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#Angekommen | 6. und 7. März 2017 in der FES Berlin

Eskalation vermeiden und gleichzeitig Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine gewährleisten

Oberst a.D. Wolfgang Richter beschreibt kenntnisreich die unterschiedlichen Phasen des russischen Angriffskrieges. Die vergangenen zwei Jahre inklusive der Kriegsvorbereitung, des wechselhaften Kriegsverlaufs und aktueller sicherheitspolitischer Dilemmata werden analytisch geschildert und machen diesen Aufsatz zum einem differenzierten Überblickswerk.

 

Seit Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine aus vier Richtungen überfallen hat, war die Chance auf eine Beendigung des Krieges nie wieder so groß wie bei den Verhandlungen zum Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022. Es eröffnete die Möglichkeit eines Kompromissfriedens und hätte Erfolg haben können, wenn es mit Nachdruck auch von denjenigen westlichen Verbündeten unterstützt worden wäre, die den Kompromiss mit Sicherheitsgarantien flankieren sollten. Allerdings wurden die Verhandlungen am 19. Mai 2022 nach dem Fall von Mariupol formell abgebrochen und mit den zivilen Opfern der Massaker in Irpin und Butscha Ende März öffentlich gerechtfertigt. Die Ablehnung dieses Kompromisses, betont Richter, ist jedoch nicht rein auf der militärischen Ebene zu suchen, sondern auf politische Entwicklungen zurückzuführen.

 

Auf der anderen Seite hat die russische Führung die Reaktion und damit einhergehend die Einheit und Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung auf den Angriff bekanntermaßen unterschätzt und die eigene Annahme, dass die Ukrainer_innen die Invasion passiv hinnehmen oder sogar begrüßen würden, auf den Erfahrungen von 2014 basiert. Der starke Widerstand, auf den die russischen Truppen in der Ostukraine und vor allem in Kiew stießen, führte zu einer Strategieänderung Russlands nach dem Rückzug aus der Region Kiew im März 2022. Die Verlagerung auf Luft- und Raketenkriegsführung sowie eine Teilmobilisierung von Reservisten zeigten nicht nur die Schwächen der Invasionstruppen, sondern auch eine Verschiebung in den militärischen Prioritäten. Diese Veränderungen fanden in der öffentlichen Wahrnehmung weniger Beachtung als sie verdienen.

 

Ein entscheidender Wendepunkt war der Überraschungsangriff der ukrainischen Verbände in Charkiw im September 2022. Dieser führte zu politischen und militärischen Reaktionen Russlands, darunter die Annexion von Gebieten und die Intensivierung des strategischen Luftkriegs. Die Teilmobilisierung von zusätzlichen Truppen zeigte jedoch nicht nur die Anfälligkeit der Invasionstruppen, sondern auch die Bemühungen Russlands, einen drohenden militärischen Misserfolg abzuwenden. Während dieser personellen Aufwuchsphase verstärkte Moskau den Fokus auf die strategische Luft- und Raketenkriegsführung, insbesondere gegen die ukrainische Energie- und Verkehrsinfrastruktur. Die Entscheidung, Truppen vom Westufer des Dnjepr und aus der Stadt Cherson zurückzuziehen, um die drohende Abriegelung zu verhindern, markierte einen weiteren strategischen Schachzug.

 

Die Gegenoffensive der Ukraine, die im Sommer 2023 begann, setzte auf den schrittweisen Einsatz von neun Kampfbrigaden, ausgerüstet mit westlichen schweren Waffen. Der operative Schwerpunkt zielte darauf ab, den russischen Landkorridor zur Krim zu durchtrennen und gleichzeitig die Versorgung zur und von der Krim zu blockieren. Trotz taktischer Erfolge in bestimmten Frontabschnitten führte die Gegenoffensive nicht zu einer grundlegenden Änderung der operativen Lage.

 

Die Analyse zeigt, dass der Krieg in der Ukraine in eine Sackgasse geraten ist, ohne dass eine strategische Kriegswende absehbar ist. Eine Verhandlungslösung, die durch das Istanbuler Kommuniqué noch im Bereich des Möglichen schien ist aktuell nicht in Sicht. Die Fortführung eines Abnutzungskriegs ohne realistische Aussicht auf einen umfassenden Sieg ist aber für beide Seiten problematisch und könnte zu weiteren Eskalationen führen.

 

Um diese Eskalation zu verhindern und eine realistische Friedenslösung zu fördern, ist eine strategische Neuausrichtung der Diplomatie erforderlich. Verhandlungen, die die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine wahren, könnten einen Weg aus der Krise weisen. Es gilt eine Politik zu verfolgen, die nicht auf unrealistischen und kurzfristigen Annahmen beruht, sondern ein glaubwürdiges Verhandlungsangebot formuliert und einen breiteren europäischen Sicherheitsansatz ins Auge fasst.

 

Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen sind die des Autors und geben nicht unbedingt die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.

 

 

Wolfgang Richter ist Oberst a. D., war Leitender Militärberater in den deutschen VN- und OSZE-Vertretungen und arbeitet jetzt als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Er beschäftigt sich u. a. mit der Europäischen Sicherheitsordnung und der stabilisierenden Rolle der Rüstungskontrolle.

Richter, Wolfgang

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine

Vorbereitung - Kriegsverlauf - Ressourcen - Risiken - Folgerungen
Wien, 2023

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