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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe – Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.
Im digitalen Kapitalismus gibt es keine freien, neutralen Märkte. Vielmehr gehören die Märkte selbst den privaten digitalen Plattformen. Weil sie Monopole halten, können sie den Zugang zu den Märkten kontrollieren. Sie können digitale Güter, die eigentlich nicht knapp sind, verknappen und hohe Gewinne erzielen. Gewinner_innen im digitalen Kapitalismus sind aber nicht nur die digitalen Plattformen, sondern zum Teil auch die Konsument_innen. Verlierer_innen sind alle, die die digitalen Güter und Dienstleistungen produzieren.
Es gibt noch immer Arbeiter_innen. Diese sind sich ihres Status aber nicht bewusst. Um ein digitales Arbeiterbewusstsein zu schaffen, muss das „durch vierzig Jahre Neoliberalismus vollkommen deformierte Verständnis des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft“ (S. 290) neu definiert werden. Dies wäre auch eine Aufgabe für die Sozialdemokratie. Zudem braucht es eine europäische Gegenstrategie, um den digitalen Kapitalismus wieder in Einklang mit der Demokratie zu bringen und damit sich Europa zwischen den Plattformen aus den USA und China behaupten kann.
Philipp Staab ist Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit am Einstein Center Digital Future der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich mit den Arbeitsbedingungen in der digitalen Arbeitswelt, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen, oder der Entwicklung von Start-ups. Darauf aufbauend entwickelt er Erklärungen für die Entwicklung des digitalen Kapitalismus und seine Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft.
Das Neue am digitalen Kapitalismus besteht nicht nur in neuen Technologien wie dem Internet, Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon, den Sprachassistenten Siri oder Alexa oder der digitalen Vernetzung von Alltagsgegenständen. Mit dem digitalen Kapitalismus ist vielmehr ein Wechsel des Wirtschaftssystems verbunden.
Märkte funktionierten bisher als freier Treffpunkt von Anbieter_innen und Nachfrager_innen. Der Neoliberalismus stand für diese Ausweitung der Marktlogik auf immer neue Gesellschaftsbereiche. Im digitalen Kapitalismus geht es um mehr, nämlich um den Besitz der Märkte als solche. Digitale Plattformen nutzen Daten nicht einfach nur für eine bessere Interaktion zwischen Anbieter_innen und Nachfrager_innen. Sie üben vielmehr eine neue Form von Macht auf die Marktakteur_innen aus, weil diese sich dem digitalen Marktplatz nicht entziehen können. Entstanden ist ein „System proprietärer Märkte“, also Märkte im Privatbesitz von Plattformen wie Amazon, Uber oder Airbnb.
Proprietäre Märkte sind nicht mehr ohne Weiteres für jeden zugänglich. Marktakteur_innen müssen sich den Bedingungen der Plattformen unterordnen. Diese sammeln dabei Daten und bestimmen zum Teil die Preise. Sie sind zudem Monopolisten, weil der Wechsel zu anderen Plattformen ohne Weiteres nicht möglich ist. Damit steht der digitale Kapitalismus dem neoliberalen Gedanken von freien, neutralen Märkten fundamental entgegen.
Die Wurzeln des digitalen Kapitalismus liegen in der Krise des Industriekapitalismus. Die rasanten Produktivitätsgewinne durch den technologischen Fortschritt, durch die Globalisierung und durch eine immer kostengünstigere Produktionsorganisation wurden ausgeschöpft. Löhne und damit die Kaufkraft sanken relativ zur Wirtschaftsleistung, was die Gewinne weiter drückte. Der Bedarf an neuen Renditemöglichkeiten wuchs.
In diesem Rahmen haben jedoch nicht Steve Jobs und Bill Gates die digitale Revolution aus einer Garage gestartet. Vielmehr finanzierte die US-Regierung großzügig die Entwicklung des Internets. Sie liberalisierte den Telekommunikationsmarkt, sodass die Computerindustrie schließlich den fragmentierten Mobilfunksektor übernahm. Erst dadurch konnten sich die Internetgiganten und damit ungeahnte Renditemöglichkeiten entwickeln. Der Staat hatte eine entscheidende ordnungspolitische Rolle übernommen, die Gewinne von Google, Amazon und Co. blieben aber in privater Hand.
Entscheidend für den Aufstieg der Internetgiganten ist ihre Verbindung zu den Finanzmärkten. Seit den 1980er Jahren versuchten Unternehmen aus der Realwirtschaft, Privatpersonen und auch der Staat Investitionen durch Verschuldung zu finanzieren und gleichzeitig mehr Einkommen aus Finanzanlagen zu erzielen. Das führte zu einem Übergewicht des Finanzsektors. Diese Entwicklung wird als „Finanzialisierung“ bezeichnet und charakterisiert die neoliberale Phase.
Die Finanzialisierung war jedoch auf digitale Innovationen angewiesen, zu denen zum Beispiel der Hochfrequenzhandel und die Verbesserungen der Analyse und des Transfers von Daten gehören. Umgekehrt verstärkte die Finanzialisierung die Digitalisierung. Zum Beispiel legte der US-amerikanische Netzanbieter Hiberia das erste transatlantische Unterseekabel, um den Datentransfer um fünf Millisekunden zu beschleunigen. Während für private Internetnutzer ein kaum messbarer Nutzen spürbar war, stellte die Beschleunigung für den Hochfrequenzhandel eine zentrale Voraussetzung dar. Die Bedürfnisse der Finanzmärkte waren hier mitentscheidend für die Verbreitung digitaler Technologien.
Darüber hinaus gibt es zwischen den Geschäftsmodellen der Finanz- und Digitalwirtschaft Parallelen. Für beide Sektoren stellt das Primärprodukt nicht das entscheidende Geschäftsfeld dar. Den digitalen Plattformen geht es nicht um E-Mail- oder Social-Media-Accounts; Finanzinstituten liegt nichts an einem Girokonto oder an der schlichten Kreditvergabe.
Das liegt daran, dass diese Güter und Dienstleistungen keiner Knappheit unterliegen. Ein Konto bei einer Bank lässt sich fast genauso schnell und leicht einrichten wie ein Account bei einer digitalen Plattform. Geld als Ressource für Kredite ist weitgehend unerschöpflich. Das Gleiche gilt für digitale Güter wie Audio- oder Musikdateien, die leicht für den Gebrauch aller kopiert werden können.
Entscheidend für beide Sektoren ist die Sekundärverwertung: So stellt für den Finanzsektor der Derivatehandel seit mehr als zehn Jahren das kapitalstärkste Geschäft dar. Dabei handelt es sich um den Handel mit Zahlungsverträgen, die auf verbrieften Krediten basieren. Derivate sind letztlich Wetten auf Tilgungszahlungen von Kreditnehmer_innen. Um zu erfahren, wie sicher die Tilgungszahlungen sind, braucht es Daten über die Kreditnehmer_innen.
Auch den digitalen Plattformen geht es hauptsächlich um Daten. Werbeplattformen wie Google oder Facebook bieten zielgerichtete, personalisierte Werbung an. Produktplattformen wie Netflix oder Spotify richten damit ihr Angebot passgenau an der Nachfrage aus.
Besonders deutlich zeigt ein Blick auf die Start-up-Welt, wie sehr die Digitalwirtschaft vom Finanzkapitalismus geprägt wurde.
„So hat das kommerzielle Internet eben nicht nur das Geld verdienen vom Finanzmarkt gelernt, sondern offenbar auch dessen Risikofreude und Krisenanfälligkeit geerbt“ (S. 118).
Der Grund hierfür liegt im Wagniskapital („Venture Capital“) als zentraler Finanzierungsquelle digitaler Start-ups. So werden die jungen Unternehmen selbst zu einem spekulativ gehandelten Objekt. Wagniskapital ist vor allem für risikoreiche Unternehmen relevant, die meist keinen Bankkredit erhalten. Im Gegensatz zum konventionellen unternehmerischen Denken, das möglichst schnell Gewinne und ein solides Geschäftsmodell auf die Beine stellen möchte, zielt Wagniskapital auf Gewinne durch den Weiterverkauf eines aussichtsreichen Start-ups. Dafür wird auch ein längerfristiges Engagement – selbst mit roten Zahlen – in Kauf genommen, solange es Hoffnungen auf einen profitablen Weiterverkauf gibt. Es geht um Spekulation und manchmal darum, ein erfolgreiches Geschäftsmodell nur vorzutäuschen. Das spekulative Element ist eine wesentliche Quelle für Instabilität, die sich bereits im Dotcom-Crash im Jahr 2000 niederschlug und auch in Zukunft wieder auftreten kann. Außerdem führt die Spekulation zu Ausbeutung, weil die Mitarbeiter_innen von Start-ups mit der Aussicht auf künftige Gewinnbeteiligungen zunächst oft schlecht bezahlt werden.
Demgegenüber waren die Hoffnungen in den 1990er Jahren noch ganz anders. Viele glaubten, mit dem Internet den Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu überwinden. Denn Knappheit von Gütern ist eine Voraussetzung für den Kapitalismus. Nur knappe Güter erzielen einen Preis und eine digitale Ökonomie der Unknappheit brauchte Preise nicht mehr.
Soll der Kapitalismus im Digitalen überleben, muss die Knappheit wiederhergestellt werden, damit Menschen für digitale Güter bezahlen. Hier kommen die proprietären Märkte, also die Inbesitznahme digitaler Märkte durch Plattformen, ins Spiel, weil „der Preis und damit der Profit sich nicht mehr aus der Knappheit des Angebots ergibt, sondern aus einer Logik der Zugangskontrolle, also der Macht, Güter überhaupt erst effektiv verfügbar zu machen“ (S. 209).
Die Privatisierung von Märkten allein reicht dafür nicht aus. Es muss ein Marktmonopol hinzukommen. Wenn zum Beispiel der oder die Besitzer_in eines Wochenmarktplatzes Standgebühren deutlich erhöht, so können die Anbieter_innen leicht alternative Marktplätze oder andere Zugänge zu den Nachfrager_innen finden. Erst die monopolistische Marktmacht versetzt die digitalen Plattformen in die Lage, Anbieter_innen und Nachfrager_innen am Markt systematisch zu kontrollieren und auszubeuten. Sie sind für die Marktteilnehmer_innen in der heutigen Phase des digitalen Kapitalismus schlicht alternativlos.
Die digitalen Plattformen haben in ihren proprietären Märkten vier Kontrollmechanismen:
Gewinner_innen des Systems der proprietären Märkte sind Besitzer_innen und Investor_innen der digitalen Plattformen. Die Verlierer_innen sind die Anbieter_innen. Sie sind die Arbeiter_innen im digitalen Kapitalismus, auch wenn sie im juristischen Sinn keinen Arbeitsvertrag haben. Es handelt sich um freie Mitarbeiter_innen in Crowdworking-Plattformen ebenso wie kleinere Produzent_innen von Gütern, die einen Marktzugang brauchen. Sie sind für die Plattformen leicht verfügbar und ersetzbar und haben keine soziale Absicherung durch Sozialversicherungen. Von ihnen findet ein direkter Transfer von Einkommen hin zu den digitalen Plattformen und damit der Kapitalseite statt. Mehr soziale Ungleichheit ist die Folge und wird dadurch verstärkt, dass digitale Plattformen durch Steuerflucht keinen oder nur einen geringen Beitrag zur Verteilungsgerechtigkeit leisten.
Im digitalen Kapitalismus gibt es noch eine Gruppe von Gewinner_innen: die Konsument_innen. Insbesondere in den Wachstumsphasen der Plattformen profitieren sie von besonders niedrigen Einstiegspreisen, weil digitale Plattformen nur dann über Marktmacht verfügen, wenn sie möglichst viele Nutzer_innen auf sich vereinigen.
Doch auch darüber hinaus werden sie durch individualisierte Produkte und Angebote ebenso wie durch einfache Möglichkeiten der Warenrückgabe umworben.
Weil Arbeiter_innen („Verlierer_innen“) oft gleichzeitig Konsument_innen („Gewinner_innen“) sind, wird für viele das Problem der zunehmenden sozialen Ungleichheit nicht unmittelbar nachvollziehbar. Es gibt keine große soziale Bewegung gegen den digitalen Kapitalismus, wie es die Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert war. „Der soziale Konflikt des digitalen Kapitalismus ist dann in einem grundlegenden Sinne blockiert“ (S. 285).
Oft wird davon gesprochen, dass die Sozialdemokratie zwangsläufig ihre Wähler_innenbasis verliert, weil es keine Arbeiter_innen mehr gibt und die sozialen Konflikte des Kapitalismus eingehegt worden sind. Philipp Staab entwickelt nachvollziehbare Argumente gegen diese Analyse.
Soziale Konflikte, Ausbeutung und Ungleichheit als Folgen des digitalen Kapitalismus werden von Politik und Gesellschaft noch nicht hinreichend in den Blick genommen. Sie sichtbar zu machen, ist eine Aufgabe linker, progressiver Parteien. Hierfür brauchen diese den Mut, jenseits von Umfragen auf die sozialen Probleme aufmerksam zu machen, die – wie Staab es formuliert – blockiert sind und sich noch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung widerspiegeln.
Allerdings sind für die Überwindung des digitalen Kapitalismus hin zu einer echten „digitalen Gesellschaft der Anrechte“ (S. 300) radikalere Maßnahmen notwendig, als es der neoliberale Diskurs über Marktregulierung zulässt. Um auch im liberalen Sinn wieder freie und faire Märkte im Digitalen zu sichern, sind nach Staabs Meinung neue politische Allianzen denkbar. Die fundamentale Marktmacht digitaler Konzerne schreit „nach einer progressiven Verbindung liberalen und linkskeynesianischen Denkens, da die Liberalen den Markt vor seiner privaten Inbesitznahme nur retten könnten, indem sie sich auf die strategische Wirtschaftspolitik der Linken einließen“ (S. 293), die im Zweifel auch klare Wirtschaftsinterventionen seitens des Staates einschließt. Konkret würde das bedeuten, dass sich etwa SPD und FDP gegen Amazon und Google verbünden – ein denkbares, aber ziemlich ambitioniertes Projekt, auch aus Sicht von Philipp Staab.
Vermutlich sind die europäischen Nationalstaaten allein ohnehin zu schwach, die Internetgiganten in die Schranken zu weisen. Deshalb müssen sich nach Staabs Ansicht progressive politische Kräfte dafür einsetzen, dass Europa seine eigene normative Position zwischen den Varianten des digitalen Kapitalismus aus den USA (privatisierte Märkte) und China (totale staatliche Überwachung) findet. Projekte wie GAIA-X, das als europäische Datencloud die Unabhängigkeit von marktmächtigen Anbietern wie Amazon Web Services sichern soll, sind hier nur der Anfang.
Was konkrete Maßnahmen angeht, bleibt Staab vage. Das liegt auch an dem Schwerpunkt des Buches auf der Analyse digitaler Plattformen und ihrer Probleme. Sein Buch ist für linke, progressive politische Akteur_innen als Türöffner zu verstehen, den digitalen Kapitalismus als ursozialdemokratisches Thema zu erkennen und seine Regulierung und Überwindung grundsätzlicher zu diskutieren.
Verlag: SuhrkampErschienen: 28.10.2019Seiten: 345ISBN: 978-3-518-07515-9