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Winfried Veit: Europas Kern

Eine Strategie für die EU von morgen. Bonn: Dietz Verlag (2020)

Spezialausgabe zur Ringvorlesung
aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt.

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk
Hans-Peter Schunk ist Doktorand am Seminar für Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg


buch|essenz

Kernaussagen

Die EU, die ursprünglich nicht für 27 Mitglieder ausgelegt war, ist infolge innerer Krisen und fortwährender divergierender Interessenslagen träge geworden und somit nicht mehr hinreichend handlungsfähig. Insbesondere im Bereich Sicherheits- und Außenpolitik sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik bedarf es eines kleineren Kerns an Staaten, der souverän mit vereinigter Stimme spricht und einer Lokomotive gleich die übrigen Staaten nach sich zieht. Dieses Konzept geht von einem „Kerneuropa“ aus, welches – anknüpfend an das 1991 ins Leben gerufene „Weimarer Dreieck“ – von Deutschland, Frankreich und Polen gestützt wird.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Soziale Demokratie setzt sich stets für ein einiges und starkes Europa ein. Ein Nachdenken über ein grundlegend neu strukturiertes, handlungsfähigeres Europa kann somit als wichtiger Impuls erachtet werden, wenngleich eine zu starke Gewichtung der Rolle einzelner Staaten aus Sicht der Sozialen Demokratie problematisch sein kann.


buch|autor

Winfried Veit, geboren 1946, ist Politikwissenschaftler und Publizist sowie Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Freiburg. Von 1976 bis 2011 war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung und dort u.a. tätig als Referatsleiter für Osteuropa und Zentralasien.


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buch|inhalt

Die Zukunft Europas auf Messers Schneide

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Eine neue Weltordnung ist am Werden. Bisher bleibt unklar, ob sich eine bipolare Ordnung mit den USA und China oder eine multipolare Ordnung herausbildet. Die EU ist dabei nur eine von vielen Akteuren, die sich zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt sehen. Islamistische Terroranschläge wie die von Madrid, London, Paris und Berlin sind neben der Radikalisierung dschihadistischer Gruppen in Nahost und der Sahelzone eine ernste Bedrohung für Europa. Darüber hinaus führen der weltweite demografische Wandel, Bürgerkriege und zerfallende Staaten zu Migrationsströmen nach Europa.

Der Klimawandel und drohende Verteilungskonflikte um Ressourcen sowie eine verfehlte Entwicklungspolitik im Bereich der Agrarsubventionen und eine erzwungene Öffnung von Märkten, die den Nord-Süd-Konflikt verschärfen, zementieren das Problem fortwährend. Die Folgen der Migrationen besitzen bisweilen das Potenzial, „Räume begrenzter Staatlichkeit“ zu schaffen. Durch die Verschärfung der sozialen Kluft wird so eine kulturelle Spaltung erzeugt, die nicht zuletzt bei osteuropäischen Staaten zu einer Furcht vor Zuständen führt, wie sie sich vermeintlich in anderen europäischen Ländern vorfinden lassen.

Überdies kommt es seit einigen Jahren zu einer Rückkehr der Geopolitik auf der Weltbühne. Aufsteigende Mächte wie China, Indien, Brasilien oder auch Russland setzen dem Westen zunehmend Widerstand entgegen und betrachten dabei die internationale Politik als „Nullsummenspiel“ unter den Mächten. Die Annexion der Krim oder der fortwährende Druck auf Taiwan zeugen davon. Ferner wirkt sich die Geopolitik aber auch durch eine Handelspolitik mithilfe von Präferenzabkommen aus, welche auf Macht- und Einflussgewinn abzielt.

Laut Samuel Huntington kommen zudem seit Ende des 20. Jahrhunderts zu ideologischen und ökonomischen Konfliktherden noch Auseinandersetzungen zwischen Ländern und Gruppen unterschiedlicher Kultur hinzu. Folglich stellt sich unter diesen Bedingungen die Frage, wie die EU den selbst auf die Fahnen geschriebenen Multilateralismus aufrechterhalten kann. Eklatante Probleme bestehen aber vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Insbesondere die 1997 beschlossene NATO-Osterweiterung oder die Nichtbeachtung eines 2009 von Dimitri Medwedew vorgelegten Konzepts über die Sicherheitsarchitektur vom Atlantik bis Wladiwostok schürten Misstrauen Russlands gegenüber der EU, ebenso wie deren Bemühungen, sechs ehemalige Sowjetrepubliken an sich zu binden.

Unter Trump hat sich außerdem gezeigt, dass die USA nicht bereit sind, ohne ein hinreichendes finanzielles Engagement weiter als Sicherheitsgarant der westlichen Staaten aufzutreten. China ist jedoch der größte Konkurrent, gegen den es sich zu behaupten gilt. Nach dem „Jahrhundert der Demütigung“ möchte China den Zustand der Führungsrolle in Ostasien und darüber hinaus wiederherstellen. Seit 2010 ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und setzt mit dem 900 Milliarden Dollar teuren Projekt der „Neuen Seidenstraße“ einen neuen Standard infrastruktureller Vernetzung.

Indien ist für die EU als größte Demokratie der Welt nicht nur ein potenziell wichtiger Handelspartner, sondern vor allem auch ein Verbündeter in der Auseinandersetzung um die Erhaltung des Multilateralismus und damit einer regelbasierten globalen Ordnung. Insbesondere auch aufgrund des Klimawandels darf Brasilien – in welchem sich große Teile des Amazonas Regenwald befinden – als relevanter Faktor in Südamerika nicht vergessen werden.

Nach ihrer ökonomisch-funktionalen Gründung ist eine wirkliche politische Integration ausgeblieben. Die weit ausufernde Bürokratie-Maschinerie, die fehlende Möglichkeit, die Regierung selbst wählen zu können, und das Missachten einer geistig-kulturellen Grundlage erschweren eine nachhaltige Identifikation mit der EU. Vielmehr wird sie als ein technokratisch-blutarmes Konstrukt ohne Tiefenbasis erachtet. Diese strukturellen Defizite bildeten dabei Katalysatoren der sich seit 2008 ereignenden Krisen.

Um der genannten Probleme und anschwellenden Konfliktherde Herr zu werden, bedarf es daher einer souveränen Handlungsfähigkeit nach außen. Aufgrund divergierender Interessen von 27 Staaten verharrt die EU jedoch in inneren Krisen und einer zwieträchtigen Schwerfälligkeit. Zentral ist dabei, dass sich die EU ihrer eigenen Identität mitsamt klarem Wertekanon nicht mehr sicher ist. Die Berufung auf die Aufklärung als zentralem Fundament der Wertetradition bei Nichtachtung der christlichen Vergangenheit hat ein „geistiges Vakuum“ erzeugt, das bei nichtwestlichen Kulturkreisen zu Gegenreaktionen führt.

Ausgelöst durch die fehlende Einigkeit ist nicht die Chiffre der kampfbereiten Verteidigung universeller Werte als einheitliche Moral übrig geblieben, sondern lediglich ein Label über Diskussion um volle Supermärkte oder die Geschäftspraktiken von Amazon. Nicht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern Frieden und Sicherheit stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts an erster Stelle. Europa muss sich deshalb mit dem Export europäisch-westlicher Werte zurückhalten, da in Europa selbst in Form von Populismus- und Illiberalismusdebatten Uneinigkeit herrscht.

Was nun im Westen aufgrund der Auflösung der eigenen kulturellen Dominanz als „Kosmopolitismus“ verkauft wird, erscheint außerhalb als „Kolonialismus mit anderen Mitteln“. Dass im Kosovo das Recht auf Selbstbestimmung mit Waffen durchgesetzt wurde, während im Falle der Krim auf die territoriale Integrität der Ukraine bestanden wird, zeigt weitere Ungereimtheiten auf. Die Postcolonial Studies zeigen darüber hinaus, wie die kulturelle Dominanz Europas einer Provinzialisierung weicht. Diese kann jedoch gleichsam als Chance begriffen werden, mithilfe der eigenen Werte ein kleineres, schlagkräftigeres Europa zu schaffen

Eine Strategie für die EU von morgen

In Paneuropaideen von Nietzsche, Napoleon und Victor Hugo können erste Vorläufer des Kerneuropakonzepts identifiziert werden. Mit dem Konzept von Nicolaus Coudenhove-Kalergi findet sich dann in der Zwischenkriegszeit ein wirklicher Vorläufer des Kerneuropagedankens. Damit nicht die europäische Seele preisgegeben werde, hielt er am nationalen Individualismus fest.

Als tatsächliche „Geburtsurkunde“ von Kerneuropa gilt das Schäuble-Lamers-Papier von 1994. Ziel war die Bildung einer Kerngruppe, die eine Erweiterung und vor allem Vertiefung vereinbaren sollte. Der Kern sollte nicht abgeschlossen, sondern für jedes Mitglied, das diverse Anforderungen erfüllt und zugleich teilnehmen möchte, offen sein. Joschka Fischer sprach 2000 in ähnlichem Geiste in der Humboldt-Universität von einem „Gravitationskern“, der nach dem 11. September jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Mit dem ehemaligen Finanzminister Jacques Delors fand sich auf der französischen Seite nur vereinzelt ein Befürworter des Kerneuropagedankens. Mit seiner Rede in der Sorbonne 2017 plädierte Präsident Emmanuel Macron in verwandtem Sinne für eine Neugründung Europas.

Als Grundlage für Europa ist die deutsch-französische Zusammenarbeit ein gutes Vorbild. Die Montanunion zum einen und der Élysée-Vertrag zum anderen begründeten den Anfang einer wichtigen Staatenkooperation und des modernen institutionellen Europas. Heute herrscht eine hohe institutionelle Verflechtung der beiden Staaten vor und sowohl die Ideen der Französischen Revolution sowie Deutschlands wirtschaftliche Stärke bieten dafür ein solides Fundament.

Als drittes Land für den inneren Kern ist Polen – Europas „östliche Schwinge“ – vorgesehen. Polen ist das fünftgrößte Land der EU, nimmt eine Führungsrolle im ostmitteleuropäischen Raum ein und hat sich trotz historischer Komplikationen stets dem Westen zugehörig gefühlt. Polen war mit seiner privaten Landwirtschaft, starken Kirche, liberalen Kulturpolitik und quasi tolerierten Opposition ein Sonderfall im Ostblock. Polen soll gleichsam wieder zurück, wo es politisch und historisch hingehörte: ins Zentrum Europas.

Mit der Gründung des „Weimarer Dreiecks“ im Jahre 1991, das sich aus den Ländern Deutschland, Frankreich und Polen zusammensetzt, war der lange Weg Polens in die EU geebnet worden. Einstweilen erscheint eine tiefere europäische Integration Polens gegenwärtig unwahrscheinlich. Die rechtspopulistische PiS verfolgt eine Europa-kritische Haltung und ihre Politik offenbart fortwährend rechtsstaatliche Defizite. Durch den Brexit und Trumps „America first“-Politik sind wichtige Eckpfeiler der polnischen Außenpolitik weggefallen. Trotz der Beteiligung am europäischen Verteidigungsprojekt PESCO sind aus polnischer Sicht lediglich die USA und die NATO ein wirklicher Sicherheitsgarant gegenüber einer russischen Aggression.

Gegenüber Deutschland besteht ein historisches Misstrauen, das jüngst durch Nord Stream 2 bestätigt wurde. Dennoch ist Deutschland der wichtigste Handels- und Investitionspartner Polens und war 2004 der stärkste Befürworter des polnischen EU-Beitritts. Frankreich genießt in Polen historisch begründete Sympathien seit der Zeit Napoleons. Auch wenn Frankreich skeptisch bei der Ausdehnung der EU nach Osten war und es zu einer Abkühlung mit PiS kam, zeichnete sich durch Bemühungen Emanuel Macrons 2020 eine Wende der Beziehung zwischen beiden Ländern ab. Da die polnischen Bürger_innen pro-europäisch eingestellt sind, ist langfristig eine Kooperation möglich, insbesondere, sobald die PiS das Regierungszepter abgeben sollte. Folglich gilt:

„In sozusagen idealtypischer Weise repräsentieren diese drei Länder alles, was Europa ausmacht: östliche, westliche und kontinentale Perspektiven; konservativ-religiöse, pazifistisch-ökologische und säkulare-patriotische Traditionen; Kampf um das Überleben als Nation, verspätete Nationsbildung, und frühzeitlicher Nationalstaat, geteiltes Land, föderalistische Struktur und Zentralismus pur.“

Für die neue europäische Ordnung ist das Konzept der „konzentrischen Kreise“ vorgesehen. Neben den drei genannten Staaten soll Kerneuropa aus insgesamt acht bis zehn integrationswilligen Ländern bestehen. Eine Teilhabe ist sinnvoll, wenn die geografische Lage der Länder, konkrete historische Entwicklungen sowie die daraus hervorgegangenen unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Strukturen gegeben sind.

Der Kern besteht aus einer weitgehend integrierten fiskalischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Union; der erste Kreis zeichnet sich durch einen starken Binnenmarkt aus, der auch digitale und sicherheitspolitische Aspekte aufgreifen könnte; der zweite Kreis sieht sich als Gemeinschaft von Werten und wirtschaftlicher Freiheit.

In diesem Staatenbund, der weiterhin unter dem Etikett der EU liefe, würde ein Rückbau der bürokratischen Strukturen, Verordnungen und Einmischungen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips als oberstes Leitmotiv stattfinden. Alles was auf einer unteren Ebene im Rahmen von Familie, Gemeinde, Verband, Region etc. geregelt und entschieden werden kann, sollte auch dort geregelt werden. Handlungsfähigkeit nach außen und nicht Einmischung nach innen soll hergestellt werden.

Im innersten Kern werden jedoch Souveränitätsrechte im Bereich Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung abgegeben. Ein gemeinsamer Haushalt und eine Bankenunion samt Ausgleichsmechanismus zwischen Gläubiger und Schuldner sind dabei vorgesehen. Nach dem Vorbild der Schweiz ist eine Union von Völkern in föderativer Ordnung geplant oder anders gewendet ein „Europa der Regionen“.

Dies spiegelt sich auch institutionell im vorgesehenen Parlament wider. Eine nach einheitlichem Wahlrecht direkt gewählte Nationenversammlung zum einen und ein Senat zum anderen – bei dem die gleiche Anzahl Mitglieder aus nationalen Parlamenten entsandt werden – verzahnen die föderale mit der nationalen Ebene. Weiterhin im Geiste der Schweiz könnten Volksabstimmungen dazu beitragen, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „Staatsnation“ zu festigen.

In einem Kerneuropa würden Abstimmungen sodann nicht nur auf nationaler, sondern auch auf föderaler Ebene erfolgen. Anhand der Verteidigungspolitik zeigt sich zuletzt, dass die Außenpolitik der Kerneuropa-Idee an erster Stelle steht. Beim ersten Schritt wäre die Bündelung von vorhandenen Kapazitäten und der Rüstungsindustrien vorgesehen. Als Fernziel stände schließlich die Schaffung einer Europäischen Armee mit einem gemeinsamen Generalstab. Europa soll ein Sicherheitsgarant gegen Migrationsprobleme und Terrorismus werden. Auf der Tagesordnung steht ein Europa, das schützt, das auch in der Lage ist, seine Nachbarschaft zu schützen, die im Vorhof von Kerneuropa keine engere politische Integration wünschen.


buch|votum

Das Buch bietet wertvolle Anregungen und Perspektiven, um in einen fruchtbaren Dialog über eine Reformierung der EU einzutreten. Weiterhin liefert Veit einen substanziellen Überblick über verschiedene historische Europakonzeptionen. Durch eine etwas konzisere Schreibweise hätte das Essay kürzer ausfallen können, da es sich zuweilen in Anekdoten verliert. Es bleibt Veits Verdienst, die wichtige Denkfigur Kerneuropas als durchaus legitime Alternative erneut in den Vordergrund zu spielen und somit in den Diskurs einzuspeisen. Damit es nicht lediglich bei einer Wiederaufnahme des Schäuble-Lamers Papier inklusive einiger zusätzlicher Ausführungen bleibt, wäre es wünschenswert, wenn Veit – vielleicht in Zusammenarbeit mit Europapolitiker_innen – noch einen zweiten, weiterführenden Teil vorlegen würde.

Auch wenn sich Willy Brandt schon früher für ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ ausgesprochen hatte und Heiko Maas sich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2018 für eine Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks“ ausgesprochen hatte, scheint das Konzept Kerneuropa in der SPD jedoch aktuell keinen weiter reichenden Anklang zu finden. Für Europa-Staatsminister Michael Roth handelt es sich beim Kerneuropa-Konzept vielmehr um einen „exklusiven Klub vereinzelter Staaten“, was in dieser Form nicht funktionieren wird.

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Verlag: J.H.W. Dietz Nachf.
Erschienen: Juli 2020
Seiten: 160
ISBN: 978-3-8012-0571-3

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