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Spezialausgabe zur Ringvorlesung aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt.
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Kurzgefasst und eingeordnet von Stefan Schrumpf – Stefan Schrumpf ist promovierter Historiker, selbstständiger Lerncoach und Geschäftsführer bei www.lerndoktor.de
Das Sachbuch rückt die Jahre 1966 bis 1969 in den Mittelpunkt, in denen Willy Brandt Außenminister der Großen Koalition war und die in der öffentlichen Wahrnehmung und wissenschaftlichen Betrachtung zumeist von Brandts nachfolgender Kanzlerschaft überstrahlt werden. Es bestätigt das Bild eines energischen, gestaltungsmächtigen Außenministers mit starkem eigenen Profil, dessen Möglichkeiten allerdings durch einen immer wieder in seinen Zuständigkeitsbereich hineinregierenden Bundeskanzler Kiesinger stark eingeschränkt wurden. Viele Ideen und Konzepte des Außenministers Brandt konnten erst vom Bundeskanzler Brandt umgesetzt werden. Gleichwohl gelangen wichtige Weichenstellungen, trotz des teils erbitterten Widerstands des Koalitionspartners, vor allem in der Deutschland- und Ostpolitik.
Der Außenminister Willy Brandt wird charakterisiert als beharrlicher Kämpfer für die von ihm maßgeblich geprägten fortschrittlichen Ideale der Sozialen Demokratie im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als realistischer Visionär scheut er dabei weder pragmatische Lösungen noch schmerzhafte Kompromisse oder Konflikte, ob innen- oder außenpolitisch, ob mit dem politischen Gegner oder auch innerparteilich. Gemeinsam mit Egon Bahr entwickelt und vervollständigt er die Idee des „Wandels durch Annäherung“. Seine Erfahrungen und Erlebnisse in diesen Jahren sind richtungsweisend und fundamental für die Ausschärfung und Umsetzung der sozialdemokratischen Konzepte der nachfolgenden Regierung Brandt.
Maak Flatten studierte Geschichte und Englisch in Bonn, Berlin und Berkeley. Sein Rigorosum zur Erlangung des Dr. phil. absolvierte er 2019 an der Universität Bonn. Er ist Lehrer sowie Kern- und Fachseminarleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Düren.
Die Bilanz der Außenpolitik unter Willy Brandt ist ambivalent.
Das zuvor belastete Verhältnis zu den USA und Frankreich konnte Brandt schnell normalisieren.
Es gelang viele neue von der SPD geprägte Impulse zu setzen, beispielsweise den direkten Dialog mit Moskau und Ost-Berlin anstelle von Versuchen der Isolierung, die Abkehr von der Formel „Erst Wiedervereinigung, dann Entspannung“, die Einbeziehung der DDR in die Diskussionen zu einer Gewaltverzichtserklärung und die Relativierung des Alleinvertretungsanspruchs vom Rechtstitel zur „moralischen Pflicht“.
Diese Impulse mussten aber allesamt dem Koalitionspartner mühsam abgerungen werden, der nicht bereit war, auf den Osten zuzugehen, während Brandt überzeugt war, dass ohne Verhandlungsangebote des Westens keine Verhandlungen zur Annäherung stattfinden würden.
Eine „Außenpolitik der Großen Koalition“ hat es also eigentlich gar nicht gegeben. Sämtliche wichtigen Maßnahmen erfolgten als Kompromiss zwischen den fortschrittlichen Ideen Brandts und Bahrs und der mutlos auf dem Bisherigen beharrenden Union.
Stattdessen entwickelten und konkretisierten Brandt und Bahr in dieser Zeit die Konzepte, die im Moskauer Vertrag, Warschauer Vertrag und dem Grundlagenvertrag münden sollten.
Der Weg zu einer echten Annäherung zwischen Ost und West war bereitet. Gegangen werden konnte er aber erst von einer sozialliberalen Regierung.
Willy Brandt verfügte bereits bei seinem Amtsantritt im Außenministerium über ein klares außenpolitisches Profil. Er konnte an vieles anknüpfen, was er „als junger Mann im skandinavischen Exil, als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ gedacht und gesagt hatte.
Die sozialdemokratische Ost- und Deutschlandpolitik, die 1961 bis 1963 konzipiert und ausgeschärft wurde, trägt seine Handschrift. Ein zentraler Aspekt war die Überzeugung, „auch im Osten die Hypotheken der Vergangenheit ab[zu]tragen“ und dazu gehörte für ihn zwingend die Akzeptanz der Nachkriegsrealitäten Oder-Neiße-Grenze sowie Existenz der DDR.
Diese unermüdliche Arbeit für Entspannung und die Annäherung von Ost und West wurde 1963 erstmals von Egon Bahr auf die programmatische Formel „Wandel durch Annäherung“ verdichtet.
Als Brandt die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Gerhard Schröder übernahm, hatte dieser mit seiner „Politik der Bewegung“ erste Tore nach Osten aufgestoßen, ohne dass es eine signifikante Annäherung gegeben hätte. Das gegenseitige Misstrauen war zu groß, der Widerstand der CDU/CSU gegen Zugeständnisse gen Osten noch größer. Die Zeit schien reif für einen deutlichen Wandel in der Deutschlandpolitik.
Insgesamt war die außenpolitische Bilanz der Regierung Erhard verheerend, die Beziehungen der Bundesrepublik zu den USA und Frankreich befanden sich auf dem Tiefpunkt. Dies spielte eine wesentliche Rolle beim bald darauffolgenden Rückzug der FDP-Minister und dem Sturz Erhards.
Die Bildung der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger gilt gemeinhin als das Werk Wehners und Schmidts; Brandt habe eine sozialliberale Koalition präferiert und erst überzeugt werden müssen. Letztlich gab die nur knappe Mehrheit einer SPD/FDP Koalition den Ausschlag. Brandt hatte weitreichende Pläne, dafür hielt er eine breitere Parlamentsmehrheit für notwendig, als ihm die FDP, trotz größerer inhaltlicher Nähe, gewährleisten konnte.
Bei den Koalitionsgesprächen legte Brandt großen Wert darauf, dass ein sozialdemokratisches Profil sichtbar blieb. So lehnte er kategorisch eine deutsche Teilhabe an Atomwaffenbesitz ab, auch auf europäischer Ebene. Dies sollte ein stetiger Konfliktpunkt der Koalitionspartner bleiben. Auch die Frage der Deutschlandpolitik lieferte Zündstoff. Trotzdem kam Brandt zum Ergebnis, dass die Differenzen zwischen Union und SPD geringer seien, als gedacht. Ohne Enthusiasmus, aber von der pragmatischen Notwendigkeit überzeugt, stimmte Brandt dem Bündnis zu.
Ursprünglich wollte Brandt gar kein Ministeramt übernehmen. Letztlich entschied er sich für das Außenministerium, weil er dort den größtmöglichen Gestaltungsspielraum zur Durchsetzung sozialdemokratischer Vorstellungen sah – und weil er als Vizekanzler ein Gegengewicht zum außenpolitisch ausgesprochen interessierten Kiesinger bilden wollte. Der Konflikt war programmiert.
Erschwerend kam hinzu, dass Kiesinger und Brandt von Anfang an persönliche Differenzen hatten. Das gegenseitige Misstrauen war tief und sollte sich im Laufe der Regierungszeit zu einer regelrechten Abneigung auswachsen. Kontroverse Fragen wurden nicht zuletzt deshalb schon vor den eigentlichen Gremiensitzungen von Fraktionen und Koalitionsausschuss in den wöchentlichen Sitzungen des Kreßbronner Kreises diskutiert, einer informellen Gesprächsrunde der Spitzen aus CDU/CSU und SPD.
Trotz seines ursprünglichen Unwillens, dieses Amt zu übernehmen, war Brandt für das Außenministerium geradezu prädestiniert. Er war versiert in vielen Sprachen, hatte historische Kenntnisse, kannte bereits zahlreiche Akteure der internationalen Diplomatie und besaß dank seiner Biografie ein großes Vertrauenskapital im Ausland.
Im Amt konnte er auf seinen wichtigsten Berater aus Berlin zurückgreifen: Egon Bahr. Er war es, der dem vom Tagesgeschehen ausgelasteten Außenminister den Rücken freihielt, Studien und Schriftstücke sondierte und auswertete, die operative Politik vorbereitete sowie langfristigere konzeptionelle Überlegungen anstellte. Als Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt erarbeitete er für Brandt Ideen und Vorschläge zu Ost-, Deutschland- und Entspannungspolitik, aus denen dieser auswählen konnte.
In der Personalpolitik war die Parteizugehörigkeit für Brandt kein entscheidendes Kriterium. Fähige, loyale und geeignete Beamte behielten ihre Posten, auch wenn sie der CDU angehörten. Kritik brachte ihm ein, dass er diesen pragmatischen Ansatz ebenso bei Beamten verfolgte, denen NS-Verstrickungen nachgesagt wurden.
Bei der Neubesetzung der Botschaften in Osteuropa legte er dagegen größten Wert darauf, dass die Diplomaten zuverlässig seine Linie vertraten. Das führte wiederholt zu Konflikten mit dem Koalitionspartner, der beispielsweise die Berufung des Berufsdiplomaten Hans Arnold nach Belgrad verhinderte.
Mit Ellinor von Puttkamer als Ständige Vertreterin der Bundesrepublik beim Europarat erlangte unter Brandt erstmals eine Frau den Rang einer Botschafterin.
Der Minister selbst absolvierte ein immenses Arbeitspensum. Gewissenhaft las er Akten und kommentierte Vorlagen. Er war stets gut vorbereitet. Sein Umgangston wurde geschätzt, er hatte ein Ohr für Mitarbeiter, und bei vielen wandelte sich die anfängliche Loyalität in Überzeugung und Bewunderung.
Unmittelbar nach Amtsantritt setzte Brandt die Marksteine der künftigen bundesdeutschen Außenpolitik: Wiederherstellung des Vertrauens, Glaubwürdigkeit und Friedenssicherung. Neben der ausdrücklichen Einbeziehung der Sowjetunion in Gespräche und der Akzeptanz der DDR als „quasi-staatliches Gebilde“, ließ er auch Kompromissbereitschaft bezüglich des umstrittenen Nichtverbreitungsvertrags, besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag, erkennen.
Schnell stellten sich Erfolge ein: Das Verhältnis zu Paris, Washington und London verbesserte sich. Das geschah trotz äußerst schwieriger Verhandlungen über den Nichtverbreitungsvertrag, der auch innerhalb der Koalition für Unfrieden sorgte. Vor allem Strauß lehnte ein solches Vertragswerk rundheraus ab.
Vorbedingungen für erste Gespräche mit Moskau wurden ausgelotet. Mit zahlreichen osteuropäischen Staaten wurde die Möglichkeit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen diskutiert, was zumindest einer Relativierung der Hallstein-Doktrin gleichkam. Brandt machte überall eine gute Figur und kam an.
Innerhalb der ersten 60 Tage seiner Amtszeit war es Brandt gelungen, den „Anfang vom Anfang einer neuen, realistischen und aktiven Politik“ zu machen. Die Bundesrepublik hatte ihre Position und Glaubwürdigkeit gefestigt und ihren diplomatischen Handlungsspielraum erweitert.
Brandt stand einer weitreichenden europäischen Integration mit supranationalen Institutionen offen gegenüber, hielt aber einen europäischen Bundesstaat nicht für realistisch. Aber es gab keine stimmige oder abgestimmte Europastrategie der Bundesregierung. Stattdessen entsprach es Brandts Pragmatismus, stets den nächstmöglichen Schritt hin zu einer europäischen Einigung im Blick zu haben und umzusetzen.
Als erhebliches Hindernis erwies sich Charles de Gaulle, der sich, trotz anfänglichen Wohlwollens, auch nicht als Partner für eine neue Ostpolitik gewinnen ließ. Gleichzeitig wurde jede deutsch-französische Annäherung von den USA argwöhnisch beäugt. Brandt gelang es in vielen Gesprächen, die Befürchtungen zu zerstreuen, ein engeres Verhältnis Bonn/Paris könne zu einer Entfremdung zu Washington führen. In dieser Situation wagte er nur vorsichtige Kritik am amerikanischen Engagement in Vietnam, was ihm erheblichen Gegenwind in der eigenen Partei einbrachte.
Noch größer war die Gratwanderung bei den langwierigen Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag. Trotz intensiver Bemühungen Brandts verhinderten Kiesingers Verzögerungstaktik und die Fundamentalopposition der CSU unter Strauß eine deutsche Unterschrift.
Dagegen hatte Brandt dank intensiver diplomatischer Bemühungen erheblichen Anteil daran, dass die Ideen des Harmel-Berichts bezüglich einer abgestimmten Entspannungspolitik der NATO-Partner gegenüber den Staaten des Ostblocks erfolgreich in der neuen NATO-Sicherheitsstrategie des flexible response umgesetzt wurde. Die Anregungen des Warschauer Paktes im Budapester Appell zur Bildung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa griff er auf und arbeitete gleichzeitig mit Egon Bahr am Konzept einer europäischen Friedensordnung, in der die Deutsche Frage integriert war.
In der Frage des Umgangs mit der DDR und den osteuropäischen Staaten traten die programmatischen Dissonanzen zwischen den Koalitionspartnern immer wieder deutlich zutage. Für einen fruchtbaren Ost-West-Dialog notwendige Neuansätze wie die Abkehr von der Hallstein-Doktrin und eine De-facto-Anerkennung der DDR fielen Kiesinger schwer zu akzeptieren, und noch schwerer seiner Fraktion.
In vielen Aspekten hieß es daher „Zwei Schritte vor, einer zurück“ – und manchmal auch anderthalb. So etwa bei dem schleppend einsetzenden Briefwechsel Kiesingers mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR Willi Stoph, dem Handelsabkommen mit der ČSSR, der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien und dem deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtsdialog.
Der Einmarsch des Warschauer Paktes in die ČSSR machte die begrenzten diplomatischen Einflussmöglichkeiten unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges deutlich. Brandt sah sich auf tragische Weise bestätigt, dass Schritte der Annäherung zwischen Ost und West nur in homöopathischen Dosen und mit Moskaus Zustimmung erfolgen konnten, ohne dabei den kommunistischen Osten allein auf Moskau zu reduzieren. Während sich zahlreiche Skeptiker in der Union bestätigt und den Eisernen Vorhang gewissermaßen betoniert sahen, rückten Brandt und die SPD-Führung vom Ziel der Entspannung, des „Wandels durch Annäherung“ nicht ab. Man achtete aber nun auf leise Töne.
So nutzte Brandt die schwierigen Verhandlungen mit DDR und UdSSR über die Durchführung der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten 1969, um vorsichtige Annäherungen im deutsch-deutschen Verhältnis zu erreichen, und initiierte eine neue Berlin-Initiative der Westmächte.
Diese Beharrlichkeit zahlte sich aus: Moskau, Budapest und Warschau signalisierten Bereitschaft zu weitergehenden Schritten. Konkrete Verhandlungen wurden vorbereitet, ihr Startschuss erfolgte aber erst unter Bundeskanzler Willy Brandt.
Das Buch ist kein unterhaltsamer Schmöker für trübe Herbstabende im Ohrensessel. Aber es gehört zweifellos in die Bibliothek von jedem, der sich mit politischen und historischen Wissenschaften beschäftigt, über Parteigrenzen hinweg.
Der Detailreichtum ist beeindruckend. Qualität und Quantität der ausgewerteten Quellen, insbesondere die zahlreichen Zeitzeugengespräche, machen das Buch zu einem unverzichtbaren Standardwerk für das Verständnis der brisanten diplomatischen Lage der Jahre 1966-1969. Sie gewähren aber auch intime Einblicke in das von Anfang an problematische Verhältnis der Koalitionspartner.
Die Strukturierung – teils chronologisch, teils thematisch, – ist sinnvoll und erleichtert den Zugang. Die Darstellung selbst ist überwiegend deskriptiv, geht aber immer wieder auf zentrale Forschungsdiskussionen ein. Kontroversen werden diskutiert, ohne allzu pointierte Positionierungen vorzunehmen.
Ohne in naive Heldenverehrung zu verfallen, wird Willy Brandts Zeit als Außenminister fachlich fundiert und sachlich argumentiert in allen Details ausgeleuchtet. Es wird deutlich, dass sie in all ihren Facetten fundamental war für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit und des Politikers Willy Brandt, der in seiner Kanzlerschaft in den Olymp der herausragendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts aufsteigen sollte.
Verlag: DietzErschienen: 08/2021Seiten: 760ISBN: 978-3-8012-4277-0