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Nicole Mayer-Ahuja & Oliver Nachtwey: Verkannte Leistungsträger:innen

Berichte aus der Klassengesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag (2021)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Anne-Kathrin Weber
Anne-Kathrin Weber ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk und schließt derzeit ihre Promotion in Politischer Theorie ab.


buch|essenz

Kernaussagen

Die Pandemie hat sie sichtbar werden lassen – diejenigen, die systemrelevante Arbeit leisten, also in den Bereichen der Sorgearbeit, der Gesundheit, der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren, der Hygiene und Mobilität tätig sind. Systemrelevanz ist allerdings nicht automatisch mit akzeptablen Arbeitsbedingungen verknüpft – im Gegenteil: Die Autor_innen machen mit ihren Berichten und Porträts deutlich, dass Beschäftigte in diesen Bereichen großen körperlichen, mentalen und/oder emotionalen Belastungen ausgesetzt sind, finanziell meist schlecht entlohnt werden und ihre Arbeit nur wenig gesellschaftlich anerkannt ist. Daran scheint auch die Pandemie nur wenig zu verändern

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung bilden diese „verkannten Leistungsträger:innen“ eine eigene Klasse, die deutlich gegenüber einer anderen abgegrenzt ist, nämlich derjenigen der „Entscheider_innen“. An diese richten sich die Erwartungen der Beschäftigten in den prekären systemrelevanten Berufen, die Arbeits- und Lebensbedingungen substanziell zu verbessern – eine Mammutaufgabe, die zum Kern sozialdemokratischer Agenden gehört. Die Gewerkschaften spielen hierfür in vielen Erwerbsbiografien ebenfalls eine zentrale Rolle. Dies gilt allerdings für diejenigen Arbeitnehmer_innen, die über einen entsprechenden arbeitsrechtlichen Status und damit über verbürgte Rechte verfügen.

Verlag: Suhrkamp Verlag
Erschienen: 05.12.2021
Seiten: 567
EAN: 978-3-518-03601-3


buch|herausgeber_innen

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen.

Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.


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buch|inhalt

Die Beschäftigten aus Deutschland und der Schweiz, deren Biografien und Arbeitsbedingungen in 22 Berichten porträtiert werden, arbeiten unter anderem in Kindertagesstätten, in Krankenhauswäschereien, in der 24-Stunden-Pflege, in Restaurants, der Landwirtschaft oder für Onlineplattformen.

Alle diese Tätigkeiten sind unverzichtbar dafür, dass Grundbedürfnisse in unserer Gesellschaft befriedigt werden. Trotzdem werden die Menschen, die diese Tätigkeiten ausüben, oft schlecht entlohnt, prekär beschäftigt, körperlich, mental und emotional ausgebeutet und gesellschaftlich wenig bis gar nicht anerkannt. Deshalb sind sie verkannte Leistungsträger:innen“. Sie befinden sich am unteren Ende einer Gesellschaft, die weiterhin in Klassen segmentiert ist. Daran hat auch die plötzliche – allerdings überwiegend nur verbale – Aufwertung der Systemrelevanz mit Beginn der Covid-19-Pandemie bislang nichts oder nicht viel geändert – und wenn, dann auch nicht unbedingt zum Besseren:

„Die neue Einsicht in die Systemrelevanz der Tätigkeiten […] diente hingegen vor allem als Argument dafür, den Zugriff auf die nun als unverzichtbar geltende Arbeitskraft auszuweiten.“

Es ist daher angebracht, kritisch darüber nachzudenken, was gegenwärtig unter gesellschaftlicher „Leistung“ verstanden wird und welche Folgen diese Klassifizierung für das Individuum und die Gesellschaft als ganze hat. Denn im Zuge der umfassenden Neoliberalisierung nahezu aller Lebensbereiche wurden einzelne Tätigkeiten massiv aufgewertet – das Managen, das Führen von Unternehmen, das Beraten –, andere hingegen kontinuierlich abgewertet. In einer Klassengesellschaft, die auf kapitalistischen Grundsätzen beruht, ist dieser Wandel von fundamentaler Bedeutung. Sowohl die „Verteilung von Lebenschancen, Reichtum und Macht“ als auch die „Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten“ hängen nämlich von der Klassenzugehörigkeit ab – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen:

„Die Realität der Ungleichheit führt zu einer Vielzahl von Erschütterungen: in Bezug darauf, wie man sich selbst sieht, was man in seinem Leben erreichen und wie man tagtäglich die eigene Würde bewahren kann, wenn man beständig Leistung auf hohem Niveau erbringt, ohne die entsprechende Wertschätzung zu erfahren.“

Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in der Einstellung der „verkannten Leistungsträger:innen“ zur eigenen Arbeit wieder, das zwischen den Polen selbstausbeuterischen Engagements und „innerem Exil“ angesiedelt ist. Aus vielen der Berichte geht hervor, dass sich die Beschäftigten auf Kosten der eigenen Gesundheit einbringen:

„Die gesundheitlichen Belastungen verschärfen den Personalmangel, wodurch sich wiederum die Arbeitsbedingungen verschlechtern – ein Teufelskreis.“

Aber nicht nur die Beschäftigten leiden unter dieser Entwicklung: So können Kinder in Kindertagesstätten manchmal nur noch verwahrt statt qualitativ hochwertig betreut werden. Auch bleibt Pflegenden kaum mehr Zeit und Raum, die emotionalen Bedürfnisse von älteren Menschen in ihrer (Akkord-)Arbeit zu berücksichtigen.

In anderen systemrelevanten Bereichen wie in der Warenlogistik hat die Digitalisierung zwar einige Tätigkeiten körperlich einfacher gemacht. Allerdings fühlen sich einige der Beschäftigten damit aber auch zunehmend intellektuell unterfordert.

Die Beschäftigten in all diesen Bereichen sind sich zumeist über die eigene prekäre Lage durchaus im Klaren. In einigen Fällen ist ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein erkennbar, das entweder in gewerkschaftliches Engagement mündet oder, so zeigt ein Interview mit einem Beschäftigten im Online-Handel, rechtspopulistischem Gedankengut Aufwind gibt. Hier sind gravierende Konflikte auch innerhalb von Belegschaften zu erwarten, denn viele der „verkannten Leistungsträger:innen“ haben Migrationserfahrung.

Migrationserfahrung und Geschlecht

Die Tätigkeiten der „verkannten Leistungsträger:innen“ sind traditionell weiblich konnotiert und dementsprechend schlecht entlohnt. An ihnen zeigt sich auch, wie intersektional soziale Ungleichheit zunehmend angelegt ist und wie sich multiple Diskriminierungsfaktoren verstärken: Frauen mit Migrationserfahrung sind demnach besonders von Prekarität und Ausbeutung betroffen. Das gilt insbesondere für die häusliche Pflege, die viele Frauen aus dem Ausland leisten.

Zeit für sich selbst bleibt in solchen Arbeitsverhältnissen oft keine – soziale Isolationserfahrungen sind daher keine Seltenheit. Diese betreffen insbesondere auch Menschen, die aufgrund fehlender Sprachkenntnisse, mangelnder Anerkennung voriger Berufserfahrungen im Ausland und/oder illegal in Deutschland oder der Schweiz in prekären Verhältnissen beschäftigt sind.

Viele dieser Migrant_innen sind händeringend auf eine Beschäftigung angewiesen. Das erzeugt großen inneren und äußeren Druck und führt dazu, dass die eigene Arbeitskraft quasi beliebig ausgenutzt werden kann. Auch paralysiert die permanente Sorge, dass der Arbeitsplatz beispielsweise aufgrund willkürlicher Kündigungen wegfällt – die Beschäftigten fühlen sich außerstande, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen gestalten zu können.

Klasse und Geschlecht beeinflussen bereits die Berufswahl nachhaltig. Letztere Kategorie gilt insbesondere für Tätigkeiten, die in den Bereich der Sorgearbeit fallen und für die der Umgang mit eigenen und fremden Emotionen maßgeblich ist.

Emotionen und Emotionsarbeit

Während bei einigen „verkannten Leistungsträger:innen“ das Gefühl von Entfremdung  am Arbeitsplatz deutlich wird, ist das Gros der Beschäftigten stolz auf die eigene Arbeit. Sie empfinden „Freude am und die Leidenschaft für den Beruf“. Sie wissen um die gesellschaftliche Relevanz, die ihre Tätigkeit aufweist, und wünschen sich daher auch größere Anerkennung von und Respekt vor ihrer Arbeit.

In der Sorgearbeit und im Gesundheitssektor spielen Emotionen dahingehend eine entscheidende Rolle. Denn mit eigener emotionaler Erfüllung kompensieren die Sorgearbeitenden ganz bewusst die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit. Auch das eigene Selbstbild ist an diesen ‚emotionalen Lohn‘ geknüpft – ein Selbstbild, das auch dazu führen kann, dass sich weder die Beschäftigen selbst noch andere für bessere Arbeitsbedingungen in diesen Berufen einsetzen.

Zum anderen ist die Fähigkeit, mit eigenen und fremden Emotionen gezielt umzugehen, eine ökonomische Ressource, die ausbeutbar ist. Sorgearbeitende leisten dabei oft weit über das vertragliche Maß hinaus. Die überbordenden Anforderungen emotionaler Arbeit und Dauerverfügbarkeit führen in einigen Fällen dazu, dass sich die Beschäftigen aus Selbstschutz zunehmend von denjenigen distanzieren, für die sie sorgen. Das wiederum führt zu Schuldgefühlen bei den „verkannten Leistungsträger_innen“, die ihr – oft sehr stark ausgeprägtes – Berufsethos nicht ausleben können.

Herrschaft und Repression

Nicht nur in der Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen, auch in allen anderen Bereichen prekärer systemimmanenter Arbeit ist eine Verdichtung und Vervielfältigung der Aufgaben zu beobachten. Besonders im Gesundheitssektor geraten die Beschäftigten damit immer stärker unter Druck:

„Flexibilität bedeutet für sie noch öfter als bei vielen höherqualifizierten Jobs keinen Freiheitsgewinn, sondern eine Anforderung, der sie nachkommen müssen.“

Die Beschäftigten sollen sich aber nicht nur zunehmend anpassungsfähig an mehr und neue Aufgaben zeigen – sie müssen in vielen Fällen auch hinnehmen, dass sie weniger Lohn für gleiche Arbeit erhalten oder dass sich ihr Status zum schlechteren verändert. So hat die Privatisierung von Krankenhäusern nicht nur zu einem fragwürdigen System der Abrechnung per Fallpauschalen geführt, sondern auch zu Personalkostensenkungen. In der Folge werden einstmals klinikeigene Dienstleistungen ausgegliedert.

Aber auch in anderen Branchen ist zum Zwecke der Kostenoptimierung zu beobachten, dass Arbeit an Subunternehmer_innen ausgelagert wird oder dass Arbeitnehmer_innen Betriebskosten selbst tragen müssen. Einmaliger und systematischer Lohnbetrug sind ebenfalls keine Seltenheit und betreffen insbesondere diejenigen, die irregulär und jenseits von verbürgten Arbeitnehmer_innenrechten beschäftigt sind. Häufig verstoßen Arbeitgeber_innen auch gegen Arbeitsschutzgesetze.

Außerdem kontrollieren viele Vorgesetzte ihre Angestellten – allerdings zunehmend digital. Gerade in der Tätigkeit für Dienstleistungsplattformen werden umfassend Daten über die Beschäftigten gesammelt, die als Belege für die vermeintliche Notwendigkeit von Repressalien herangezogen werden. Die zunehmende Digitalisierung führt auch dazu, dass Führungspersonal kaum mehr persönlich für die Probleme seiner Mitarbeiter_innen zur Verfügung steht.

Die „verkannten Leistungsträger:innen“ reagieren auf diese Missstände auf zweierlei Weise: Einige appellieren – mal mehr, mal weniger resigniert – an „die Politik“, sich für verbesserte Arbeitsbedingungen einzusetzen. Sie verorten politische Akteur_innen am oberen Ende einer hierarchisch geordneten Gesellschaft – sich selbst hingegen am unteren. In einigen (allerdings wenigen) Fällen thematisieren die Porträtierten diese gesellschaftlichen Spannungen explizit. Sie erwarten einen „großen Knall“ und stimmen in eine „geteilte Weltdeutung des allgemeinen Niedergangs“ ein.

Im Gegensatz zu diesen Ohnmachtserfahrungen versuchen andere, die Verhältnisse aktiv zu verändern. Sowohl der Einsatz einzelner Gewerkschafter_innen als auch der Arbeitnehmer_innenvertretungen als Ganzes ist hierbei entscheidend. Eigenes Engagement, insbesondere die Bereitschaft zu streiken, ist allerdings maßgeblich an den eigenen arbeitsrechtlichen Status geknüpft: Wer über keine verbürgte Arbeitnehmer_innenrechte verfügt, will und kann nicht für eine Verbesserung der Verhältnisse eintreten.


buch|votum

Viele der im Buch porträtierten „verkannten Leistungsträger:innen“ berichten davon, dass ihr arbeitsrechtlicher Status immer brüchiger wird, dass in einigen Fällen bestehende Rechte ausgehöhlt werden und Unternehmen alle möglichen Schlupflöcher nutzen, um Kosten zu sparen – Kosten, die schlussendlich diejenigen tragen müssen, die ohnehin über wenig Ressourcen verfügen.

Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die im Sammelband nachdrücklich und vor allem nahbar vermittelt wird. Das gilt auch für die viel zu hohe Arbeitsbelastung, die andauernden Existenzängste und die tiefe Erschöpfung, von denen die allermeisten Beschäftigten berichten. Noch verdeckt das ausgeprägte Arbeitsethos und Engagement der „verkannten Leistungsträger:innen“ das wahre Ausmaß dieser Missstände, denn sie fangen (noch) viele der Probleme ab, die auch die Mittelschicht zunehmend plagen – zum Beispiel die gestiegenen Anforderungen, Erwerbs- und Sorgearbeit zu „vereinbaren“. Eher früher als später wird trotzdem ein Systemkollaps drohen.

Bis dahin werden allerdings noch viele Erwerbsbiografien in systemrelevanten Arbeitsbereichen von Erschöpfung, Ausbeutung und Ohnmacht geprägt sein – Erfahrungen, die im Band auf vielfache Weise geschildert werden. Sie verdichten sich zu der entscheidenden und letztlich klassenübergreifenden Frage: Können und dürfen wir uns diese desolaten Zustände überhaupt moralisch und systemisch leisten – und wenn ja, wie lange noch?

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