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Philipp Staab: Anpassung

Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag (2022)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Anne-Kathrin Weber
Anne-Kathrin Weber ist promovierte Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin und Rezensentin.


buch|essenz

Kernaussagen

Emanzipation, Fortschritt, Demokratisierung – dieser Dreiklang der Moderne ist eines nicht mehr: nämlich modern. In unseren postmodernen Zeiten tritt an seine Stelle zunehmend die Fähigkeit zur Anpassung. Gemeint ist damit, dass wir uns immer weniger selbst verwirklichen können und stattdessen immer stärker darauf achten müssen, unser Dasein überhaupt zu erhalten. Im Politischen spiegelt sich dieser Trend als Wunsch nach einer sogenannten protektiven Technokratie wider. Diese Sehnsucht nach einem Durchregieren in Verteilungsfragen muss allerdings nicht zwangsläufig beunruhigen; das angepasste Individuum kann darin eine andere, vielleicht sogar größere Freiheit finden. Es wird sich nämlich zunehmend von den neoliberalen Zwängen der Optimierung und Maximierung befreien können und müssen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Angesichts der Krisen unserer Gegenwart hat sich gezeigt, dass soziale Ungleichheit immer weiter wächst. Die Betroffenen, die für einen Wandel demonstrieren, setzen mittlerweile nicht mehr darauf, dass das fundamentale Ungleichgewicht innerhalb der Gesellschaft mithilfe demokratischer Teilhabe und Repräsentation wieder ins Lot gebracht werden kann. Stattdessen wünschen sie sich, was die Verteilung öffentlicher Güter und den Fortbestand des Planeten betrifft, ein quasi-autoritäres Durchregieren.

Für die Soziale Demokratie hält diese Zeitdiagnose ein weiteres Schockmoment bereit: Praktiken der Anpassung werden angesichts multipler Krisen immer wichtiger und ermöglichen damit eine Form des Widerstands gegen den Stress, den der Kapitalismus uns allen zufügt. Das hat aber zur Folge, dass sie sich schließlich gegen die Maxime der Emanzipation selbst richten. Von dieser wird sich eine adaptive Gesellschaft zunehmend verabschieden müssen.


buch|autor

Philipp Staab ist Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin.


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buch|inhalt

Die Moderne zeichnete sich durch den Willen zur Emanzipation und durch zunehmende Demokratisierung aus. „Fortschritt“ lautete das Gebot der Zeit – wirtschaftliches, politisches, vor allem aber auch gesellschaftliches Wachstum gehörte zur Maxime westlicher Systeme. Als Mitglieder dieser Gesellschaften begriffen wir uns zunehmend als Individuen und somit als einzigartige, flexible und formbare Subjekte. Der Kapitalismus sorgte auf durchdringende Weise dafür, dass wir uns immer stärker in Selbstoptimierung üben mussten: Wir waren dazu angehalten, uns stets und überall zu etwas Besonderem zu machen.

Angesichts der multiplen Krisen der vergangenen Jahrzehnte müssen diese Prämissen der Moderne mittlerweile als überholt angesehen werden. Dazu haben insbesondere die Covid-19-Pandemie sowie das zunehmende Bewusstsein über die „Vernutzung von Zukunft“ beigetragen. Da die Ressourcen, mit denen wir auskommen müssen, immer geringer werden und damit auch unser Handlungsspielraum immer kleiner wird, müssen wir uns stärker an diese neue Verknappung anpassen. Anstatt uns weiterhin mit Fragen der ständig optimierten Selbstentfaltung zu beschäftigen, sind wir uns in einer adaptiven Gesellschaft nun angehalten, uns der Selbsterhaltung zu widmen.

Selbsterhaltung statt Selbstentfaltung

Das Konzept der Anpassung ist in vielen Soziologien negativ konnotiert, wird sie doch mit Konformität, Autoritätsglauben und Freiheitsverlust verbunden. Insofern gilt Anpassung

 „als Merkmal traditionaler Gemeinschaften, die die Entfaltung des Individuums behindern, Einpassung verlangen. Gleichzeitig erzeugt die Freisetzung aus den betreffenden Zusammenhängen, aus Dorf, Kirche, Familie oder festgefügten Geschlechterrollen, eigene Quellen von Adaptionsdruck.“

Das Individuum musste sich in modernen Gesellschaften also nicht weniger anpassen als in traditionellen Gesellschaften. Der Unterschied liegt vielmehr in der Frage, woran man sich anpassen muss – an Traditionen oder an die Werte von Emanzipation und Fortschritt.

Der aktuelle Anpassungsdruck, dem die Menschen in unseren Gesellschaften ausgesetzt sind, ist dabei als direkte Folge der modernen Maximierungsprämissen zu verstehen. Dass wir uns mit Fragen der Selbsterhaltung beschäftigen müssen, liegt also schlichtweg daran, dass wir es mit dem Selbstentfalten übertrieben haben. Die Folge ist eine

„typisch spätmoderne Erschöpfung durch die Bürde, ein einzigartiges Selbst sein zu müssen“.

Anpassung als gesellschaftliche Chance

Der Druck, uns zunehmend an knapper werdende Ressourcen anzupassen, befreit nun von dem Druck, uns permanent selbst entfalten und verbessern zu müssen. Wo die Wachstumsprämisse ausgebremst wird, da kann auch das Individuum wieder Ruhe und Stille erfahren. Uns weniger mit „subjektive[n] Selbstverwirklichungsüberforderungen“ herumschlagen zu müssen, kann so durchaus auch Ausdruck von Freiheit sein.

Die prognostizierten Dauerkrisen – geradezu ein Wesensmerkmal unserer Zeit – führen dazu, dass wir den Blick nicht länger unmittelbar auf die Zukunft richten, sondern uns immer stärker auf die Gegenwart fokussieren. Die heute entscheidende Frage lautet daher, wie die Gegenwart gestaltet werden muss, damit wir als Menschheit überhaupt noch eine Zukunft haben. Zur wichtigsten Fähigkeit in einer Gesellschaft der Anpassung wird daher die Fähigkeit zur Resilienz. Dabei handelt es sich um „Praktiken der Vorsorge, die ihrer Logik nach das wiederholte Aufkommen und das Andauern von Krisendynamiken bereits akzeptieren und vor allem bemüht sind, Schlimmeres zu verhindern, statt die Uhr zurückzudrehen oder die Verhältnisse grundlegend zu verändern“.

 

„Technokratische Sehnsucht“

Der steigende Anpassungsdruck erzeugt aber nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf politischer Ebene einen Wandel: Zentrale Akteur_innen der gegenwärtigen Krisen scheinen nicht mehr davon überzeugt zu sein, dass die Demokratie mit ihren Prämissen der Repräsentation und der Deliberation die Probleme wird bewältigen können. Insbesondere die aktuelle Klimaprotestgeneration fordert technokratisches Durchregieren in Fragen, die mit wissenschaftlicher Evidenz klar beantwortet werden können. Sie formulieren damit eine Vision, „die letztlich auf die Entpolitisierung klimaschutzbezogener Fragen zielt“.

Diesen Wunsch nach zentraler Steuerung teilen auch diejenigen, die „systemrelevante“ Tätigkeiten ausüben und während der Covid-19-Pandemie besonders belastet waren: In Forschungsinterviews plädieren diese Menschen dafür, öffentliche Güter effizient und ohne demokratischen Widerstreit zu verteilen – auch, um sozialer Ungleichheit und Spaltungen innerhalb der Gesellschaften entgegenzuwirken, die inmitten der Pandemie verstärkt und gleichzeitig verstärkt sichtbar geworden sind. In unseren postmodernen Gesellschaften werden kollektive Pflichten also gegenüber Partikularinteressen favorisiert.

Hierbei handelt es sich also um eine Entpolitisierung von Selbsterhaltungsfragen. Sie erweist sich

„als Fluchtpunkt politischer Sehnsüchte potenzieller Avantgarden der adaptiven Gesellschaft. Diese werden mal impliziter, mal expliziter als Wunsch nach technokratischer Herrschaft artikuliert – sei es im Sinne einer Herrschaft der Experten oder in jenem einer technischen Automatisierung zentraler politischer Prozesse.“

Diese „protektive Technokratie“ sieht im Kern eine Autorität vor, die Selbsterhaltungsfragen aus der politischen Arena ausklammert und sie damit auch dem politischen Streit entzieht, der die Demokratie kennzeichnet und ausmacht. Der dadurch bedingte Fortschrittsverzicht bewirkt indes

„keine politische Handlungslähmung, keinen Antriebsverlust. Vielmehr erschließen Anpassungspraktiken Spielräume der Lebensführung, die andernfalls bedroht wären.“


buch|votum

In der Zeitdiagnose der Anpassung, die Philipp Staab präsentiert, liegt zunächst das verlockende Versprechen vor, dass das Individuum sich endlich davon befreien kann, sich auf Kosten des Planeten und der eigenen Gesundheit zu etwas Besonderem machen zu müssen. Staab schlägt damit eine Alternative zum neoliberalen Optimierungs- und Wachstumsdruck vor, auf die viele Linke schon seit langem warten. Der Preis dafür, dass wir uns wieder stärker im Kollektiv situieren werden (müssen), ist indes ein insbesondere für die politische Linke extrem hohes Gut: die Emanzipation, also die Befreiung aus dem Beherrscht-Werden.

Nicht nur deshalb dürfte Staabs Gesellschaftsstudie aus Sicht der Sozialen Demokratie, beziehungsweise aus einer demokratietheoretischen Perspektive überhaupt, einer Dystopie gleichkommen. Das liegt nicht unbedingt an der vom Autor identifizierten „technokratischen Sehnsucht“ an sich. Über den Wunsch nach einem Durchregieren in Fragen, die das leibliche Wohl und dasjenige des Planeten betreffen, sowie über die dahinterliegenden Sorgen wird man in der Tat sprechen müssen.

Provozierender ist vielmehr die Art und Weise, in der Philipp Staab erklärt neutral und leidenschaftslos den damit verbundenen Abgesang auf demokratische Grundwerte übermittelt. Er veredelt diesen Diskurs, indem er das Verlangen nach technokratischem Regiert-Werden kommentar- und alternativlos stehenlässt. Dabei gäbe es hierzu viel zu diskutieren und zu kritisieren. Denn auch ein „beschützendes“ Durchregieren wird den ‚Risikofaktor‘ Mensch mit all seinen Irrationalitäten, seiner Ignoranz und seiner Zerstörungswut, nicht ausschalten können. Stattdessen, so bleibt zu befürchten, würden hierdurch nur weitere Furchen ins soziale Gefüge gezogen, die immer tiefer reichten, je weniger die beziehungsweise der Einzelne die Chance erhielte, sich an der Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit zu beteiligen.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 10.10.2022
Seiten: 240
ISBN:978-3-518-12779-7

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