Philippa Sigl-Glöckner (2024): Gutes Geld
Wege zu einer gerechten und nach-haltigen Gesellschaft. Köln: Bastei Lübbe
Preisträgerin 2025 des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik
Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt.
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.
buch|essenz
Kernaussagen
Die Maastricht-Kriterien und die deutsche Schuldenbremse sind irrationale fiskalpolitische Regeln, welche die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten unnötig einengen und somit notwendige Ausgaben für Beschäftigung, Bildung, Sicherheit, Infrastruktur und sozialen Zusammenhalt beschränken. Damit gefährden sie die Zukunft unserer Gesellschaft. Neue Schuldenregeln können und müssen finanzpolitischen Spielraum für Investitionen in diesen Bereichen schaffen.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Das Ziel einer demokratisch gesteuerten Wirtschaftspolitik im Interesse nachhaltiger und sozialer Entwicklung entspricht den Werten der sozialen Demokratie. Angesichts der Bedeutung der Finanzpolitik und insbesondere der Schuldenregeln beim Bruch der Ampelkoalition im November 2024 gewinnt das Buch zusätzliche Aktualität.
buch|autorin
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Philippa Sigl-Glöckner studierte in Oxford und London. Sie arbeitete für die Weltbank in Liberia und von 2018 bis 2020 im Bundesministerium der Finanzen.
2018 gründete sie zusammen mit anderen Fachleuten das Forschungsinstitut „Dezernat Zukunft. Institut für Makrofinanzen“, dessen Geschäftsführerin sie seit 2020 ist. Sie kandidiert für die SPD in München für den nächsten Bundestag.
Philippa Sigl-Glöckner: buch|essenz anhören
buch|inhalt
In sieben Kapiteln werden die Ziele der Finanzpolitik sowie deren Probleme und Möglichkeiten analysiert. Die Autorin untersucht kritisch die Ursprünge und Folgen der in der EU und in Deutschland geltenden fiskalpolitischen Schuldenregeln und entwickelt Konzepte für eine neue Finanzpolitik, die den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird.
Beschäftigung als zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik
Alle demokratischen politischen Kräfte in Deutschland treten für die Freiheit als wichtiges oder sogar höchstes Ziel ein. Das Wort „Freiheit“ hat unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen zwar verschiedene Bedeutungen. Im Vordergrund steht aber immer die Abwesenheit von Zwang. Letztlich geht es hierbei um die Unabhängigkeit von anderen Menschen und Interessen und damit um die materiellen Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens. Ein guter Job und das damit verbundene Einkommen sind wesentliche Voraussetzungen für Freiheit. Die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt entscheiden darüber, ob ein Job eher eine Art von Knechtschaft ist oder ein Raum für Selbstverwirklichung.
Allerdings darf Freiheit sich nicht nur auf die Wohlstandschancen der derzeit lebenden Generation beschränken. Freiheit und Wohlstand dürfen nicht mit hohen Emissionen und guten Beziehungen zu autoritären Regimen erkauft werden, die zu Lasten künftiger Generationen gehen.
Keynesianische Beschäftigungspolitik
Während Marx Arbeitslosigkeit als ein Instrument der Kapitalisten sah, um die Löhne zu drücken, sah Keynes sie als die Folge mangelnder Einsicht in die Kreislauflogik der Wirtschaft. Wenn die Nachfrage nachlässt, muss der Staat sie schaffen, um Arbeitslosigkeit zu verhindern. Zwar ist es letztlich unwichtig, welche Art von Ausgaben er dazu tätigt, aber für das langfristige Wachstum ist es am besten, wenn der Staat mit neuen Schulden Investitionen finanziert.
Aber Staatsverschuldung ist nicht der einzige Weg aus einer Rezession. Auch die Umverteilung von Einkommen kann die Nachfrage ankurbeln. Denn erhöht man das Einkommen ärmerer Menschen, etwa durch höhere Mindestlöhne, so stärkt das die Nachfrage und damit Wachstum und Beschäftigung.
Fiskalpolitik ohne Zukunft
Deutschland muss große Anstrengungen unternehmen, wenn es langfristig in Wohlstand leben und nicht immer weiter zurückfallen will. Zwei wichtige Gebiete, in denen Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern immer schlechter abschneidet, sind die Bildung und die Bahn. Die hier notwendigen Investitionen und Reformen lassen sich nicht in kleinteiligen fiskalpolitischen Schritten umsetzen. Auf der Ausgabenseite sind die meisten Einsparoptionen entweder wenig ertragreich oder mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden. Auf der Einnahmenseite bringen Steuererhöhungen ebenfalls kaum ausreichende Beträge und gefährden teilweise das Wachstum.
Einen Ausweg bietet nur eine entschlossene Fiskalpolitik, die den Staat wie ein Unternehmen sieht, das seine langfristige Wettbewerbsfähigkeit durch schuldenfinanzierte Investitionen sichert. Hierfür gibt es historische aber auch aktuelle Vorbilder: Roosevelt hat mit dem New Deal und dem – auch kriegsbedingten – Schuldenaufbau die Grundlagen nicht nur für den Sieg der Alliierten, sondern auch für hohes Wachstum in den USA gelegt. Auch Bidens Inflation Reduction Act hat mit massiven Programmen erfolgreich Industrie, Infrastruktur und Klimaschutz unterstützt und der Wirtschaft in den USA einen Boom beschert.
Die überschätzte Gefahr der Staatsverschuldung
Den Staatsschulden steht in Deutschland ein Staatsvermögen von etwa vier Billionen Euro gegenüber. Trotzdem befürchten konservative Finanzpolitiker, Deutschland könne das Vertrauen der Kapitalmärkte und sein AAA-Rating verlieren, sodass die Zinslast in gefährliche Höhen steigen könnte. Diese Befürchtungen entpuppen sich als grundlos, sobald man sich die Struktur und Funktionsweise der Märkte für Staatsanleihen genauer ansieht.
Staatsanleihen sind das Schmiermittel der Finanzmärkte und erfüllen vielfältige Funktionen. Andere Zentralbanken brauchen sie für ihre Geld- und Wechselkurspolitik, die Geschäftsbanken als Sicherheiten für Kredite von der Zentralbank, Unternehmen und Haushalte als risikofreie Geldanlage. Deshalb bleibt die Nachfrage nach Staatsanleihen hoch. Denn alle diese Anleger sorgen sich kaum um den Schuldenstand.
Auch die Sorgen um künftige Zinsbelastungen sind überzogen. Panikmeldungen über einen hohen Anstieg der Zinskosten beruhen auf absurden Bewertungsregeln, die einmalige Kursabschläge als dauerhafte Belastungen darstellen, obwohl sie Ausdruck langfristig niedriger Zinsen sind. Solange das Wachstum höher ist als der Zinssatz, bleibt die Staatsverschuldung stabil.
Dass Zentralbanken Preisschocks mit Zinserhöhungen bekämpfen, ist üblich, aber meistens kontraproduktiv. Gestiegene Energiepreise, die oft für Inflation verantwortlich sind, senkt man nicht mit einer restriktiven Geldpolitik. Sie soll bestenfalls eine Preis-Lohn-Spirale verhindern, die aber durch eine konzertierte Lohnpolitik besser zu kontrollieren ist. Auf Dauer werden Energiepreisschocks am besten durch einen Ausbau alternativer Energien verhindert.
Die schädliche Mathematik der Schuldenbremse
Die deutsche Schuldenbremse ist ein technokratisches Konstrukt, das aus einem konjunkturellen und einem strukturellen Teil besteht. Letzterer ist anhand der Grenze von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts zwar klar definiert, dieser Wert ist aber aus der Luft gegriffen und ökonomisch potenziell verhängnisvoll. So zeigt ein Vergleich der deutschen und amerikanischen Wirtschaftsentwicklung seit 2009, dass die USA mit hohen Schulden rasch wieder auf und sogar über den Trend vor der Pandemie zurückgekehrt sind, während Deutschland massiv zurückbleibt.
Die konjunkturelle Komponente ist wirtschaftspolitisch grundsätzlich sinnvoll, da sie bei Rezessionen höhere Schulden ermöglicht. Aber sie wird so berechnet, dass sie tendenziell die Arbeitslosigkeit verstetigt. Denn sie diagnostiziert eine Rezession, wenn die aktuelle Wirtschaftsleistung stark vom Potenzial der Wirtschaft abweicht. Dazu unterstellt sie als Potenzial den Durchschnitt der Vergangenheit, insbesondere das frühere Niveau der Arbeitslosigkeit.
Die zweite Schuldenbremse kommt aus den Maastrichter Verträgen, in denen ein Schuldenstand von 60 % des Bruttoinlandsprodukts als Ziel vorgegeben ist. Kaum ein europäisches Land kann diese Regel erfüllen. Wo es gelingt, spielen verdächtige Faktoren wie Steueroasen (Irland, Malta), eine hohe Privatverschuldung (Skandinavien) oder nachbarschaftsschädliche Exportüberschüsse (Deutschland) eine Rolle.
Die Erfindung der Schuldenregeln
Die Ideen für Schuldenregeln sind meist aus zufälligen, politik-taktischen Erwägungen entstanden, die sich dann technokratisch verselbständigten. Als in den 1990er Jahren der Aufbau der Europäischen Währungsunion diskutiert wurde, schlich sich die Schuldenstandsquote von 60 % des Bruttoinlandsprodukts ein, ohne jedoch wirklich ernst genommen zu werden. Sie wurde auch nicht konkret in die Verträge geschrieben. Erst im Zuge der Eurokrise, als Griechenland Opfer einer Staatsschuldenpanik wurde, erhielt die Schuldenstandsquote Bedeutung. Dabei führen Staatsschulden nur dann in eine Krise, wenn die Schulden in Fremdwährungen sind oder die eigene Zentralbank die Anleihen nicht mehr als Sicherheit akzeptiert. Die Europäische Zentralbank hat sich selbst gefesselt, als sie diese Akzeptanz an die Bewertung von Ratingagenturen koppelte.
Die deutsche Schuldenbremse hat eine ähnliche Geschichte aus Zufälligkeit und politischem Opportunismus. Schon die Maastricht-Kriterien kann man als Versuch sehen, eine keynesianische Politik in Deutschland zu erschweren. Nachdem die Bundesregierung in der Finanzkrise die Schulden der Banken und damit die Vermögen der Sparer mit gigantischen Summen garantiert hatte, verabschiedete sie zur Beruhigung die Schuldenbremse. Später verschärfte sie das Ziel noch zur „schwarzen Null“. Erst in der Coronakrise gewann die Politik ihre Führungsrolle zurück und beschloss große schuldenfinanzierte Hilfsprogramme auf europäischer und deutscher Ebene. Ein ähnlicher Kraftakt fand in der „Zeitenwende“ statt, als ein Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen wurde. Aber schon bald kehrte die Schuldenaversion zurück – auch infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts im November 2023.
Für eine nachhaltige und fortschrittliche Fiskalpolitik
Das Ausmaß der Verschuldung sollte sich an den Zielen der Wirtschaftspolitik orientieren. Dabei sollte die Politik allerdings nicht primär auf das Wachstum des BIP mit seiner Fixierung auf Güterproduktion abzielen, sondern auf eine breit definierte Wohlfahrt, die soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit, Pflege und den Schutz des Planeten umfasst. Die dafür notwendige Anpassung der Schuldenregeln bedarf keiner Grundgesetzänderung. Vielmehr müssten die Gesetze und Verordnungen, welche die konjunkturelle Komponente der Schuldenbremse definieren, geändert und demokratisiert werden. Derzeit überlassen sie die Bestimmung der zulässigen Schulden undurchsichtigen technokratischen Prozessen, in denen mit allerlei Indikatoren gerechnet wird, deren reale Bedeutung oft zweifelhaft ist.
Eine neue Schuldenregel sollte es der Regierung ermöglichen, im Rahmen einer klaren finanzpolitischen Strategie so viele Schulden wie nötig zu machen, um das angestrebte Leistungspotenzial der Wirtschaft durch Investitionen in Erziehung, Bildung und Infrastruktur zu erreichen. Dabei sollte das Ausgabeverhalten der Regierung durch einen parlamentarischen Fiskalrat streng kontrolliert werden.
Auch auf europäischer Ebene führt die Fixierung auf Schuldenstände zu einer Sparpolitik, die Wachstum und Beschäftigung bremst und extreme und populistische Kräfte stärkt. Die Erfahrungen der krisenverschärfenden Sparpolitik in der Weimarer Republik sollten ein warnendes Beispiel sein.
Die Politik muss sich von künstlichen Regeln wie der 60-%-Schuldengrenze befreien. Sie muss ihre Ziele im Sinne von gerecht verteiltem Wohlstand und Klimaschutz neu definieren. Die Schuldenbremse muss so reformiert werden, dass der Staat diese Ziele erreichen kann. Dazu muss er wie ein Unternehmen investieren und seine Bilanz mit kluger Verschuldung vergrößern können.
buch|votum
Das Buch ist eine Mischung aus volkswirtschaftlicher Argumentation, historischer Analyse und autobiografischen Episoden, welche die Lektüre bunter und abwechslungsreich gestalten. Der geschichtliche Rückblick zeigt, wie willkürlich die heute sakrosankten europäischen und deutschen Schuldenregeln entstanden sind. Diese technokratischen Begrenzungen des Schuldenstandes und der Neuverschuldung sind undemokratisch und makroökonomisch kontraproduktiv. Sie erschweren ein selbstbestimmtes, freies Leben der Mehrheit der Bevölkerung, indem sie nicht zuletzt eine unnötig hohe Arbeitslosigkeit bewirken. Sie gefährden auch den Wohlstand künftiger Generationen, indem sie Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Klimaschutz verhindern.
Mit Blick auf die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte bietet das Buch eine grundsätzlich andere Sichtweise sowie konkrete Reformvorschläge. Staatliche Politik sollte klare langfristige Ziele im Interesse vor allem der ärmeren Menschen anstreben und sich dabei wie ein Unternehmen verhalten, das seine strategischen Ziele auch durch Aufnahme von Schulden verfolgt. Für die Staatsschulden sollten flexible Regeln gelten, die demokratisch kontrolliert werden, um eine zielorientierte Verwendung der Gelder sicherzustellen.