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Miriam Meckel und Léa Steinacker (2024): Alles überall auf einmal

Anmerkungen zur Hyperkomplexität der Gegenwart. Hamburg: Rowohlt

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Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers.
Paula Schweers arbeitet nach Stationen in Politik und Wissenschaft für das ARTE Magazin und als freie Journalistin und Autorin. Ihr Debütroman „Lawinengespür“ erschien 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt.


buch|essenz

Kernaussagen

Die immer selbstverständlicher werdende Nutzung von Künstlicher Intelligenz verändert unser Zusammenleben in allen Bereichen des Alltags. Spätestens seit der Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT im Jahre 2022 ist die breite gesellschaftliche Anwendung von KI-Systemen ein Teil unseres Alltags. Diese Veränderung wird ähnlich einschneidend wirken wie die Einführung der Dampfmaschine. Dabei hat die Weiterentwicklung von KI einerseits das Potenzial, eine Erneuerung von Politik- und Wirtschaftssystemen mit sich zu bringen, andererseits aber auch bestehende Probleme wie soziale Ungleichheit oder die Erosion demokratischer Strukturen zu verstärken. Es braucht daher ein Mindestmaß an weltweit gültigen Regeln für die Forschung an und Arbeit mit KI-Systemen.

Mit Blick auf das Thema Erwerbsarbeit zeigt die Studienlage, dass trotz fortschreitender Automatisierung durch die generative KI zusätzliche Jobs entstehen werden. Zudem wird Arbeit zukünftig einfacher und weniger gesundheitsgefährdend werden. Voraussetzung hierfür ist indes, dass es Anreize für Unternehmen gibt, diese Transformation anzugehen, sowie umfangreiche Qualifizierungsangebote für Arbeitnehmer_innen aller Hierarchiestufen zu machen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Weiterentwicklung von KI-Systemen wird die Arbeitswelt stark verändern. Fraglich ist aus Sicht der Sozialen Demokratie, wie diese Transformation sozial gerecht gestaltet kann. Im Hinblick hierauf zitieren die Autorinnen aktuelle wissenschaftliche Studien über die Zukunft des Arbeitsmarkts und formulieren auf dieser Basis konkrete Handlungsempfehlungen für Akteur_innen aus Wirtschaft und Politik.


buch|autorinnen

Miriam Meckel ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen. Sie lehrte als Gastprofessorin an der Universität Harvard sowie in Singapur, New York und Wien. 

Léa Steinacker ist Sozialwissenschaftlerin, Journalistin und Unternehmerin. Sie studierte in Princeton und Harvard und promovierte an der Universität St. Gallen über die sozialen Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz. 


Léa Steinacker & Miriam Meckel: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Steinacker und Meckel stellen in ihrem Buch zunächst die Geschichte und Entwicklung von KI-Systemen dar. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Sprachmodell ChatGPT. Parallel wird erläutert, wie KI zentrale Grundannahmen unseres bisherigen Zusammenlebens und -arbeitens infrage stellt. Abschließend werden Lösungsansätze und Vorschläge zur Regulierung vorgestellt und diskutiert.

Eine neue Zeit: Die Bedeutung generativer KI

Die meisten modernen KI-Systeme beruhen auf künstlichen neuronalen Netzwerken. Ähnlich wie bei den Neuronenverknüpfungen im menschlichen Gehirn wird darin jede Verbindung, die zu einer richtigen Entscheidung führt, im Laufe der Trainingszeit stärker gewichtet. Das System ist also lernfähig.

Eine bestimmte Art von KI-Anwendungen, die nicht nur sortieren und optimieren, sondern vor allem kreieren können, sind generative KI. Hierzu zählt auch der Chatbot ChatGPT, dessen Einführung im Jahre 2022 den Beginn einer neuen Zeit markiert, in der KI-Systeme für eine breite Bevölkerung zugänglich werden.

Potenziale und Problemfelder von generativer KI

  • Erstens: das kulturelle Selbstverständnis. Die Einschätzung der Kreativität und Originalität von Texten oder anderen künstlerischen Erzeugnissen verändert sich durch den verstärkten Einsatz von KI enorm. Einerseits wird durch KI die Fähigkeit erweitert, sich eines bereits vorhandenen Wissensfundus zu bedienen und dieses Material neu zu kombinieren. Andererseits entsteht aufgrund fehlender Kontrollinstanzen das Problem, dass Konsument_innen Original und Fälschung in Bezug auf Bilder oder Texte schlechter unterscheiden können.
  • Zweitens: die wirtschaftliche Produktivität. Da davon auszugehen ist, dass KI-Systeme künftig immer mehr der alltäglichen Arbeitsaufgaben übernehmen werden, wäre zu vermuten, dass vermehrt Kapazitäten für andere Tätigkeiten frei werden. Bisher gibt es zwar keine Studien, die auf einen solchen Zusammenhang zwischen technologischem Fortschritt und Produktivität hinweisen. Unklar ist jedoch, ob dieser Befund endgültig ist oder ob der Zusammenhang mit den bisherigen Untersuchungsmethoden lediglich schwer zu messen ist oder sich ein messbarer Produktivitätsschub erst nach einer längeren Zeit einstellt.
  • Drittens: die soziale Gerechtigkeit. Große Player aus der Tech-Industrie warnen vor möglichen Jobverlusten und wachsender Arbeitslosigkeit. Auch die Investmentbank Goldman Sachs prognostiziert, dass künftig 18 Prozent aller Arbeitsplätze weltweit automatisiert werden könnten. Studien, etwa von der OECD oder der International Labor Organisation, weisen hingegen darauf hin, dass trotz fortschreitender Automatisierung insgesamt betrachtet mehr Jobs entstehen werden und dass Arbeit angenehmer und weniger gesundheitsgefährdend wird. Dies gilt jedoch nur, wenn Arbeitnehmer_innen aller Hierarchiestufen für den Umgang mit generativer KI geschult werden. Dann hat KI sogar das Potenzial, für mehr Chancengleichheit zu sorgen, etwa indem sprachliche Schwierigkeiten oder Übersetzungsprobleme durch KI ausgeglichen werden.

Lösungsansätze und Regulierungsvorschläge

Für den produktiven Einsatz von KI ist zentral, dass Mensch und KI-System komplementär arbeiten, sich also in ihren Fähigkeiten ergänzen. Im Umgang mit generativer KI sind dabei primär Schlüsselkompetenzen wie analytische Fähigkeiten, Flexibilität, Kreativität und emotionale Intelligenz gefragt. Erst danach folgen Anwendungskompetenzen wie Prompt Engineering, also die Fähigkeit, Fragen und Anweisungen an ein Sprachmodell so zu formulieren, dass es präzise und spezifische Antworten ausgibt. Unternehmen müssen Strategien für den Einsatz generativer KI entwickeln und diese ihren Mitarbeiter_innen kommunizieren. Auf übergeordneter Ebene wird es entscheidend sein, die menschliche Selbstwirksamkeit im Zusammenspiel mit KI neu zu definieren.

Bisherige Regulierungsversuche auf Gesetzesebene stellen sich in unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich dar und sind Schauplatz ideologischer Konflikte. In der EU wird aktuell über eine Verordnung namens Artificial Intelligence Act (AIA) diskutiert, die zum weltweit umfangreichsten KI-Gesetz werden könnte. Dem Entwurf der europaweit gültigen KI-Verordnung liegt ein risikobasierter Ansatz zugrunde, d. h., die Regulierung variiert je nach potenziellem Risiko eines KI-Systems und dessen möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen. So könnten KI-Systeme, die inakzeptable Risiken für die öffentliche Sicherheit darstellen, verboten werden, während risikoarme Systeme wie beispielsweise KI-basierte Videospiele keinen Regulierungen unterlägen.

Mit Blick auf die Risiken der Technologien sollte es Regulierungen zum Datenschutz, zur Haftung, zur Nachhaltigkeit, zur Diskriminierung sowie zur Moderation von Inhalten geben. Es braucht ein Mindestmaß an weltweiten Regeln für KI-Forschung und Entwicklung.


buch|votum

Steinacker und Meckel ist ein leicht lesbarer und dennoch umfassender Überblick über die aktuelle Forschungssituation und politische Gemengelage rund um das Thema KI-Systeme gelungen. Besonders interessant ist die Darstellung der aktuellen Studienlage, die ein recht positives und wenig alarmistisches Bild von den Auswirkungen von KI-Systemen auf den Arbeitsmarkt zeichnet.

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Verlag: Rowohlt
Erschienen: 13.02.2024
Seiten: 400
ISBN: 978-3-498-00710-2

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