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Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß– Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.
Der Konflikt zwischen Stadt und Land wird auch in Deutschland immer schärfer. Welche Rolle diese Distanz mittlerweile in der Politik spielt und was es tatsächlich auf sich hat mit der inhaltlichen Ferne der Bundespolitik von den Belangen ländlicher Regionen, ist Teil dieser politischen Vermessung. Während die Kluft zwischen den urbanen Zentren und der Peripherie zunimmt, versuchen die Parteien immer stärker, die lokalen Identitäten der Bürger_innen politisch zu mobilisieren. Mehr noch erkennt der Autor den Versuch, diesen Gegensätzen politische Sprengkraft zu verleihen. Vor allem die Grünen und die AfD treten als Nutznießer einer neuen Stadt-Land-Spaltung in Erscheinung.
Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse für alle Bürger_innen ist ein zentraler Handlungsauftrag des Grundgesetzes an die Politik der föderalen Bundesrepublik. Das hier vorgestellte Buch ist insofern von besonderer Bedeutung für die soziale Demokratie – schließlich ist eines ihrer zentralen Anliegen die Stärkung einer Gesellschaft, deren Mitglieder ihre Lebensbedingungen in demokratischer Weise gemeinsam so gestalten, dass alle Beteiligten in allen Teilen des Landes eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand und am öffentlichen Leben haben können.
Auch mit Blick auf das Thema Wahlen ist das Buch für die Soziale Demokratie höchstaktuell. Außen schwarz, innen grün – so lässt sich das Ergebnis der Wahlwiederholung in Berlin im Februar 2023 zusammenfassen. In ihm zeigt sich neben der Enttäuschung über den rot-grün-roten Senat nicht nur das Abstimmungsverhalten von Alt und Jung, sondern auch das Spannungsfeld zwischen Außenbezirken und Innenstadt bzw. Land und Stadt.
Verlag: C.H.BeckErschienen: 14.03.2022Seiten: 190ISBN: 978-3-406-78249-7
Lukas Haffert, Ökonom und Politikwissenschaftler, lehrt und forscht an der Universität Zürich. Er wurde mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft und mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet.
Seit 2018 ist er Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.
Haffert verwendet die Begriffe „Stadt“ und „Land“ in seinem Buch als Idealtypen, um die urbanen Zentren auf der einen und die ländliche Peripherie auf der anderen Seite zu markieren. Seine Analyse der heutigen Politik, die den Stadt-Land-Gegensatz in den Mittelpunkt stellt, macht sich also die Idee zunutze, dass Stadt und Land die Pole sowohl der ökonomischen als auch der kulturellen Achse darstellen. Auf diese Weise vermeidet Haffert langatmige Debatten darüber, welche der Spaltungen die wichtigere sei, ob also etwa der Aufstieg populistischer Parteien primär als ökonomisches oder als kulturelles Phänomen zu deuten sei.
Drei Grundannahmen prägen die politische Vermessung der Stadt-Land-Herausforderung und strukturieren die Analysen des Buches:
Die erste Annahme steht unter dem Titel „Trump und andere. Ein Konflikt kehrt zurück“. Sie lautet, dass die Rückkehr des Konflikts zwischen Stadt und Land Ausdruck einer grundlegenden Verschiebung des politischen Koordinatensystems in Deutschland und praktisch allen westlichen Demokratien sei. Wie Haffert ausführt, verlaufe dieser Konflikt zunehmend nicht mehr zwischen Arbeit und Kapital, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern ökonomischer Modernisierungsprozesse, die mit Globalisierung, technischem Wandel und der Entstehung einer Wissensökonomie zu tun haben. Zudem werde die Bedeutung dieses ökonomischen Konflikts verstärkt von einem kulturellen Konflikt zwischen liberalen-weltoffenen und konservativ-autoritären Wertvorstellungen überlagert. Dabei gebe es eine starke Korrelation zwischen beiden Phänomenen: Die Gewinner_innen der globalisierten Wissensökonomie finden sich tendenziell eher im liberalen (städtischen) Lager wieder, die Verlierer_innen eher im Lager der Autoritären, die mehrheitlich im ländlichen Raum bzw. den städtischen Randgebieten wohnen.
Die Wahlergebnisse in den westlichen Gesellschaften spiegeln eine wachsende Kluft zwischen den Identitäten der Menschen in prosperierenden Städten einerseits und peripheren Regionen andererseits wider. Pulsierende Metropolen und attraktive Universitätsstädte ziehen gebildete, tolerante und zumeist gutverdienende Bevölkerungsschichten an, die vom Staat allenfalls passende Rahmenbedingungen für die eigene Entfaltung erwarten. Den Gegenpol zu dieser dynamischen, optimistischen Elite bilden Menschen in ländlichen, teils überalterten Regionen, die ihre Werte und ihren Besitzstand durch andere bedroht sehen, sich mit dem kulturellen oder ökonomischen Wandel schwertun oder durch Defizite in der Daseinsvorsorge benachteiligt sehen.
Die zweite Grundannahme unter dem Titel „Politische Geographie der Entfremdung zwischen Stadt und Land“ lautet, dass Wähler_innen eine komplexe politische Welt nicht als Individuen navigieren, sondern sich an Gruppen orientieren, denen sie angehören und die sie als relevant wahrnehmen. Die Frage, ob man wählen geht, welche Partei man wählt und welche Themen bei der Wahlentscheidung im Vordergrund stehen, beantworteten die wenigsten Menschen völlig unabhängig von anderen für sich allein. Die meisten orientierten sich an ihrem Umfeld und den für sie wichtigen Gruppen. Deshalb sei Politik wesentlich ein Konflikt zwischen Gruppen, auf der Basis eines identitätsstiftenden Wir-Gefühls. Städtische und ländliche Identitäten seien also keine bloße Folklore, sondern politisch höchst relevant.
Zu betonen ist, dass der Autor im Zuge der Etablierung dieser Gegensätze und Spannungen zwischen Stadt und Land die ländliche Region keineswegs einseitig zum Problemfall erklärt. Vielmehr begreift er ländlich geprägte und urbane Milieus als zwei Seiten derselben Dynamik: Orte, die in diesem Prozess tonangebend sind, tragen ebenso zur Polarisierung bei wie Orte, die zurückbleiben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass man von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet nicht nur die Landbewohner_innen als diejenigen darstellen kann, die sich in erklärungsbedürftiger Weise vom nationalen Konsens entfernen. Auf die Städter trifft genau dieselbe Beschreibung zu. Sichtbar wird hierbei auch, dass der Graben zunehmend nicht mehr zwischen rechts und links, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern ökonomischer Modernisierungsprozesse verläuft. Wie der Autor schlussfolgert, ist es der Übergang von der Industrie- hin zur Wissensgesellschaft, der die Spaltung des Landes vorantreibt.
Dieser Prozess sorge für einen permanenten Zuzug gut ausgebildeter Arbeitskräfte in die urbanen Zentren, die dadurch ihren Status als Innovationsstätten weiter ausbauen: Wo smart gewirtschaftet wird, gesellt sich ein Start-up leicht zum anderen. Dieser Wandel hin zu einer Wissensökonomie sei aber nicht nur die Ursache für die wirtschaftliche Kluft zwischen Stadt und Land, sondern auch der Grund für eine kulturelle Entfremdung zwischen Städtern und Landbewohner_innen: Vor nicht allzu langer Zeit begegnete man sich noch mit einer Mischung aus Reserviertheit und Respekt. Seit urban den herrschenden Lifestyle definiere, gelte die Landbevölkerung aber auch in ästhetischer Hinsicht als abgehängt.
Anhand der Daten der Künstlersozialkasse, also der Sozialversicherung für Künstler_innen, Publizist_innen und Kreative, kann Haffert die Verteilung dieser Berufsgruppe mit den Wahlergebnissen von Grünen und AfD in Beziehung setzen. Es ist wenig überraschend, dass die Konzentration der kreativen Berufe in den Städten (und dort in bestimmten Stadtteilen) am größten ist, und dass an diesen Orten die Grünen besonders stark sind. Überraschend ist hingegen die Spannbreite der Ergebnisse – oder genauer gesagt, dass es mit den Grünen eine Partei gibt, die in einigen Wahlkreisen über 30 Prozent der Stimmen erzielt, in anderen dagegen nur vier, sechs oder acht Prozent. Das ist eine Spreizung, die man so von anderen Parteien nicht kennt.
Natürlich darf man die Bedeutung dieser Kontexteffekte nicht überzeichnen. Wie Haffert sagt, wird ein „linker Berliner […] nicht über Nacht zum CDU-Wähler_innen, wenn er aus beruflichen Gründen ins katholische Vechta zieht. Einen wichtigen Teil ihrer Einstellungsunterschiede bringen Städterinnen und Dörfler bereits mit, wenn sie sich für ihren Wohnort entscheiden: Kosmopolit_innen zieht es in die Stadt, Kommunitaristen bleiben auf dem Land. Für die politische Intensität von Stadt-Land-Konflikten ist die Frage, warum Städter oder Dorfbewohner zu einem „Wir“ zusammenwachsen, aber nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass dieses „Wir“ existiert und politisch mobilisiert werden kann.“
Die dritte für Hafferts Buch zentrale Annahme steht unter dem Titel –„Berlin – Metropole und Metropolenkritik“. Deutschland verfüge heute, anders als zu Zeiten der Bonner Republik, wieder über eine Hauptstadt mit Metropolencharakter. Dieser Umstand habe einen wichtigen Einfluss auf den Charakter des Stadt-Land-Konflikts. Denn dies gehe mit sich selbstverstärkenden Effekten und Entwicklungen einher, die im Polit- und Wahlsystem Deutschlands angelegt seien: Berlin sei das politische Zentrum Deutschlands, in dem neben den Abgeordneten eine Vielzahl von nichtgewählten Politikmacher_innen in den Ministerien und Parteizentralen sowie in politiknahen Verbänden politischen Einfluss ausüben. Dies führe dazu, dass städtische Fragestellungen priorisiert würden und damit die Politagenda zuungunsten des ländlichen Raums dominierten.
Je mehr also in den Wahlkreisen und in Berlin Politik durch akademisch gebildete und urban geprägte Menschen verantwortet werde und je mehr sie folglich aus dem Blickwinkel und für die Bedürfnisse urbaner Zentren gestaltet würde, desto größer werde die mentale Distanz zur Peripherie und ihren Erfordernissen. Und je weniger sich die durch diese Prozesse marginalisierten Gruppen von städtisch und kosmopolitisch gefärbter Politik adressiert und repräsentiert fühlten, desto empfänglicher würden sie für die politischen Angebote der vermeintlichen Kümmerer am rechten Rand des politischen Spektrums.
Zusammenfassend kommt der Autor zu folgendem Schluss: Stadt- und Landbewohner_innen standen sich nie besonders freundlich gegenüber. Selten jedoch war das Verhältnis so angespannt wie heute. Seit Donald Trumps Präsidentschaft gilt die Provinz bestenfalls als Ort mit miesem Mobilempfang und im schlechtesten Fall als Tummelplatz antidemokratischer Kräfte. Dass eine Metropole wie Berlin in diesem Kampf zwischen Stadt und Land zum Zankapfel wird, ist naheliegend: Die urbanen Eliten in der Hauptstadt mit ihren liberalen Sitten sind ein gefundenes Fressen für Populisten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Werte wie die Akzeptanz der Vielfalt von Menschen und Lebensformen, Toleranz und Weltoffenheit allenfalls einem Teil der Bürger_innen zugutekommen. Jenseits des Berliner S-Bahn-Rings beginnt bereits die Peripherie und damit das Land. Die Ironie des postindustriellen Zeitalters dabei ist: Die umstrittene Wahl Berlins zur Hauptstadt und zum Regierungssitz wurde einst auch mit dem Argument verfolgt, hier würde der Politikbetrieb endlich einmal mit der sozialen Realität konfrontiert. Inzwischen sind Abgeordnete, Journalist_innen und sonstige Kreativkräfte wieder weitgehend unter sich.
Grundlegend neu sind Hafferts Einsichten zwar nicht – doch er gräbt tiefer als andere. Der Zugewinn von Hafferts überaus gelungener Analyse liegt in der wesentlich differenzierteren Darstellung der aus dem Spannungsfeld zwischen Stadt und Land resultierenden Konfliktlinien: Statt bloß Behauptungen aufzustellen, spürt er Paradoxien, blinde Flecken und Repräsentationslücken im politischen System auf und unterfüttert diese mit statistischem Material. Überzeugend werden Stadt und Land als noch heute wirksame Identitätsquellen mit politischem Mobilisierungspotenzial beschrieben.
Fertige Lösungen finden die Leser_innen in Hafferts Buch nicht. Zu unaufhaltsam sei die ökonomische Dynamik, zu komplex die Problematik, um Patentrezepte für realistisch zu halten, meint der Autor. Er plädiert dafür, mehr über den Umgang mit als über die Ursachen von Stadt-Land-Gegensätzen nachzudenken, weil vieles dafür spreche, dass die Bedeutung dieser Gegensätze in der deutschen Politik in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.
Es bleibt einem also nicht erspart, die angebotenen Szenarien selbst weiterzudenken. Wer mag, findet beim Arbeitskreis Nachhaltige Strukturpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung mehr handlungsanleitende Politikoptionen.[1] Fündig wird man dort auch, wenn man sich für die europäische Dimension dieser Frage oder für Erfolgsrezepte anderer Länder interessiert.
[1] https://www.fes.de/abteilung-wirtschafts-und-sozialpolitik/arbeitskreis-nachhaltige-strukturpolitik