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»Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.« So lautet ein oft bemühtes Zitat, das Kurt Schumacher zugeschrieben wird. Wenn dieser Satz stimmt, sollte er konsequenterweise auf folgende Weise fortgesetzt werden: …und die politische Debatte beginnt mit der Deutung der Realität. Denn Politik ist ein Kampf um Deutungshoheit. Dieser Wettstreit um die Beschreibung und Deutung der Wirklichkeit findet mit Begriffen, Bildern und Argumentationsketten statt. Sprache in der Politik ist deshalb sprachliches Handeln. Es macht einen Unterschied, ob von »Betreuungsgeld« oder »Herdprämie« gesprochen wird, von »Klimaveränderungen« oder »Klimakrise«. Und genauso macht es einen Unterschied, ob von »Asylbewerber_innen« oder »Schutzsuchenden« die Rede ist.
Wer in der politischen Öffentlichkeit mit Sprache interveniert – also Akteur_innen aus Politik, Medien, Gesellschaft –, muss sich der Wirkung der eigenen Worte und der Unterschiede zwischen Begriffen bewusst sein. Während Medienschaffende qua Beruf an einer möglichst unparteiischen Sprache interessiert sein sollten, verfolgen Politiker_innen das Ziel, mit sprachlichen Mitteln ihre politische Agenda zu befördern. Zwei Techniken der politischen Kommunikation sind dafür von besonderer Bedeutung: Framing und Narrativkonstruktionen. In diesem Beitrag werden diese beiden Techniken erläutert und ihre Anwendung im Kontext der Migrations- und Asylpolitik diskutiert.
Um die Bedeutung und Wirkung von Sprache in der Politik zu ergründen, hilft der interdisziplinäre Ansatz vom Framing. Das ist ein Konzept, das vor allem in der Kognitions-, Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie Psychologie erforscht, entwickelt und angewendet wird. Ein »Frame« ist ein Deutungsrahmen, »Framing« der kommunikative Prozess, bei dem ein Sachverhalt in einen bestimmten Deutungsrahmen gesetzt wird. Schon durch einen einzigen Begriff kann ein Frame aktiviert werden. Frames führen gewissermaßen ein Doppelleben. Sie treten sowohl bei den Sender_innen als auch den Empfänger_innen von Botschaften auf. Menschen »framen«, um Informationen zu verarbeiten. Bei Leser_innen oder Zuhörer_innen funktioniert Framing wie eine Heuristik: Mit begrenztem Wissen und begrenzter Zeit versucht das Gehirn, Informationen zu verarbeiten und daraus Sinn zu stiften. Ein Deutungsrahmen aktiviert Werte, Erfahrungen, Gefühle und Wissen bei den Rezipient_innen. Oftmals assoziieren Menschen das Neue mit dem Altbekannten. Kurz: Wir framen, um zu verstehen. Und ist ein bestimmter Frame erst einmal aktiviert, werden alle weiteren eingehenden Information in diesem Deutungsrahmen interpretiert. Daher werden Frames oft auch als »Denkschablonen« bezeichnet.
Ziel von politischer Kommunikation sollte es sein, den Frame mitzuliefern, durch den das Publikum die politische Botschaft interpretiert. Ein Frame ist nicht nur ein einzelner Begriff, sondern ein Interpretationsschema, das idealtypisch aus vier Elementen besteht: Erstens definiert ein Frame das Problem des betreffenden Themas. Zweitens enthält ein Frame die hinter dem Problem liegende Kausalität, also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Drittens beinhaltet ein Frame eine moralische Bewertung und viertens liefert er den Ansatz zur Lösung des Problems. Ein Beispiel: Wenn viele Menschen aus ihrer Heimat flüchten, etwa aufgrund eines Bürgerkriegs, ist häufig von einer »Flüchtlingswelle« die Rede. Dieser Begriff definiert das Problem aus der Perspektive der Aufnahmeländer stellt die Assoziation einer Naturgewalt her (einer Welle). Bei derartigen Naturereignissen gebietet es die Moral – so impliziert dieser Frame –, jene Menschen zu schützen, die von der Naturgewalt erfasst werden, also die Einwohner_innen der Aufnahmeländer. Naheliegende Maßnahmen zur Lösung des Problems wären somit »Eindämmung«, »Abschottung« oder das Errichten von »Schutzzäunen«. Die Flucht von Menschen wird in diesem Framing einseitig zugunsten des vermeintlich notwendigen »Schutzes« der Aufnahmegesellschaft interpretiert. Dagegen wird das Schutzbedürfnis der Geflüchteten weitgehend ignoriert. Begriffe wie »Pull-Faktoren« oder »Asyltourismus« verstärken die Ausblendung des Leids der Menschen und somit die zentralen Fluchtursachen. Begriffe wie »Kriegsflucht« oder »Fluchtbewegungen« wären dagegen Framings, die den Fokus stärker auf die Schutzsuchenden richten würden. Zwar mag es nicht immer die perfekten Begriffe geben, aber wichtig ist es, nicht die Frames zu benutzen, die ein verzerrtes Bild der Realität zeichnen. Selbst bei der Negierung eines Frames.
Der Vermittlung der eigenen Vorschläge mittels eines Narrativs ist die zweite wichtige kommunikative Methode, um Menschen zu überzeugen. Denn Menschen denken nicht nur in Bildern, sie denken auch in Geschichten. Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die Legitimität für politische Vorschläge produzieren soll. Es ist einerseits ein ideeller und identifikationsstiftender Überbau für Politik, andererseits ein kognitiver Vermittlungshelfer für konkrete Vorschläge. Ein Narrativ besteht mindestens aus der erzählerischen Grundstruktur, die über drei Elemente verfügt: Ausgangszustand, Ereignis/Aktion, Endzustand. Ein Narrativ beschreibt mit erzählerischen Mitteln die Veränderung, die Politik bewirken möchte.
Die bundesrepublikanische Debatte über die Migrations- und Asylpolitik wurde in den Jahren seit 2015 vor allem von rechtspopulistischen Frames und Narrativen dominiert. Der eskalierende Bürgerkrieg in Syrien hatte seit 2011 zu großen Fluchtbewegungen geführt, auch nach Europa, die im Spätsommer 2015 einen Höhepunkt erreichten. Neben den bereits genannten Frames, die die Geflüchteten abwerteten, hat auch ein zunächst harmlos erscheinender Begriff eine Erzählung mit einer ganz bestimmten Interpretation der Ereignisse des sogenannten »Flüchtlingssommers« etabliert. Das ist der Begriff »Grenzöffnung«. Faktisch waren damals, als Zehntausende Geflüchtete über Ungarn nach Deutschland kamen, die Grenzen offen, da sowohl Ungarn als auch Deutschland und das dazwischenliegende Österreich zum offenen Schengen-Raum gehören. Angela Merkels Entscheidung, die Grenzen offen zu lassen und die Schutzsuchenden aufzunehmen, war also vielmehr eine Nicht-Grenzschließung. Der Begriff von der »Grenzöffnung« evoziert hingegen ein wirkungsvolles Zerrbild, in dem Merkel die Schlagbäume quasi eigenhändig hochkurbelt. Und es suggeriert einen Rechtsbruch, da geschlossene Grenzen eben nicht ohne Weiteres geöffnet werden können. Dieser Frame bezieht sich jedoch wiederum auch auf die Geflüchteten. Innerhalb dieses Deutungsrahmens war die Aufnahme der Menschen rechtswidrig, womit ihnen das Etikett »illegal« anhaftet. Das Stigma der Illegalität ist in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam, weil beispielsweise die AfD auf dieser Grundlage jede Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Schutzsuchenden, etwa im asylpolitischen Sinne, dementiert. Der Europäische Gerichtshof hat indes längst geklärt, dass das Handeln der Bundesregierung im Sommer 2015 rechtskonform war.
Solche und andere Frames zeigen, dass der Diskurs über Flucht und Migration in dieser Zeit in erster Linie ein Anti-Migrationsdiskurs war. Geflüchtete und Migrant_innen wurden zuvorderst als eine Bedrohung dargestellt. Eine Bedrohung für die Sicherheit im Land, für die kulturelle Identität der Gesellschaft oder die Finanzen des Staates. Gleichzeitig wurden Begriffe erfunden, mit denen die Abschiebung von Menschen positiv konnotiert werden sollte. Ein Beispiel sind die Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückführungszentren, sogenannte »AnkER-Zentren«, die 2018 zuerst in Bayern und dann in anderen Bundesländern eingerichtet wurden. Vermutlich soll der Begriff »Anker« der deutschen Bevölkerung signalisieren, dass die vermeintlichen Gefahren, die von Migration ausgehen, an einem grenznahen Ort fixiert, also ferngehalten werden. Ein weiteres Beispiel ist das Unwort des Jahres 2020: »Rückführungspatenschaft«. »Der ursprünglich christlich geprägte, positive Begriff der Patenschaft steht für Verantwortungsübernahme und Unterstützung im Interesse von Hilfsbedürftigen. In der Zusammensetzung mit dem – ebenfalls beschönigend für »Abschiebung« gebrauchten – Wort »Rückführung« wird suggeriert, »dass Abschieben eine gute menschliche Tat« sei, schreibt die Jury in ihrer Begründung.
Das Thema Migration und Flucht hat mittlerweile in der öffentlichen Debatte an Prominenz verloren, weil deutlich weniger Menschen nach Deutschland kommen. Dennoch ist schon heute klar: Krieg, Verfolgung, Not und Perspektivlosigkeit werden auch in Zukunft zu Fluchtbewegungen führen – auch nach Europa. Die Klimakrise wird sich verstärkend auf diese Fluchtursachen auswirken. Zu erwarten ist deshalb auch, dass bei der nächsten »Flüchtlingsdebatte« oder »Migrationsdebatte« die alten, bereits gelernten Frames wieder aktiviert werden. Wie eingangs erläutert, tendieren Menschen aus Effizienzgründen dazu, neue Ereignisse mit zurückliegenden Erfahrungen und altem Wissen zu interpretieren. Solange keine alternativen Deutungsrahmen gelernt werden, werden die bereits etablierten Denkschablonen dafür herangezogen. Das Ziel einer progressiven Asyl- und Migrationspolitik sollte es daher sein, nicht nur alternative politische Vorschläge zu machen, sondern auch eine neue Deutung und Erzählung zu diesem Thema anzubieten. Mit anderen Worten: Ein Reframing der Asyl- und Migrationsthematik.
1. Die richtigen Werte ansprechen
Wer ein effektives Framing entwickeln und etablieren möchte, sollte ein paar grundlegende Regeln beachten: Erstens sind Frames dann besonders wirksam, wenn sie die moralische Überzeugungen, also Werte ansprechen. Das gilt für politische Kommunikation sogar ganz grundsätzlich: Menschen formen ihre Einstellungen zu politischen Themen häufig auf Grundlage ihrer Werte. Niemand durchdringt in allen Politikfeldern alle fachlichen Details, um sich allein auf dieser faktischen Basis eine Meinung bilden zu können. Um trotzdem in der Lage zu sein, eine Einstellung auszubilden, überprüfen Menschen, ob ein Politikvorschlag ihren Werten entspricht oder nicht. Fürsorge, Gerechtigkeit, Solidarität, Fairness und Freiheit sind beispielsweise zentrale Werte für progressive Menschen, die es in im Sinne progressiver Politik zu aktivieren gilt. Übertragen auf die Asyl- und Migrationspolitik: Aus progressiver Sicht ist es sinnvoller, von »Schutzsuchenden« als von »Flüchtlingen« oder »Asylbewerber_innen« zu sprechen. Der Begriff »Schutz« aktiviert die Werte von Solidarität und Fürsorge. Ein zweites Beispiel: Eine oft diskutierte Regelung in der Asylpolitik ist die Möglichkeit, dass die Familie eines anerkannten Flüchtlings ebenfalls in Deutschland Schutz erhält. Diese Regelung wird mit dem Begriff »Familiennachzug« bezeichnet. Das ist eine technokratische, eher kühl juristische Sprache. Ein Begriff, der die normative Dimension hinter dieser Regelung besser zur Geltung bringen würde, wäre »Familienzusammenführung«. Ein solcher Begriff würde den Wert der Familie als Einheit und Gemeinschaft betonen und somit das Ziel hinter der politischen Maßnahme als unterstützungswürdiger erscheinen lassen. Eine zentrale Leistung von politischer Kommunikation ist die Übersetzung von (juristischen) Fachbegriffen in eine allgemein verständliche Sprache, die die Werte hinter dem Recht zum Ausdruck bringt. Denn Werte sind Teil des emotionalen Denkens von Menschen. Politische Kommunikation kann nie allein durch die Vermittlung von Fakten gelingen. Werte sind das ideale Werkzeug, um das rationale und emotionale Denken gleichzeitig anzusprechen.
2. Deutungsrahmen wählen
Zweitens beruht erfolgreiches Framing auf Schlüsselbegriffen, die den gewünschten Deutungsrahmen aktivieren. Die Aktivierung von Interpretationsschemata erfolgt in der Regel durch einzelne Begriffe, wie etwa »Welle« oder »Flut« beim Framing von Migration als Naturgewalt. Metaphern eignen sich als Bestandteil von Schlüsselbegriffen besonders gut. Das hängt damit zusammen, dass das Gehirn Botschaften ohnehin in Bilder übersetzt. Ein wirksames Framing liefert die richtigen Bilder also direkt mit. Auch Werte können geeignete Schlüsselbegriffe sein.
3. Wiederholen, wiederholen, wiederholen
Drittens ist für die Etablierung von Frames im öffentlichen Diskurs deren Wiederholung von essenzieller Bedeutung. Zunächst sollten die eigenen Frames in der eigenen Partei, dem eigenen Verband oder der eigenen Organisation fest im Sprachgebrauch verankert werden. Manche Organisationen – etwa Bundestagsfraktionen, die ARD-Rundfunkanstalten oder Unternehmen – haben zu diesem Zweck Framing-Leitfäden entwickelt. Solche Dokumente können etwa bei der Anfertigung von Texten oder Reden als Gedankenstützen herangezogen werden. Wichtig ist nun die Wiederholung der Frames in der öffentlichen Debatte – so oft wie möglich und von so vielen Mitsteiter_innen wie möglich.
Neben diesen handwerklichen Grundsätzen sind für das Reframing einer Debatte auch die inhaltlichen Aspekte eines Themas entscheidend. In diesem Sinne beinhaltet ein Frame ganz bestimmte Aspekte, die für ein Thema als relevant angesehen (und andere Aspekte werden bewusst ignoriert). Mit Blick auf die Migrationsdebatte könnte das beispielsweise bedeuten, dass es einerseits um die Steuerung, Ordnung und Gestaltung von Migration, stärker aber noch um das Gelingen von Integration gehen sollte. Gescheiterte Integration ist eine wichtige Ursache für soziale Probleme und letztlich auch ein großer Kostenfaktor. Gleichzeitig liegen die Maßnahmen für gelingende Integration viel näher an der Kernkompetenz progressiver Kräfte als etwa die kulturell-identitätspolitisch geprägten Debatten über Herkunft und Äußerlichkeiten, die von Rechtspopulist_innen geschürt werden. Das richtige Framing muss die progressiven Assoziationen nur wecken.
Die Frames sollten in ein übergeordnetes Narrativ eingebettet werden. Dieses Narrativ sollte nicht nur eine dramaturgische Grundstruktur aufweisen (siehe oben), sondern auch solche Elemente, die Menschen aus Erzählungen kennen, beispielsweise Hauptfiguren bzw. handelnden Akteure, Konflikte oder ein gutes Ende. An einem solchen Ende sollte die Verwirklichung der eigenen Vision stehen, beispielsweise die Definition eines neuen »Wir« der Gesellschaft, das Zusammenhalt sichert und Chancen für alle Menschen bietet.
Frames und Narrative sind kommunikative Instrumente, die dabei helfen, eine politische Agenda verständlich zu vermitteln und öffentliche Unterstützung zu generieren. Man sollte sie jedoch nicht mit Zauberstäben verwechseln. Zur Wirkung von Framing liegen in der Wissenschaft sehr unterschiedliche Erkenntnisse vor. Wenig umstritten ist, dass Frames einen Effekt auf das Denken und die Wahrnehmung der Realität haben.[1] Sie können zu Einstellungsänderungen bei Menschen führen, müssen es aber nicht. Ganz sicher funktionieren Frames und andere Kommunikationstechniken nicht wie ein Knopf, den man beim Publikum nur drücken muss, um deren Meinungen zu verändern. So einfach ist es nicht.
Dass Narrative und Frames den Diskurs beeinflussen, ist aber durchaus nachweisbar – nämlich wie der Diskurs geführt wird, wie also öffentlich über ein Thema nachgedacht und diskutiert wird. Das heißt, wie die Gesellschaft über ein Thema öffentlich nachdenkt und diskutiert. Framing greift also indirekt in den Diskurs ein – es geht weniger darum über welche Themen diskutiert wird, sondern wie darüber gesprochen wird. Aber genau dieses Wie entscheidet häufig darüber, welche Problemdefinitionen die Öffentlichkeit bei einer Debatte zugrunde legt und welche Lösungen dementsprechend als denkbar und wünschenswert erscheinen. Es gilt deshalb, der eigenen Politik eine eigene und wirkungsvolle Sprache zu geben.
[1] Oswald, Michael (2019): Strategisches Framing, Wiesbaden: Springer VS.
Johannes Hillje
ist selbstständiger Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. Er berät Ministerien, Parteien, Politiker_innen, Unternehmen, Verbände und Nichtregierungsorganisationen. Hillje ist Policy Fellow bei der Denkfabrik Das Progressive Zentrum in Berlin. Er hat an der London School of Economics einen Masterabschluss in Politics and Communication abgelegt. Im Dietz-Verlag erschienen seinen BücherPropaganda 4.0. Wie rechte Populisten Politik machen (2017) und Plattform Europa (2019).
Wer in der politischen Öffentlichkeit mit Sprache interveniert – also Akteur_innen aus Politik, Medien, Gesellschaft –, muss sich der Wirkung der eigenen Worte und der Unterschiede zwischen Begriffen bewusst sein.
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