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Wolfgang Merkel (2023): Im Zwielicht

Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert. Frankfurt: Campus Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans Peter Schunk.
Hans Peter Schunk ist Doktorand am Seminar für Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg


buch|essenz

Kernaussagen

Gerät die Demokratie als die überlegene politische Ordnungsform der westlichen Gesellschaften ins Zwielicht? Stehen wir gar vor einer "Demokratiedämmerung"? Wolfgang Merkel beleuchtet verschiedene Facetten der Demokratie, von ihrer Resilienz bis zur Bewältigung von Krisen. Dabei werden Kompromissfindungen in sozioökonomischen und kulturellen Konflikten ebenso thematisiert wie die Renaissance der wehrhaften Demokratie im Umgang mit dem Rechtspopulismus. Gleichzeitig wird vor einer möglichen Illiberalisierung der Gesellschaft gewarnt. Trotz Herausforderungen, insbesondere im Bereich des Verfassungsschutzes und der Polarisierung der Diskurse, sollte die Demokratie nicht abgeschrieben, sondern durch kluge Politik gestärkt werden.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Notwendigkeit, demokratische Prinzipien in Zeiten von Krisen zu bewahren und dabei die Balance zwischen Effektivität und dem Erhalt demokratischer Werte zu wahren, entspricht den Grundsätzen der Sozialen Demokratie. Die Betonung von Resilienz in der Demokratie und die Anerkennung der Bedeutung von Zeit in politischen Entscheidungsprozessen spiegeln die Ausrichtung der Sozialen Demokratie auf eine inklusive und nachhaltige Politik wider. Auch die potenziell daraus resultierenden Machtungleichgewichte und sozialen Ungleichheiten repräsentieren Themen, die im sozialdemokratischen Diskurs von zentraler Bedeutung sind.


buch|autor

Wolfgang Merkel, geboren am 17. Juli 1952, ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und hat in seiner Karriere zahlreiche Veröffentlichungen zu politischen Systemen, Demokratie und Transformationen in Europa verfasst. Seine Forschung konzentriert sich insbesondere auf die Analyse politischer Systeme und Institutionen.


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buch|inhalt

Herrschaft

Die Grundidee der Demokratie manifestiert sich in der Selbstherrschaft, doch die Dynamiken und Herausforderungen politischer Machtstrukturen im 21. Jahrhundert sind nicht ohne Weiteres darauf anwendbar. Moderne Gesellschaften und politische Systeme sind durch Globalisierung, Technologisierung und neue Formen politischer Partizipation komplexer geworden. Vor diesem Hintergrund muss die ursprüngliche Idee der Selbstherrschaft neu interpretiert und angepasst werden, um den aktuellen politischen Realitäten gerecht zu werden. Die Metapher des Zwielichts symbolisiert die Ambivalenz, Zerbrechlichkeit und Resilienz moderner demokratischer Strukturen. Etablierte Modelle repräsentativer Demokratie stoßen in einer zunehmend globalisierten Welt auf neue Phänomene von Macht und Einfluss, wodurch herkömmliche Modelle demokratischer Herrschaft neuen, teils disruptiven Herausforderungen gegenüberstehen.

Im 21. Jahrhundert überschreiten globale Herausforderungen nationale Grenzen, erfordern internationale Kooperation und stellen die Demokratie vor dilemmatische Fragen. Die transnationale Natur vieler Probleme steht im Kontrast zur dominierenden Rolle der Nationalstaaten, was einen zunehmenden Bedarf an internationaler Abstimmung zur Folge hat. Demokratische Institutionen hinken diesem Bedarf teilweise hinterher, und es stellt sich die Frage, ob mangelnde Vorstellungs- und Innovationskraft langfristig zur Erosion der Demokratie führen könnten.

Eine umfassende Diskussion über die Erosion traditioneller demokratischer Strukturen führt zur Frage, inwieweit soziale Medien, wirtschaftliche Interessen und transnationale Organisationen die politischen Entscheidungen prägen. Die klassischen Formen repräsentativer Demokratie müssen ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen, um in einer sich ständig wandelnden Welt relevant und legitim zu bleiben.

Der Einfluss globaler Entwicklungen auf nationale Herrschaftsstrukturen zeigt, wie wirtschaftliche Interdependenzen und transnationale Akteure die Autonomie von Nationalstaaten beeinflussen und welche weitreichenden Implikationen diese Faktoren für demokratische Prozesse haben können.

Mögliche Implikationen könnten sein:

  1. Verlust an Souveränität: Nationale Regierungen könnten einen Teil ihrer Souveränität an internationale Institutionen oder wirtschaftliche Mächte abgeben, was die Selbstbestimmung auf nationaler Ebene einschränken könnte.
  2. Demokratische Legitimität: Die Beteiligung der Bürger_innen an demokratischen Prozessen könnte beeinträchtigt werden, wenn Entscheidungen vermehrt von externen, nicht gewählten Akteuren beeinflusst werden.
  3. Anpassungsbedarf: Traditionelle Formen repräsentativer Demokratie müssen sich an die neuen globalen Realitäten anpassen, um weiterhin relevant und legitim zu bleiben.
  4. Transnationale Kooperation: Es könnte eine verstärkte Notwendigkeit für internationale Kooperation und Koordination entstehen, um globalen Herausforderungen effektiv zu begegnen.

Diese Implikationen verdeutlichen die Komplexität und die potenziellen Veränderungen in den demokratischen Prozessen angesichts globaler Entwicklungen und transnationaler Einflüsse.

Die Machtungleichgewichte innerhalb moderner Gesellschaften zeigen, dass soziale Ungleichheiten und der Einfluss von Interessengruppen die demokratischen Institutionen formen und möglicherweise untergraben können. Sie spielen dabei genauso eine Rolle wie Mechanismen der Machtakkumulation und -distribution.

Der romantische Traum „antiker Volksgewalt“ scheitert an den realen Bedingungen, Anforderungen und Störgrößen. Als Beispiele genannt werden hier die Handels- und Militärpolitik der Supermacht USA oder der Einfluss von Megakonzernen wie Google, Amazon oder Microsoft auf demokratisch gewählte Regierungen. Traditionelle Modelle von Macht und Politik werden durch neue Entwicklungen herausgefordert. Diesen steht eine Demokratie gegenüber, welche ihre Widerstandsfähigkeit und Legitimität in einer zunehmend komplexen und globalisierten Welt zu bewahren (und zu beweisen) versucht.

Krise

Es mag aufgrund medialer Darstellungen und Katastrophenrhetorik anmuten, als befände sich die Demokratie im Rückzug. Doch die Lage ist nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Einstweilen muss die Krise als solche definiert werden, ehe man sie diagnostiziert. Dabei bedarf es neben der semantischen Bedeutung auch derjenigen Parameter, die eine Demokratiekrise tatsächlich ausmachen. Bei der Betrachtung von neoliberalen Finanzmärkten, Volksparteien, dem Umgang mit der Covid-Pandemie und schließlich dem Klimawandel wird deutlich, wie groß und komplex die Krise heutiger demokratischer Strukturen tatsächlich ist.

Insbesondere in Bezug auf die Klimapolitik scheint das Krisenhafte allgegenwärtig. Komplexe Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und demokratischen Entscheidungsprozessen zeigen auf, dass Wissenschaft und Demokratie unterschiedliche Kommunikationscodes haben. Daher ist es wichtig, die Warnung auszusprechen, Wissenschaft in klimapolitischen Fragen nicht zu verabsolutieren. Fraglich ist derweil, inwieweit Herausforderungen, die durch den Klimawandel entstehen, in demokratische Prinzipien integriert werden können. Demokratie sollte sich zwar auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, besitzt jedoch ihre eigenen Legitimationsgrundlagen.

In der Klimapolitik sind von zentraler Bedeutung der Faktor Zeit sowie die damit verbundene Frage, wie die Klimapolitik demokratische Entscheidungsprozesse beeinflusst. Demokratie benötigt Zeit, um effektive und legitime Entscheidungen zu treffen. Es kommt jedoch immer wieder zu Spannungen zwischen wissenschaftlicher Evidenz und den demokratischen Prinzipien, während die Verbindung beider Aspekte eine komplexe Herausforderung darstellt. In diesem Kontext verfügt die demokratische Politik über verschiedene Optionen, um mit den komplexen Anforderungen der Klimakrise umzugehen. Dennoch sei vor einer übermäßigen Einschränkung der demokratischen Prinzipien im Namen des Umweltschutzes gewarnt; vielmehr ist ein ausgewogener Ansatz erforderlich.

Im Jahr 2023 wurde deutlich, dass Deutschland noch einen weiten Weg vor sich hat. Es bedarf einer sinnvollen Initiierung von Marktmechanismen, staatlichen Anreizen, technologischen Innovationen und gesellschaftlicher Zustimmung, um eine kohärente Grundlage für eine effektive Klimapolitik zu schaffen, wobei es entscheidend ist, die demokratischen Prinzipien bei sämtlichen Maßnahmen zugrunde zu legen. Bisher berücksichtigt die deutsche Politik nicht alle notwendigen Elemente dieser Strategie.

Ambivalenz

Die Polarisierung der politischen Landschaft zwischen rechten Nationalpopulisten auf der einen und linksliberalen, selbsternannten Hütern der Moral auf der anderen Seite nimmt zu. Die Politik des linksidentitären Lagers ist deklamatorisch und stellt unverhandelbare Werte über Interessen.

Die wehrhafte Demokratie, ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert, erlebt eine unerwartete Renaissance durch das linksidentitäre Lager. Die historische Entwicklung dieses Konzepts, begründet durch Carl Löwenstein und Karl Mannheim, erstreckt sich bis zum Radikalenerlass in den 1970er Jahren. Die gegenwärtige Verwendung des Begriffs „wehrhafte Demokratie“ steht auch im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutz, während die Trennlinien zwischen Exekutive und Judikative im aktuellen Diskurs zu verschwimmen scheinen.

Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus nach 2015 haben sich die Rollen gewandelt. Nun sind es vor allem linke Gruppierungen, die den Verfassungsschutz gegen die radikale Rechte anrufen. Es drohen eine Beeinflussung des Verfassungsschutzes durch linke Kreise – eine Rolle, die zuvor dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten war – sowie die Verengung des Begriffs der wehrhaften Demokratie auf Überwachung, Verbote und Observationsforderungen.

Diese Entwicklung darf nicht zu einer konstruierten Symmetrie zwischen rechtspopulistischen Gegnern der liberalen Demokratie und linksliberalen Verfechtern einer wehrhaften Demokratie führen. Der eigentliche Angriff auf die liberale Demokratie geht derzeit allerdings von populistischen Rechten aus und muss entsprechend bekämpft werden. Die politischen Kräfte im linksliberalen Lager sollten die liberale Methode verstehen und aufhören, zur Polarisierung der Gesellschaft beizutragen.

Es entsteht das Dilemma, extremistischen oder demokratiefeindlichen Gruppen entweder Raum zu gewähren oder sie durch Überwachung und Verbote einzuschränken. Vor diesem Hintergrund gilt es, eine delikate Balance zwischen der Wahrung demokratischer Prinzipien und dem Schutz vor antidemokratischen Kräften zu finden. Die Befugnisse der Sicherheitsbehörden sollten durch den Rahmen des liberalen Rechtsstaats begrenzt werden. Die grundlegenden Werkzeuge zur Verteidigung der Demokratie sollten in Offenheit, Fairness und Inklusion liegen. Diese Prinzipien dienen als zentrale Säulen, um demokratische Werte zu schützen und zugleich die Rechte und Freiheiten der Bürger_innen zu wahren.

Wesentlich ist das Konzept der Resilienz in der Demokratie. Eine reflexive Demokratie in Zeiten von Krisen muss die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Erkennung der Risiken ihres eigenen Handelns entwickeln. Resilienz in der Demokratie bedeutet dabei die Fähigkeit, Herausforderungen und Schocks zu bewältigen, ohne dabei grundlegende demokratische Prinzipien aufzugeben.

Die zeitliche Dimension in politischen Entscheidungen spielt dabei eine übergeordnete Rolle und kennzeichnet die sogenannte demokratische Eigenzeit. Hierbei geht es darum, dass demokratische Prozesse ausreichend Zeit benötigen, um gründlich und unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven durchgeführt zu werden. Schnelle Entscheidungen können zu einem Verlust an Qualität führen und langfristig die demokratische Legitimation gefährden.

Demokratie sollte zwar flexibel sein, aber nicht auf Kosten der Sorgfalt und der demokratischen Prinzipien gehen. Resiliente Demokratie erfordert daher eine ausgewogene Abwägung zwischen Effizienz und demokratischer Qualität, um den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden.

Die Demokratie sollte sich auf ihre Lösungskompetenz und die Fähigkeit besinnen, auf Herausforderungen nachhaltig zu reagieren. Die Rolle der Partizipation ist dabei der entscheidende Unterschied zwischen autokratischen und demokratischen Systemen. Diskussionswürdig sind die gestiegenen politischen Beteiligungen, Polarisierungen und die feine Linie zwischen förderlichem Pluralismus und schädlicher Polarisierung. Es geht vor allem um die Herausforderung, eine ausgewogene Vielfalt von Meinungen und politischen Ansichten in der Gesellschaft zu fördern, ohne dass dies zu einer starken und schädlichen Polarisierung führt. Förderlicher Pluralismus steht für eine gesunde Vielfalt von Ideen und Meinungen, die den demokratischen Diskurs bereichern können. Wenn jedoch diese Vielfalt zu starken Polarisierungen führt, kann dies die politische Stabilität und Zusammenarbeit gefährden und wird somit schädlich. Der Begriff der feinen Linie betont die Schwierigkeit, ein Gleichgewicht zu finden, bei dem eine Meinungsvielfalt vorhanden ist, die jedoch nicht zu einer Spaltung oder Polarisierung der Gesellschaft führt.

Um derartigen Herausforderungen von Illiberalisierung und Entdemokratisierung adäquat zu begegnen, müssen Gegengifte, Reformen und Innovationen im demokratischen Apparat gefunden und entwickelt werden. Die Demokratie sollte trotz der Herausforderungen nicht abgeschrieben werden, sondern eine kluge Politik der fairen Inklusion erfahren, um die Polarisierung zu entschärfen und die Resilienz zu stärken.


buch|votum

Merkel bietet eine tiefgründige Analyse der Herausforderungen, denen Demokratien gegenüberstehen. Seine fruchtbaren Einsichten in die Wechselwirkungen zwischen Krisenbewältigung, Kapitalismus und politischer Partizipation machen die Lektüre besonders relevant. Durch prägnante Fallstudien und historische Einordnungen liefert das Werk eine umfassende Perspektive auf demokratische Entwicklungen. Merkel betont die Balance zwischen Effektivität und dem Erhalt demokratischer Prinzipien, wobei seine Reflexionen über die Resilienz der Demokratie in Zeiten multipler Krisen besonders hervorstechen. Der klare Schreibstil erleichtert den Zugang zu komplexen Themen, während Merkels kritische Perspektive zum Nachdenken anregt. Ein lesenswertes Werk für alle, die die aktuellen Herausforderungen der Demokratie verstehen möchten.

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Verlag: Campus
Erschienen: 13.09.2023
Seiten: 381
ISBN: 9783593517803

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