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Kurzgefasst und eingeordnet vonPippa Kolmer– Pippa Kolmer hat Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Münster studiert. Sie arbeitet derzeit als freie Journalistin.
Yascha Mounk bezeichnet unser heutiges Zusammenleben in diversen Demokratien als „ein großes Experiment“. In seinem gleichnamigen Buch stellt er sich der Frage, wie ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in Zeiten multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften funktionieren kann, welche Hindernisse es zu überwinden gilt, aber auch welche Gefahren lauern, sollte uns das Experiment nicht gelingen. Mit starkem empirischem und historischem Bezug entwickelt Mounk wichtige Eckpfeiler einer diversen Gesellschaft.
Das vorliegende Werk behandelt einige Kernthemen der sozialen Demokratie, etwa den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung wie auch einen starken Wohlfahrtsstaat als wichtigen Akteur für mehr Zusammenschluss, Zugehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung und gegen Dominanz und Fragmentierung. Mounk analysiert die Herausforderungen, die diversen Demokratien bevorstehen, und benennt wichtige Eckpunkte für ein solidarisches Zusammenleben. Immer wieder betont er die Wichtigkeit sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit.
Yascha Mounk wurde 1982 in München geboren. Er ist Politikwissenschaftler und Associate Professor an der Johns Hopkins Universität.
Zudem ist er Gründer der Zeitschrift „Persuasion“ und Autor für „The New York Times“, „The Atlantic“ und „Die Zeit“.
Bei Droemer erschien von ihm bereits 2018 Der Zerfall der Demokratie.
Die Leitfrage des Buches lässt sich wie folgt formulieren: Wie können wir eine tolerante Gesellschaft in einer diversen Demokratie aufbauen?
Dem menschlichen Sein wohnt es inne, sich zu Gruppen zu formieren. Dies hat Vor- und Nachteile. Die daraus entstehenden Kollektividentitäten werden häufig problematisiert. Mounk betont, dass die relative Größe der eigenen Gruppe in Demokratien immer eine direkte Einwirkung auf die Möglichkeiten des eigenen politischen Einflusses hat. Wer in der Mehrheit ist, bestimmt schließlich die politische Ausrichtung. Wer jedoch ewig in der Minderheit verbleibt, kann nur sehr wenig Einfluss nehmen. Hier sieht der Autor großes Konfliktpotenzial.
Mounk kritisiert sowohl den „Fatalismus der Linken, die einen Fortschritt nur durch den Sieg der Unterdrückten über ihre Unterdrücker durch einen unerbittlichen Machtkampf sehen“ als auch die „Xenophobie der Rechten, die Einwanderung und demografischen Wandel als eine existenzielle Bedrohung für den Erfolg von Demokratien sehen“.
Im Instinkt, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, liegt jedoch auch ein bisher nicht ausgeschöpftes Potenzial. So gibt es Anlass zum Optimismus, denn diverse Demokratien haben bereits große Fortschritte erzielt und die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen sinkt stetig. Auch die Lücke in Einkommen, Bildungsstatus und Lebenserwartung zwischen Einheimischen und Zugewanderten schmälert sich stetig. Sowohl Politiker_innen als auch Bürger_innen ruft Mounk dazu auf, die Zukunft mitzugestalten.
Menschen neigen zur Bildung von Gruppen. Dabei kann es höchst unterschiedlich sein, welche Merkmale in einer Gruppe identitätsbildend sind. Global betrachtet kann ein Identitätsmerkmal in verschiedenen Kontexten eine ganz andere Bedeutung haben. So ist in den USA die Hautfarbe „der wichtigste Marker für Identität", während in Indien immer noch das Kastensystem einen mächtigen Stellenwert genießt. Im südlichen Afrika hingegen ist vor allem die Zugehörigkeit zu einem Stamm Teil der eigenen Identität, während im Nahen Osten vor allem die Unterteilung in Sunniten und Schiiten entscheidend ist.
Mounk stellt fest, dass die gewalttätigsten Konflikte auf der ganzen Welt damals wie heute immer in Verbindung zu Klasse, Ethnizität, Religion und Nation stehen. Verschiedene ethnische Gruppen sind nun mal unterschiedlich und darin liegt ein großes Konfliktpotenzial. Mögliche Folgen sind Anarchie, Dominanz und Fragmentierung. Hierin liegen die drei wichtigsten Gründe, weshalb diverse Gesellschaften scheitern.
Die Antwort darauf ist ein starker Wohlfahrtsstaat. Denn glauben alle Bürger_innen, dass zum Beispiel von ihren Steuern Leute wie du und ich profitieren, ist die Bereitschaft deutlich höher „einen großzügigen Sozialstaat zu finanzieren, als wenn sie fürchten, das Geld gehe ohnehin an Menschen, mit denen sie sich nicht identifizieren“. Gegenseitiges Vertrauen zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist eine grundlegende Erfolgsvoraussetzung für das große Experiment.
Diverse Gemeinschaften sind noch viel stärker von Meinungsverschiedenheiten geprägt, als es homogene Nationen bereits sind. Es besteht ein wesentlich kleinerer Grundkonsens. Laut der Kontakthypothese führt der Kontakt zu Fremden zu mehr Toleranz. Dabei müssen jedoch wichtige Bedingungen vorliegen. Die sich begegnenden Gruppen müssen ein gemeinsames Ziel, einen gemeinsamen Status haben. Idealerweise gibt es einen Anlass zur Kooperation, beispielsweise unter Kolleg_innen auf der Arbeit. Sie müssen sich ihrer gemeinsamen Interessen und gemeinsamen Menschlichkeit bewusst werden. Das kann gut in Vereinen – etwa im Chor oder beim Handball – klappen, solange diese einen möglichst guten Querschnitt der Gesellschaft abbilden.
Doch wie kommen wir zu diesen Bedingungen der Begegnung und welche Rolle soll der Staat dabei spielen? Der Autor wägt an dieser Stelle liberale und kommunitaristische Prinzipien ab, die entweder das Individuum oder die Gruppe in den Fokus stellen.
Bürger_innen diverser Gesellschaften brauchen für ein frei gestaltbares Leben zweierlei: die Freiheit vor Verfolgung und somit Schutz vor staatlicher Willkür sowie Rede- und Versammlungsfreiheit. Menschen müssen zudem frei von Zwangsausübung sein, die durch Verwandte oder Geistliche in ihrer Gruppe entsteht. Es muss die Möglichkeit bestehen, die eigene Gruppe zu verlassen und die damit verbundenen Normen zu verletzen.
Die wichtigsten Instrumente dafür sind regelmäßige, faire Wahlen, eine wirksame Gewaltenteilung sowie individuelle Rechte, um die Gefahr einer dauerhaften „Tyrannei der Mehrheit“ zu beseitigen, die in ethnisch oder religiös gespaltenen Gesellschaften besonders groß ist.
Der Autor argumentiert, dass eine kommunitaristische Sichtweise keine umfängliche Freiheit von dem Zwang gewährt, den die eigene Gruppe auf Mitglieder ausüben kann, da sich der Staat vorbehält, nicht in Gruppen einzugreifen, solange sie im Frieden mit anderen Gruppen stehen. Er präferiert hingegen den Fokus auf das Individuum. Liberale Prinzipien können Bürger_innen besser vor der Unterdrückung durch die eigene Gruppe schützen und ihnen die Flucht aus dem „Käfig der Normen“ ermöglichen, ohne selbst repressiv zu werden.
Mounk schlägt einen „Kulturpatriotismus“ vor. Diese gezähmte Form des Patriotismus ist nicht ethnisch definiert, sondern gründet sich in den Dingen, zu denen die meisten Bürger_innen eine tiefe Verbundenheit spüren: Landschaften, Städte, Speisen, Bräuche, Gebäude, Sprache, Promis, Fernsehsendungen sowie Gewohnheiten, Ansichten und Verhaltensweisen des alltäglichen Lebens. Der Autor hält diese Form des Patriotismus für „die beste Grundlage für die Entwicklung von Solidarität zwischen Menschen, die ansonsten nur wenige Gemeinsamkeiten haben“.
Für das Miteinander und den Grad der nötigen Integration in diversen Gesellschaften gibt es zahlreiche Metaphern, zum Beispiel den Schmelztiegel oder die Salatschüssel. Mounk kritisiert, dass der Schmelztiegel zu viel Anpassung abverlangt und zu stark fordert, die eigene Ursprungskultur aufzugeben. Die Salatschüssel hingegen würdigt zwar das kulturelle Erbe der zugewanderten Gruppen, setzt diese aber kaum in Kontakt zueinander, sodass die Gefahr einer fragmentierten Gesellschaft entsteht.
Sein Vorschlag: der öffentliche Park „als ein gemeinsamer Raum, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft sinnvolle Gelegenheiten finden, zu interagieren und zu kooperieren“. Ein Park ist für alle zugänglich. In einem Park können die Besucher_innen ein breites Spektrum von Aktivitäten ausüben, jedoch nur, solange alle allen das Recht und die Freiheit gewähren, diesen nachzugehen. So entsteht ein lebendiger Ort der Begegnung. Man kann diskutieren, wie man den Park gestalten will, wo noch Verbesserungspotenzial steckt. Im übertragenen Sinne: In einer diversen Demokratie soll es legitime Differenzen geben. Alle sollen Teilhabe genießen und sich an der Mitgestaltung beteiligen können.
Geht es um ethnische Kategorien, fällt häufig der Begriff „Rasse“. Auch wenn wir zunehmend versuchen, alte Ungerechtigkeiten zu beenden, ist es naiv zu glauben, dass diese Kategorie vollkommen verschwindet. Auch sollte man sie als solche anerkennen, denn „Rassenblindheit führt manchmal in der Praxis zu Rassissmusblindheit“. Durch eine starke Herausarbeitung gemeinsamer Interessen und den Abbau bestehender Ungerechtigkeiten kann die Kategorie Rasse an Bedeutung einbüßen – „nicht weil Menschen die nach wie vor existierende Relevanz dieser Kategorie ignorieren, sondern weil diese Kategorie die Realität tatsächlich immer weniger beeinflusst“.
Die zunehmende Fokussierung auf Identitätspolitik, vor allem seitens linker politischer Lager, ist nicht förderlich für den erfolgreichen Aufbau diverser Gesellschaften. Eine fatalistische Haltung, die die Idee einer gegenseitigen politischen Solidarität vollkommen aufgibt, verkennt die Realität: „Ein Mann muss keine sexuelle Belästigung erlebt haben, um darin ein Unrecht zu erkennen.“ Die Hindernisse gegenseitigen Verständnisses sind behebbar. Menschen sind in der Lage, sich empathisch in andere hineinzuversetzen und ihr Gerechtigkeitsempfinden zu stärken. Eine zu starke Betonung von ethnischen Identitäten statuiert eine Unversöhnlichkeit zwischen Weißen und People of Colour, die es schlicht nicht gibt.
„Kulturen sind flüssige Gebilde.“ Sie sind Summe dessen, was die Menschen, die sich ihnen zuschreiben, ausmacht. Dabei sind sie aber nicht starr, sondern im kontinuierlichen Austausch mit anderen Kulturen. Wo sie auf andere treffen, findet Inspiration statt. Hierbei gilt: „kulturelle Aneignung nicht mit kulturellem Austausch gleichsetzen“.
In Zeiten starker Polarisierung und des Bedeutungsgewinns rechter Politiker_innen macht sich eine pessimistische Weltsicht breit. Drei Sorgen sind dabei vorherrschend:
Auch der Mythos eines sogenannten Bevölkerungsaustausches hält sich wacker.
Dem Pessimismus ist eine Analyse der Realität entgegenzuhalten, denn tatsächlich entwickelt sich die Lebensrealität der meisten Menschen ins Positive. Einwanderer_innen und andere Minderheiten erleben schnelle ökonomische Fortschritte und werden heute schneller als gesellschaftlicher Bestandteil akzeptiert als noch vor 30 Jahren. Die sozioökonomische Lücke wird mit jeder Generation kleiner. Und auch wenn es Menschen gibt, die „den Grundregeln eines friedlichen Zusammenlebens tatsächlich zutiefst feindlich gegenüber“ stehen, streben die allermeisten Zugewanderten nach ähnlichen Werten und wollen sich integrieren.
Diverse Demokratien müssen dennoch handeln, um diese Entwicklung weiterhin aufrechtzuerhalten und zu beschleunigen. Dazu gehört ein sicherer Wohlstand für alle. Voraussetzung: Das ökonomische Wachstum muss gefördert werden. So kann das Empfinden gesteigert werden, dass dem Großteil der Bürger_innen eine wirtschaftlich sichere Zukunft bevorsteht. Dieses Empfinden kann auch zu mehr universeller Solidarität führen.
Wichtige Punkte dafür sind eine Reform des Bildungssystems, die zu mehr Chancengleichheit führt, und ein erleichterter Zugang zum sozialen Sicherungssystem. Die Kluft zwischen verschiedenen demografischen Gruppen soll durch einen großzügigen Wohlfahrtsstaat geschlossen werden. Wichtig ist es dabei, verschiedene Gruppen nicht miteinander in Konkurrenz für materielle Zuwendungen zu setzen. Es muss vielmehr das Gefühl entstehen, dass alle ein großes Stück vom Kuchen abbekommen.
Demokratische Institutionen müssen inklusiv sein und Teilhabe für alle ermöglichen. Um die Angst vor unkontrollierter Einwanderung zu hemmen, sollte der Staat zeigen, dass er in der Lage ist zu bestimmen, „wer ins Land kommt“.
Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bleibt die wichtigste Ursache starker gesellschaftlicher Polarisierung. Daher muss eine „Kultur gegenseitigen Respekts“ entstehen.
Yascha Mounks Werk regt zum Nachdenken an. Wie kann eine diverse Gesellschaft Migration und Interkulturalität mit Gerechtigkeit und Teilhabe vereinen? Der Autor behandelt eine hochaktuelle Frage, die im Kontext der Fluchtbewegung aus der Ukraine und des Klimawandels weiter an Bedeutung gewinnt und deren Antwort noch bevorsteht.
Neben autobiografischen Elementen schmückt Mounk seine Argumente vor allem durch historische und empirische Beispiele durchaus überzeugend aus. Auch schaut er teils selbstkritisch auf seine früheren Haltungen und übt Kritik am derzeitigen Pessimismus, den er im linken und rechten politischen Lager vernimmt.
Er zeichnet eine Vision, die optimistisch und pflichtbewusst in die Zukunft blickt. Immer wieder gelingt es ihm anhand von Metaphern wie dem „halbwilden Patriotismustier“ und dem öffentlichen Park, seine Vision zu verbildlichen und nachvollziehbar zu machen. Trotz hohen deskriptiven Anteilen und teils starkem Fokus auf die USA, schlägt er im letzten Teil den Bogen in die Praxis und macht politische Handlungsvorschläge.
Dabei geht Mounk sehr strukturiert vor. Man verspürt seine Begeisterung für das, was uns bevorstehen könnte, wenn das Experiment gelingt: eine diverse, gerechte Demokratie. Das Buch findet seinen Platz im Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Kommunitarismus klar im liberalen Spektrum. Mounk schreibt eine Absichtserklärung, die Mut macht.
Verlag: Droemer HCErschienen: 01.04.2022Seiten: 352ISBN: 978-3-426-27850-5