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#Angekommen | 6. und 7. März 2017 in der FES Berlin

Die Zukunft der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Europa

Zieht es die ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Länder mit hoher Sozialhilfe? Oder dahin, wo sie schnell Arbeit finden? Europäische Fakten.


Ende Oktober 2023 beherbergte die EU 4,15 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die Hilfsbereitschaft hält an und die EU-Kommission schlägt die Verlängerung der „Vorläufigen Aufnahme“ bis März 2025 vor. Trotz dieser gemeinsamen Rahmenregelung haben sich die Verhältnisse in den europäischen Ländern unterschiedlich entwickelt. In Tschechien ist jeder dreißigste Einwohner ein Flüchtling aus der Ukraine, in Frankreich dagegen nur jeder Tausendste. In Dänemark arbeiten 78 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge, in Belgien nur 17 Prozent. In Deutschland gibt es permanente Unterstützungszahlungen, in Polen nur für 120 Tage und für Arbeitsunfähige. Gleichwohl sind keine Konflikte zwischen den Aufnahmestaaten entstanden, im Unterschied zur Asylaufnahme. Überall aber werden auch nach eineinhalb Jahren die hohen Berufsqualifikation der Flüchtlinge wenig ausgeschöpft. Wir vergleichen die unterschiedlichen Aufnahmeerfahrungen und klären die Frage, ob die Höhe der Sozialleistungen entscheidend für die Wahl des Ziellandes ist.


Wohin sind die Ukrainerinnen und Ukrainer im offenen Europa gegangen?

Nach den Regeln der „Vorläufigen Aufnahme“ können die ukrainischen Kriegsflüchtlinge ihr Aufnahmeland frei wählen, die europäischen Bahnen haben das mit ihren Freifahrten 2022 auch faktisch ermöglicht. Eurostat berechnet jeden Monat, wie viele ukrainische Flüchtlinge die einzelnen Länder pro Kopf der einheimischen Bevölkerung aufgenommen haben und stellt das in einer Europakarte dar. Mit Abstand führt die Tschechische Republik mit 3,3 Prozent der Bevölkerung.  In Polen, Estland, Lettland, Litauen und Bulgarien machen ukrainische Flüchtlinge mehr als zwei Prozent der Bevölkerung aus, in der Slowakei 1,9, in Irland 1,7 und in Deutschland 1,3 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 0,9 Prozent, Frankreich bildet mit 0,1 Prozent das Schlusslicht.

 

 

Konzentration in Ländern mit geringen Sozialleistungen und hoher Arbeitsbeteiligung

Wodurch zeichnen sich die Länder mit hoher Aufnahme aus? Sie haben alle ein effektives Zugangsmanagement, einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt und hohe Arbeitsbeteiligungsraten. Insbesondere gilt das für Tschechien. Außer Polen hat keines dieser Länder eine direkte Grenze mit der Ukraine. Die Flüchtlinge haben sich also bewusst für diese Länder entschieden, informiert durch einen ständigen intensiven Informationsaustausch über soziale Medien.  Im Vergleich zu Deutschland bieten die sechs Magnetländer wesentlich weniger Sozialleistungen und niedrigere Löhne. Das spricht gegen die These von den Sozialleistungen als Hauptanziehungsmoment und für den Arbeitswillen der Flüchtlinge.

Im Zeitverlauf ist die Verteilung der ukrainischen Flüchtlinge weitgehend stabil, zwischen Juli und August 2023 haben sich die Zahlen nur geringfügig geändert. In Tschechien gab es einen Zuwachs von 2,1 Prozent, in den Niederlanden von 2,0, in Deutschland von 1,8 Prozent. In Polen gab es eine Verringerung von 1,1 Prozent, in Frankreich von 0,6 und in Italien von 0,3 Prozent. In den anderen Ländern waren die Veränderungen marginal, mit einer leichten generellen Aufwärtstendenz. Flucht und Rückkehr sind vom Kriegsverlauf abhängig und variieren auch jahreszeitlich. Im Winter sind die Lebensbedingungen besonders schwierig und das führt zu mehr Ausreisen. Im Frühjahr 2022 und 2023 gab es dagegen positive Rückkehrbilanzen. Insgesamt haben aber auch nach der ersten großen Fluchtbewegung die Ausreisen überwogen. Die Zahlen beruhen auf Regierungsangaben aus Polen, der Slowakei, Moldau und Rumänien. Sie sind unvollständig, weil Angaben aus Ungarn fehlen.  

 

 

Die Option Kanada und der Übergang zu permanenter Aufnahme

Gleichzeitig reisen Schutzsuchende in Länder aus, für die sie Visa benötigen, vor allem nach Großbritannien, Kanada und in die USA. Das offenste außereuropäische Aufnahmeland ist Kanada. Es hat sich 2022 dem europäischen Modell einer zeitweiligen Aufnahme angeschlossen und hilft den Flüchtlingen auch mit Unterstützungszahlungen. Kanada hat in eineinhalb Jahren 1.189.372 Visa-Anträge aus der Ukraine entgegengenommen und 909.464 Visa erteilt. Eingereist waren bis Ende September 2023 185.753 Schutzsuchende, davon 14.230 in den zwei Monaten seit dem 22. Juli 2023. Die USA haben bis Ende September 2023 insgesamt 271.000 Schutzsuchende aus der Ukraine aufgenommen, weit über die zunächst von Präsident Biden genannte Zahl von 100.000 Flüchtlingen. In den USA beruht die Aufnahme ganz auf privater sponsorship und geschieht „on parole“ auf zwei Jahre, rechtlich also auf Grund einer Art Duldung.  

 


Die Diskrepanz zwischen erteilten kanadischen Visa und deren Inanspruchnahme gibt einen Hinweis darauf, wie wichtig die Nähe zur Ukraine und die Rückkehroption bei den Migrationsentscheidungen sind. Offensichtlich hat die Flucht nach Übersee einen endgültigeren Charakter als der Weg nach Polen oder Deutschland. Zudem hat Kanada nach eineinhalb Jahren am 23. Oktober 2023 den Weg zur „permanent residence“ geöffnet. Ukrainische Flüchtlinge, die sich in Kanada befinden, können diese beantragen, zugleich auch für weitere Familienmitglieder, die sich noch nicht in Kanada befinden. Damit steht die Option Kanada weiteren Ukrainer_innen offen – potenziell eine große Entlastung für Europa, aber möglicherweise auch ein endgültiger Verlust von Hunderttausenden oder sogar Millionen Menschen für die Ukraine, einem Land, das ohnehin durch Geburtenrückgang, Krieg und Abwanderung in seiner Bevölkerungsbasis geschwächt wird.


Die Diskrepanzen bei der Arbeitsbeteiligung

Im September 2023 hatten in Dänemark 77 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge eine bezahlte Beschäftigung gefunden, in Polen und Tschechien etwa zwei Drittel, in den Niederlanden, Großbritannien und Irland über die Hälfte der Ukrainer_innen. In Deutschland sind es dagegen nur 19 Prozent, in der Schweiz 20 Prozent, in Österreich 27 Prozent. Der Blick auf andere Länder ist gerade für Deutschland interessant, denn in der aktuellen deutschen Debatte entsteht der Eindruck, Flüchtlinge und auch die gut ausgebildeten Ukrainer_innen müssten immer eine Belastung sein. Oder neuerdings, man müsse sie zur Arbeit drängen.

 


Die Expert_innen von BAMF, IAB, SOEP und BIB haben in ihrer gemeinsamen Studie eine Beschäftigungsquote von 17 Prozent in Deutschland im Herbst 2022 als Erfolg interpretiert, mit dem zutreffenden Argument, die Ukrainer_innen fänden schneller Arbeit als die Flüchtlinge von 2015. Dabei war die Arbeitsbeteiligung in den ersten Monaten bei den Frauen sogar zurückgegangen. Die Selbstzufriedenheit in den Integrationsinstitutionen kontrastiert mit einer aufgeregten Debatte in der Politik, in der auch Ukrainer_innen inzwischen thematisiert werden. Im Oktober 2023 rechnete Finanzminister Lindner vor, Ukrainer_innen erhielten 5,5 bis 6 Milliarden Bürgergeld. Der Landkreistag forderte für Neuankömmlinge eine Rückstufung in das Asylbewerberleistungsgesetz, der Arbeitsminister einen „Job-Turbo“ und es wurde ein Sonderbeauftragter für die Arbeitsvermittlung eingesetzt.

In einigen Nachbarländern steht die Arbeitsintegration schon länger im Vordergrund. In den Niederlanden sind die Zeitarbeitsfirmen sehr aktiv bei der Rekrutierung. Das staatliche polnische Wirtschaftsinstitut erwartet für das Jahr 2023 flüchtlingsbezogen mehr Steuereinnahmen als Staatsausgaben. Der tschechische Finanzminister Stanjura konstatierte im Oktober 2022, „die Kosten für die ukrainischen Flüchtlinge würden geringer sein als ursprünglich erwartet", denn die Bevölkerung habe geholfen und die Flüchtlinge hätten schnell Arbeit gefunden. Beklagt werden allerdings auch Schattenseiten. Der niederländische Menschenhandels-Beauftragte dokumentiert Fälle von sexueller und krimineller Ausbeutung und von Übervorteilung und Unterbezahlung und kritisiert, dass es zu wenig Transparenz gebe. In Polen gibt es viele Berichte über Ausbeutung und Unterbezahlung.
 

Langsame Abläufe oder digitale One-Stop-Verfahren

Warum sind die Abläufe so unterschiedlich? Die deutschsprachigen Länder haben sich bei der Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge am Asylsystem orientiert und dabei viele Beschränkungen und Verfahren übernommen, mit denen dieses System aufnimmt und zugleich abschreckt und kontrolliert. Auch für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge wurden komplizierte Kontrollverfahren eingerichtet, die lange Zeit in Anspruch nehmen. Polen und die Tschechischen Republik, aber auch Dänemark, die Niederlande und Irland führten dagegen einfache digitale One-Stop-Verfahren ein, bei denen der gesamte Rechts- und Sozialstatus mit einer Anmeldung abgedeckt wird. In den Niederlanden genügte zunächst die Anmeldung in der zuständigen Gemeinde, Polen schuf eine spezielle Meldekategorie für ukrainische Flüchtlinge. En-Bloc-Zahlungen erleichterten in den ersten Monaten das Ankommen und ersparten lange Wartezeiten. Mit Hilfe der Digitalisierung haben Behörden und Öffentlichkeit ständig einen Überblick über Zahl und Situation der Kriegsflüchtlinge. Im digitalen Musterstaat Dänemark gibt es beispielsweise wöchentliche Berichte mit den relevanten Informationen. Das erleichtert einen rationalen Diskurs.
 

Genehmigungspflichten

In Österreich und der Schweiz ist die Arbeitsaufnahme dagegen immer noch genehmigungspflichtig. In Österreich verlieren Flüchtlinge die Krankenversicherung, wenn sie mehr als 110 Euro verdienen. Sie geraten in die „Inaktivitätsfalle“. In Deutschland ist die Genehmigungspflicht am 1. Juni 2022 abgeschafft worden, drei Monate nach Fluchtbeginn, aber die Verfahren dauern gleichwohl lange. Die Ausländerämter sind überlastet. Auch Ukrainer_innen, die sich als Selbständige niederlassen wollen, klagen über lange und komplexe Verfahren mit vielen beteiligten Institutionen. In Polen gibt es dagegen eine große Zahl an Unternehmensgründungen. Ukrainische Frauen gründen hauptsächlich in den Bereichen Friseurin und Handel, Männer bei Bau und Lagerverwaltung, beide im IT-Bereich.
 

Hoffnung auf den Erfolg der Sprachkurse in Deutschland

Deutschland hat seine Integrationskurse für Ukrainer_innen geöffnet und quantitativ wesentlich ausgebaut. Im Jahr 2022 nahmen 201.272 Ukrainer_innen teil – eine sehr hohe Zahl im Vergleich zu 25.807 Teilnehmenden in allen anderen EU-Ländern oder 10.000 Teilnehmenden in Großbritannien. Für 2023 sind 1,1 Milliarden Euro vorgesehen, etwa die Hälfte dürfte auf Ukrainer_innen entfallen. Ausländerämter bzw. Jobcenter können auch zur Teilnahme verpflichten. Diese hohen Ausgaben sind von der Hoffnung getragen, die Absolventen würden anschließend nicht mehr nur in gering bezahlten Berufen arbeiten, sondern ihre hohen Qualifikationen zur Geltung bringen können. Von niederländischen Experten wird dieses umfangreiche Sprachprogramm gelobt, da der Staat dort nicht entsprechend investiert. Auch der OECD-Experte Thomas Liebig gab bei der Präsentation des „Internationalen Migrationsausblicks 2023“ am 24. Oktober 2023 der Hoffnung Ausdruck, die Beschäftigungslage in Deutschland werde sich auf Grund der Sprachkurse in einigen Monaten verbessern. Die OECD verzichtet bisher auf die Präsentation von Vergleichszahlen zur Arbeitsbeteiligung, weil die Datengrundlagen in vielen Ländern schwierig sind.

Enttäuschenderweise zeigen die Daten bisher keine Anzeichen für eine Verbesserung der Arbeitsbeteiligung in den deutschsprachigen Ländern. Vielmehr sind die Diskrepanzen etwa zu Dänemark größer geworden, wo Woche für Woche exakte Zahlen zur Verfügung stehen. Es gibt dafür drei Erklärungen: erstens die Bedeutung informellen Lernens in kommunikativen Arbeitsprozessen, zweitens das nicht ausreichende Niveau der formell erreichten Sprachkenntnisse und drittens die schwierigen formalisierten Verfahren und Entscheidungsprozesse bei Arbeitsaufnahme. Informelles Lernen am Arbeitsplatz hat anscheinend in anderen Ländern ausgereicht, um die Arbeitsaufnahme zu ermöglichen. Daneben halfen Englisch- oder Russischkenntnisse oder Übersetzungsprogramme, vor allem am Anfang. Die Arbeitsaufnahme fördert informelles Lernen und steht in engem Bezug zum beruflichen Fortkommen. Dagegen bleiben die Teilnehmer bei Sprachkursen vielfach in ihrer eigenen Sprachgruppe.

Die offiziellen Berichte über die Integrationskurse legen eine hohe Zahl von Kursabbrüchen offen, die Teilnahmezahlen kontrastieren mit den Zahlen über die abgelegten Prüfungen. 2022 gab es 340.438 Teilnehmende, 129.360 Prüfungsteilnehmende und 171.627 „Kursaustritte“. 61,9 Prozent der Abschlussprüfungen führten zum Niveau B1, 27,5 Prozent zum Niveau A2 und 10,7 Prozent blieben unterhalb des Niveaus A2. Das Niveau C kommt in der Statistik überhaupt nicht vor. Für anspruchsvolle Tätigkeiten wird aber überall das Niveau C1 verlangt. Das gilt nicht nur für Ärztinnen oder Lehrerinnen, sondern beispielsweise auch für Fahrlehrer_innen, auch wenn diese später auf Russisch oder Englisch unterrichten sollen.

Es besteht also eine Systemlücke, die dazu führt, dass die großen Investitionen in den Ausbau der Integrationskurse nicht die erhofften breiten Erfolge auf dem Arbeitsmarkt erbringen. Die Kurse führen nicht zu dem Niveau, das gefordert wird. Es ist bezeichnend für die Situation, dass das Problem meines Wissens öffentlich zum ersten Mal vom ukrainischen Botschafter in einem Interview angesprochen wurde. Er fragte, ob für einen „ausgebildeten Lehrer aus der Ukraine Deutschkenntnisse auf dem Level C1“ notwendig seien, um in „Integrationsklassen als Zweitlehrer zu arbeiten? Oder dürfte es B2 oder B1 sein? Es ist typisch deutsch, solchen Regeln stur zu folgen.“ Der Botschafter hat dazu mit den Landesregierungen verhandelt und sieht inzwischen eine gewisse Flexibilität. Besonders enttäuschend ist die Lage in Fällen, wo sich Arbeitgeber und Flüchtlinge gefunden hatten, aber die Flüchtlinge zum Integrationskurs verpflichtet wurden.

Auch wenn die Sprachkenntnisse ausreichend sind, geraten die Ukrainer_innen in geschützten Berufen (Apotheker, Ärztinnen, Tierärzte, Zahnärztinnen, Psychotherapeuten, Anwälte, Sachverständiger, Wirtschaftsprüferinnen, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte) in langwierige und teure Anerkennungsprozesse. Hier könnte eine gesetzliche Gleichstellung ukrainischer Flüchtlinge mit EU-Bürgern helfen. Oder es könnte gesetzlich geregelt werden, dass sie prinzipiell im Gesundheitssystem beschäftigt werden könnten, wie das in Italien und der Slowakei schon im März 2022 geregelt worden ist.[1] Die realen Arbeitsmöglichkeiten könnten dann vor Ort geklärt werden, etwa wenn viele Ukrainer zu betreuen sind. Im Fall der Fahrlehrer gibt es keine rechtliche Festlegung der Sprachanforderungen, aber eine entsprechend restriktive Praxis.

Hoffnung machen Initiativen wie die der Sparkasse Hochschwarzwald, die zehn Ukrainer_innen mit entsprechender Berufserfahrung einen Spezialkurs im Bankwesen angeboten hat – im eigenen Interesse und zum Einstieg in den Beruf.[2]

Ukrainische Lehrkräfte in den Bundesländern

Alle Bundesländer leiden unter Lehrermangel und hatten mit der plötzlichen Ankunft von etwa 200.000 ukrainischen Schüler_innen eine große Aufgabe zu bewältigen. Die Bereitschaft, mit ukrainischen Lehrer_innen zu arbeiten, war von Anfang an sehr unterschiedlich.[3] Sachsen rekrutierte rasch ukrainische Lehrer_innen, zunächst ausschließlich für die Betreuung ukrainischer Kinder. In einem zweiten Schritt ist vorgesehen, deutschsprechende ukrainische Lehrer_innen für den allgemeinen Schuldienst einzustellen. Sachsen hat damit die Hälfte seines Fehlbedarfs abgedeckt. Musterbeispiel ist eine Lehrerin, die schon in der Ukraine Deutsch und Englisch unterrichtet hat.  Rechnerisch kommt in Sachsen eine ukrainische Lehrerin auf 17,1 ukrainische Schüler_innen, in Sachsen-Anhalt 20,3, in Nordrhein-Westfalen dagegen eine Lehrerin auf 198,0 Schüler_innen. Das macht klar, welche Chance genutzt und welche ausgelassen worden ist.

 

[1] Der Text des italienischen Dekrets in deutscher Übersetzung bei Thränhardt 2023, S. 29.

[2] Bankenwissen aus der Ukraine in die Region bringen, Badische Zeitung, 20.9.2023.

[3] Zahlen für November 2022 bei Thränhardt 2023, S. 30.


Arbeit als Angelpunkt für Integration und Zukunft

In den deutschsprachigen Ländern stagniert die Arbeitsbeteiligung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, während sie in anderen Ländern von Monat zu Monat zunimmt. Das ist besorgniserregend, nicht nur wegen der verschenkten Arbeitskraft, die in vielen Bereichen doch so dringend benötigt wird. Das ist bedenklich, weil Arbeit ein Schlüssel zu Integration ist. Wenn man arbeitet und eigenes Geld verdient, erwirbt man Selbstvertrauen und Respekt. Man hat Kontakte auf gleicher Ebene, statt hilfsbedürftig zu sein. Den Umfragedaten zufolge ist Arbeitsaufnahme auch mit besseren Sprachkenntnissen verknüpft.

Eine Verankerung in Wirtschaft und Gesellschaft wird auch wichtig sein, wenn die „Vorläufige Aufnahme“ im März 2025 endet. Hat man Arbeit gefunden, so wird der Übergang in ein anderes Rechtsverhältnis leichter möglich sein als ohne Arbeit, unabhängig von der rechtlichen Gestaltung europäischer Nachfolgeregelungen, etwa der Gleichstellung der Ukrainer_innen mit EU-Bürger_innen als vorgezogenem EU-Status. Bleiben die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland überwiegend ohne Arbeit, so könnte sich das als fatal erweisen, wenn der Status „Vorläufige Aufnahme“ endet. Mit einer Verankerung in der Arbeitswelt hätten sie Wahlchancen zwischen Bleiben und Rückkehr und könnten in einen anderen Rechtstatus wechseln. Ohne könnten sie in eine prekäre Situation geraten oder massenhaft Asyl beantragen.

Gut ausgebildete Ukrainerinnen und Ukrainer und die Zukunft

In keinem europäischen Land ist es bisher gelungen, die gute Ausbildung der Ukrainer_innen in größerem Maße fruchtbar zu machen. Sie arbeiten überwiegend in eher gering bezahlten Berufen, in Hotels und Gaststätten, bei einfachen Dienstleistungen, in der Landwirtschaft, bei Zeitarbeitsfirmen. Obwohl überall in Europa Ärzte und Krankenpfleger fehlen, bleiben diese Berufskompetenzen weitgehend ungenutzt. Dabei geht es immerhin um sieben Prozent der Flüchtlinge, europaweit also um etwa 50.000 ausgebildete Gesundheitsfachkräfte. Ähnlich ist es im Erziehungsbereich, aus dem 13 Prozent kommen.

In Deutschland haben die Kultusminister- und die Gesundheitsminister-Konferenz im März 2022 dazu Arbeitsgruppen gebildet, allerdings ohne erkennbare Ergebnisse. In Italien und der Slowakei ist der Gesundheitsbereich geöffnet worden, ukrainische Ärztinnen und Ärtze und Krankenpfleger_innen können ohne Weiteres eingestellt werden. Da ein Teil der „vorläufig Aufgenommenen“ bleiben wird, sind langfristige Lösungen notwendig. Sie würden allen Beteiligten helfen: den Flüchtlingen, dem Aufnahmeland und auch der Ukraine.

Am offensten ist der öffentliche Diskurs in Irland, dem geographisch unwahrscheinlichsten Aufnahmeland mit 1,8 Prozent ukrainischer Bevölkerung. Dort hat man im Dezember den Zuschuss für Gastgeber auf 800 Euro erhöht, man diskutiert über Einbürgerungsperspektiven und hat Broschüren in Ukrainisch für die Kommunalwahlen erstellt, in denen ukrainische Kriegsflüchtlinge mit Wohnsitz 2024 wahlberechtigt sein werden.

 


Über den Autor

Dietrich Thränhardt ist Professor emeritus an der Universität Münster und Herausgeber der „Studien zu Migration und Minderheiten“.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

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