In Paneuropaideen von Nietzsche, Napoleon und Victor Hugo können erste Vorläufer des Kerneuropakonzepts identifiziert werden. Mit dem Konzept von Nicolaus Coudenhove-Kalergi findet sich dann in der Zwischenkriegszeit ein wirklicher Vorläufer des Kerneuropagedankens. Damit nicht die europäische Seele preisgegeben werde, hielt er am nationalen Individualismus fest.
Als tatsächliche „Geburtsurkunde“ von Kerneuropa gilt das Schäuble-Lamers-Papier von 1994. Ziel war die Bildung einer Kerngruppe, die eine Erweiterung und vor allem Vertiefung vereinbaren sollte. Der Kern sollte nicht abgeschlossen, sondern für jedes Mitglied, das diverse Anforderungen erfüllt und zugleich teilnehmen möchte, offen sein. Joschka Fischer sprach 2000 in ähnlichem Geiste in der Humboldt-Universität von einem „Gravitationskern“, der nach dem 11. September jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Mit dem ehemaligen Finanzminister Jacques Delors fand sich auf der französischen Seite nur vereinzelt ein Befürworter des Kerneuropagedankens. Mit seiner Rede in der Sorbonne 2017 plädierte Präsident Emmanuel Macron in verwandtem Sinne für eine Neugründung Europas.
Als Grundlage für Europa ist die deutsch-französische Zusammenarbeit ein gutes Vorbild. Die Montanunion zum einen und der Élysée-Vertrag zum anderen begründeten den Anfang einer wichtigen Staatenkooperation und des modernen institutionellen Europas. Heute herrscht eine hohe institutionelle Verflechtung der beiden Staaten vor und sowohl die Ideen der Französischen Revolution sowie Deutschlands wirtschaftliche Stärke bieten dafür ein solides Fundament.
Als drittes Land für den inneren Kern ist Polen – Europas „östliche Schwinge“ – vorgesehen. Polen ist das fünftgrößte Land der EU, nimmt eine Führungsrolle im ostmitteleuropäischen Raum ein und hat sich trotz historischer Komplikationen stets dem Westen zugehörig gefühlt. Polen war mit seiner privaten Landwirtschaft, starken Kirche, liberalen Kulturpolitik und quasi tolerierten Opposition ein Sonderfall im Ostblock. Polen soll gleichsam wieder zurück, wo es politisch und historisch hingehörte: ins Zentrum Europas.
Mit der Gründung des „Weimarer Dreiecks“ im Jahre 1991, das sich aus den Ländern Deutschland, Frankreich und Polen zusammensetzt, war der lange Weg Polens in die EU geebnet worden. Einstweilen erscheint eine tiefere europäische Integration Polens gegenwärtig unwahrscheinlich. Die rechtspopulistische PiS verfolgt eine Europa-kritische Haltung und ihre Politik offenbart fortwährend rechtsstaatliche Defizite. Durch den Brexit und Trumps „America first“-Politik sind wichtige Eckpfeiler der polnischen Außenpolitik weggefallen. Trotz der Beteiligung am europäischen Verteidigungsprojekt PESCO sind aus polnischer Sicht lediglich die USA und die NATO ein wirklicher Sicherheitsgarant gegenüber einer russischen Aggression.
Gegenüber Deutschland besteht ein historisches Misstrauen, das jüngst durch Nord Stream 2 bestätigt wurde. Dennoch ist Deutschland der wichtigste Handels- und Investitionspartner Polens und war 2004 der stärkste Befürworter des polnischen EU-Beitritts. Frankreich genießt in Polen historisch begründete Sympathien seit der Zeit Napoleons. Auch wenn Frankreich skeptisch bei der Ausdehnung der EU nach Osten war und es zu einer Abkühlung mit PiS kam, zeichnete sich durch Bemühungen Emanuel Macrons 2020 eine Wende der Beziehung zwischen beiden Ländern ab. Da die polnischen Bürger_innen pro-europäisch eingestellt sind, ist langfristig eine Kooperation möglich, insbesondere, sobald die PiS das Regierungszepter abgeben sollte. Folglich gilt:
„In sozusagen idealtypischer Weise repräsentieren diese drei Länder alles, was Europa ausmacht: östliche, westliche und kontinentale Perspektiven; konservativ-religiöse, pazifistisch-ökologische und säkulare-patriotische Traditionen; Kampf um das Überleben als Nation, verspätete Nationsbildung, und frühzeitlicher Nationalstaat, geteiltes Land, föderalistische Struktur und Zentralismus pur.“
Für die neue europäische Ordnung ist das Konzept der „konzentrischen Kreise“ vorgesehen. Neben den drei genannten Staaten soll Kerneuropa aus insgesamt acht bis zehn integrationswilligen Ländern bestehen. Eine Teilhabe ist sinnvoll, wenn die geografische Lage der Länder, konkrete historische Entwicklungen sowie die daraus hervorgegangenen unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Strukturen gegeben sind.
Der Kern besteht aus einer weitgehend integrierten fiskalischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Union; der erste Kreis zeichnet sich durch einen starken Binnenmarkt aus, der auch digitale und sicherheitspolitische Aspekte aufgreifen könnte; der zweite Kreis sieht sich als Gemeinschaft von Werten und wirtschaftlicher Freiheit.
In diesem Staatenbund, der weiterhin unter dem Etikett der EU liefe, würde ein Rückbau der bürokratischen Strukturen, Verordnungen und Einmischungen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips als oberstes Leitmotiv stattfinden. Alles was auf einer unteren Ebene im Rahmen von Familie, Gemeinde, Verband, Region etc. geregelt und entschieden werden kann, sollte auch dort geregelt werden. Handlungsfähigkeit nach außen und nicht Einmischung nach innen soll hergestellt werden.
Im innersten Kern werden jedoch Souveränitätsrechte im Bereich Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung abgegeben. Ein gemeinsamer Haushalt und eine Bankenunion samt Ausgleichsmechanismus zwischen Gläubiger und Schuldner sind dabei vorgesehen. Nach dem Vorbild der Schweiz ist eine Union von Völkern in föderativer Ordnung geplant oder anders gewendet ein „Europa der Regionen“.
Dies spiegelt sich auch institutionell im vorgesehenen Parlament wider. Eine nach einheitlichem Wahlrecht direkt gewählte Nationenversammlung zum einen und ein Senat zum anderen – bei dem die gleiche Anzahl Mitglieder aus nationalen Parlamenten entsandt werden – verzahnen die föderale mit der nationalen Ebene. Weiterhin im Geiste der Schweiz könnten Volksabstimmungen dazu beitragen, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „Staatsnation“ zu festigen.
In einem Kerneuropa würden Abstimmungen sodann nicht nur auf nationaler, sondern auch auf föderaler Ebene erfolgen. Anhand der Verteidigungspolitik zeigt sich zuletzt, dass die Außenpolitik der Kerneuropa-Idee an erster Stelle steht. Beim ersten Schritt wäre die Bündelung von vorhandenen Kapazitäten und der Rüstungsindustrien vorgesehen. Als Fernziel stände schließlich die Schaffung einer Europäischen Armee mit einem gemeinsamen Generalstab. Europa soll ein Sicherheitsgarant gegen Migrationsprobleme und Terrorismus werden. Auf der Tagesordnung steht ein Europa, das schützt, das auch in der Lage ist, seine Nachbarschaft zu schützen, die im Vorhof von Kerneuropa keine engere politische Integration wünschen.