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Hermann Scheer

Mein Ausgangspunkt sind nicht die erneuerbaren Energien, sondern ist die Gesellschaft – aus der Erkenntnis, welche elementare Bedeutung der Energiewechsel für deren Zukunftsfähigkeit hat. Hermann Scheer

Kurzbiografie

Hermann Scheer (1944-2010), SPD-Politiker und "Solarpapst", trieb als visionärer Verfechter der Energiewende die Umstellung auf erneuerbare Energien entscheidend voran. Er initiierte das wegweisende Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), gründete den Verein EUROSOLAR und prägte die Debatte um eine nachhaltige und demokratisch organisierte Energieversorgung. Scheers Arbeit war von der Überzeugung geleitet, dass die Energiewende eine zentrale Rolle für eine gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft spielt. Sein unermüdlicher Einsatz machte ihn international bekannt und hinterließ bleibende Spuren in der Umwelt- und Energiepolitik.

Hörbuch

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Hermann Scheer – atypischer Visionär und Pionier der Energiewende

von Michael Reschke

Zumindest Hermann Scheer (* 29.4.1944 · † 14.10.2010) kann man die mangelnde Diskursfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten nicht anlasten. Es gab in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland – und in der Sozialdemokratie allemal – wohl kaum einen anderen Politiker, der Intellektualität, Charisma und Leidenschaft, fachpolitische Expertise und die Fähigkeit zu strategischer Politik in vergleichbarer Weise vereinte, als dies der große Streiter für die Energiewende, der »Solarpapst« Hermann Scheer, tat.

Er wurde im hessischen Wehrheim geboren. Nach Heidelberg und Fulda fand die Familie schließlich 1957 nach Berlin. Nach dem Abitur ging er 1964 als Offiziersanwärter zur Bundeswehr, verließ diese allerdings bereits nach drei Jahren wieder. Die dortigen Erfahrungen und die Bekanntschaft mit Ernst Lange, einem der Sprecher der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung, prägten ihn friedenspolitisch und vor allem als Gegner von Atomwaffen (vgl. Henke 2004).

Statt der Offizierslaufbahn entschied er sich für ein Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Heidelberg (1967). Dort engagierte er sich im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB). 1965 trat er der SPD bei. Nach dem Examen 1972 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. 1973 wurde er Landesvorsitzender der Jusos in Baden-Württemberg, 1974 stellvertretender Bundesvorsitzender. Beruflich verschlug es ihn von 1976 bis 1980 als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Kernforschungszentrum Karlsruhe – eine berufliche Station, die ihm vertiefte Einblicke in die Kerntechnologie eröffnete. 1980 zog Scheer in den Deutschen Bundestag ein und gehörte diesem bis zu seinem Tod im Oktober 2010 an. Von 1993 bis 2009 war er Mitglied des SPD-Parteivorstandes (vgl. ebd.).

1986 veröffentlicht Scheer »Die Befreiung von der Bombe. Weltfrieden, europäischer Weg und die Zukunft der Deutschen« (Scheer 1986). Diese Publikation stellt seine Hinwendung zu einer neuen Energiepolitik dar. Der Sonnenenergie wird in Fragen der Umweltsicherheit und Abrüstung eine zentrale Rolle zugeteilt. Ganz im Sinne der »Doppelstrategie« der Jusos engagiert er sich nicht nur in den parlamentarischen und parteilichen Strukturen, sondern auch zivilgesellschaftlich: 1988 gründet er EUROSOLAR, die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien, und seit 1990 erscheint über diese die Zeitschrift »Solarzeitalter« (ebd.). 2010 gründet er zudem das überparteiliche Institut Solidarische Moderne mit.

 

Hinwendung zur Energiefrage als Zivilisationsfrage

Hermann Scheer trieb die Frage nach dem Zustand der Demokratie an. Bereits in seiner Dissertationsschrift »Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie« widmete er sich 1979 der Legitimationskrise der parlamentarischen Parteiendemokratie. 2003, geprägt durch über zwei Jahrzehnte im politischen Betrieb, griff er diese Fragestellung in »Die Politiker« (Scheer 2003) erneut auf. Darin stellt er fest:

»›In dubio pro libertate‹, im Zweifel für die Freiheit, ist ein klassischer Grundsatz liberalen Denkens. Im Zweifel für das Demokratische: Dieser Grundsatz ist dem öffentlichen Bewusstsein abhanden gekommen« (Scheer 2003: 156).

Scheers Credo lautete: »dass die gewaltengeteilte Verfassungsdemokratie der wichtigste zivilisatorische Fortschritt der Menschheitsgeschichte ist« (Scheer 2003: 14). Diese stünde von außen durch globale wirtschaftliche Strukturen und von innen durch die Degeneration des Politischen unter Druck (ebd.).

An diese Analyse schloss sich auch seine Hinwendung zur Energiepolitik an:

»Ich bin nicht von den erneuerbaren Energien zur Politik für diese gekommen, sondern aus meiner Problemsicht und von meinem Verständnis politischer Verantwortung zu den erneuerbaren Energien. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien hat eine zivilisationsgeschichtliche Bedeutung.« (Scheer 2010: 27 f.)

Die Energiewende verstand er dabei nicht allein als umweltpolitischen Beitrag zur Lösung der Klimakrise und der Endlichkeit der Ressourcen, sondern als grundlegendes Projekt der demokratischen Selbstermächtigung. Er plädierte dabei für das Aufbrechen der politischen und ökonomischen Macht der Energiewirtschaft, für einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie und ein konsequentes, allgemeines Vorrangprinzip für erneuerbare Energien. Deren Organisation und Produktion müsse in kleinteiliger Form dezentral erfolgen, so gelänge eine Demokratisierung der Energiewirtschaft und Oligopole könnten überwunden werden. Hierzu gesellt sich eine friedenspolitische Absicht: Mit der Energiewende und der vollständigen Hinwendung zu erneuerbaren Energie suchte er zukünftige Krisen und Kriege um Ressourcen zu verhindern (Scheer 2010: 61 ff.).

Mit der Energieproduktion und -organisation einerseits und der Demokratisierung der Gesellschaft andererseits widmete sich Scheer zwei zentralen Herausforderungen. Seine progressive Beantwortung der Demokratie- und der Energiefrage war: Sie sind nicht getrennt zu behandeln, sondern bedingen sich, ja, stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Einer zentralisierten Energieversorgung einiger weniger, aber ökonomisch wie politisch machtvoller Akteure, namentlich dem Oligopol der Energiekonzerne, stellt er eine breite, am Gemeingut orientierte Streuung dezentraler Energieanlagen in den Händen von Privatpersonen, Genossenschaften und Kommunen gegenüber. Diese Dialektik identifiziert zu haben und ihre Konsequenzen in politische Sachpolitik erfolgreich übersetzt zu haben, bleibt.

Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass Hermann Scheer kein einfacher Visionär war, sondern die konkrete Umsetzung seiner Ideen stets im Blick behielt, dann erbrachte Scheer diesen Beweis 2008 im hessischen Landtagswahlkampf. Im Schattenkabinett der damaligen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti war er als Minister für Wirtschaft und Umwelt mit umfangreichen Kompetenzen in der Raum- und Landschaftsplanung vorgesehen – eben jener Zuschnitt, den er zuvor in seinen Publikationen als unverzichtbar zur politischen Realisierung der Energiewende herausgearbeitet hat.

Unermüdlich und mit hohem Einsatz stritt er national wie international für die Energiewende. Mit seiner letzten Veröffentlichung, dem »Energet(h)ischen Imperativ« (Scheer 2010), wenige Wochen vor seinem Tod, legte er einen handlungsorientierten Entwurf zu einer beschleunigten 100%-Versorgung auf der Basis erneuerbarer Energien vor, der zugleich sein politisches Vermächtnis markiert. Hierin mahnt er ein um negative Umwelteinfl üsse erweitertes Verständnis von Art. 2 GG (»körperlicher Unversehrtheit«) an und legt – ausgehend von einer autonomen und demokratisch gestaltbaren Energieversorgung auf der Grundlage Erneuerbarer Energien – zwei Wertesynthesen dar: zum einen

»zwischen Individualismus und Gemeinwohl [...], weil ihre autonome Nutzung die individuelle Freiheit erweitert und andere Menschen nicht belastet«

und zum anderen

»zwischen ideellen und materiellen Werten, weil es möglich wird, die materiellen Interessen der Menschen ohne gesellschaftliche und Naturschäden zu befriedigen und zu einer ökologischen Ökonomie zu kommen« (Scheer 2010: 255 ff.).

 

Wirkung über den Tag hinaus

Hermann Scheer hat es sich und anderen nie leicht gemacht. Ihn zeichnete Konsequenz, Weitblick und ein im allerbesten Sinne positives, weil produktives Verständnis von politischem Streit aus: »Die offene und kontroverse politische Diskussion liebe ich« (Scheer 2003: 7). Nicht zufällig zitierte er gerne Stanisław Lec: »Wenn alle einstimmig singen, ist der Text ohne Bedeutung.«

Breite Anerkennung erfuhr er zuvorderst im Ausland. Verschiedene Ehrendoktorwürden und Preise wegen seines Einsatzes für erneuerbare Energien wurden ihm verliehen: 1999 wurde er mit dem Right Livelihood Award, dem »alternativen Nobelpreis«, geehrt. 2002 kürte ihn das Time Magazine zum »Hero for the Green Century«. Zudem wurde er unter anderem mit den Weltpreisen für Solarenergie (1998), Bioenergie (2000) und Windenergie (2004) ausgezeichnet (Henke 2004).

Ohne ihn wäre die Einleitung der Energiewende in Deutschland und über Deutschland hinaus so nicht denkbar gewesen. Er schuf den politisch-ideologischen Überbau für die Energiewende, griff aber auch tief greifend als Architekt in die Gesetzgebung ein: Das Stromeinspeisegesetz für erneuerbare Energien (1991), das 100.000-Dächer-Programm (1999) oder auch das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien (2000) sowie vor allem die Triebkraft des Booms der erneuerbaren Energien und Gesetzesexportschlagers EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz aus dem Jahr 2000, welches Vorbild für rund 50 Staaten wurde, gehen maßgeblich auf ihn zurück.

Ohne ihn wäre die im letzten Vierteljahrhundert festzustellende weltweite Dynamik in Richtung der Erneuerbaren Energien anders verlaufen. Seinen letzten Erfolg empfand er wohl auch als seinen größten: Im Jahr 2009, nach fast 20 Jahren intensiven Einsatzes, konnte er die Gründung der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien (International Renewable Energy Agency, kurz: IRENA) feiern. Sie soll sich zu einem internationalen Gegengewicht zu IAEA, EURATOM und IEA als Interessensstrukturen der Atom- und fossilen Energiewirtschaft entwickeln (Scheer 2007: 236).

Hermann Scheer hat die Soziale Demokratie um eine bedeutsame ökonomische wie ökologische Dimension erweitert, die in Tradition der Demokratisierung aller Lebensbereiche und der politischen Selbstermächtigung des Citoyens steht. Mit seinem Verständnis der Energiewende als eine von Wertschöpfung, Dynamik und technologischem Fortschritt bestimmte Entwicklung versöhnt er die Sozialdemokratie zudem jenseits jeglicher »Verzichtsrhetorik« mit dem sozialökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Er füllt zudem den Internationalismus der Sozialdemokratie mit Leben und hinterlässt so auf allen politischen Ebenen Meilensteine einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Weltgesellschaft.


Werk

  • Scheer, Hermann (1979), Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie, München.
  • Scheer, Hermann (1986), Die Befreiung von der Bombe. Weltfrieden, europäischer Weg und die Zukunft der Deutschen, Köln.
  • Scheer, Hermann (1989), Vom Atomzeitalter zum Solarzeitalter, in: ders. (Hg.), Das Solarzeitalter, Freiburg i. Br., S. 7-37.
  • Scheer, Hermann (1995), Zurück zur Politik. Die archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratien, München.
  • Scheer, Hermann (1999), Solare Weltwirtschaft. Strategie für die ökologische Moderne, München.
  • Scheer, Hermann (2003), Die Politiker, München.
  • Scheer, Hermann (2005), Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien, München.
  • Scheer, Hermann (2007), Internationale Umweltpolitik zwischen Uni- und Multilateralismus, in: Beck, Kurt/Heil, Hubertus (Hg.), Sozialdemokratische Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden, S. 230-240.
  • Scheer, Hermann (2010), Der energet(h)ische Imperativ. 100 Prozent jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist, München.

Literatur


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