte des 20. Jahrhunderts Elemente sozialistischen Denkens mit großem Aktualisierungspotenzial plausibel herauszuarbeiten. Zugleich spricht er einen blinden Fleck vieler aktueller Ansätze an, die Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen in das Zentrum politischer Transformationsforderungen stellen: Für die Bewältigung der Klimakrise ist die Frage zentral, welche Rolle das bestehende Wirtschaftssystem spielt und welche gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert werden müssen, um Veränderungen auch durchsetzen zu können.
Gerade vor diesem Hintergrund zeichnet diesen Band besonders aus, dass hier anders als bei vielen anderen Vorschlägen labour turn und climate turn tatsächlich ernsthaft zusammengedacht werden und Arbeitsgesellschaft und Umwelt nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zudem hält Dörre sich nicht lange mit einer rein moralischen Kritik am Bestehenden auf, sondern versucht, einen sozio-ökonomischen Analyserahmen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist die „Utopie des Sozialismus“ auch hier nicht als vollständig ausgemalte Vision einer zukünftigen Gesellschaft, sondern vor allem als ein Bezugsrahmen zu verstehen, der einige zentrale ethische und analytische Parameter herausarbeitet. Gefüllt wird dieser Rahmen zudem mit konkreten Beispielen und Ansätzen, im Hier und Jetzt mit der Gestaltung von Transformationsprozessen zu beginnen. Der Band ist damit ein spannender und mit dem Bezug auf eine „Utopie des Sozialismus“ durchaus mutiger Debattenbeitrag zu einer der großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit.
Verlag: Matthes & Seitz BerlinErschienen: 2021Seiten: 345ISBN: 978-3-7518-0328-1