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#Angekommen | 6. und 7. März 2017 in der FES Berlin

Welche europäische Solidarität?

Pflegeketten und Ost-West-Ungleichheiten in der Coronakrise. Ein Beitrag von Eszter Kováts.

Bild: IMG_7669 von valentin.d / flickr lizenziert unter CC BY 2.0

*Der Beitrag ist auch auf Englisch verfügbar

„Zuverlässigkeit ist in der Corona-Krise als europäische Tugend verloren gegangen. (…) Das Virus gefährdet schon zu viele Menschen. Bitte nicht auch noch die europäische Solidarität.“ So kommentierte der Journalist Tim Herden die angeblich fehlende Solidarität der Polen, nachdem die Grenzen auch für Berufspendlerinnen und Berufspendler in Polen geschlossen wurden. Dieses Vorgehen zeige, so der Tenor des Kommentars in der Tagesschau, die Versorgung der Pflegebedürftigen in Deutschland sei Polen „offenbar egal“. Mit diesen Worten wird die Verantwortung für den Pflegenotstand Polen in die Schuhe geschoben, und zwar mit der herablassenden Bewertung: die Polen seien es, die die europäische Solidarität nicht respektieren.

Dabei sieht die Realität ganz anders aus: Circa 500.000 ostmitteleuropäische Frauen pflegen tagtäglich Kranke und Pflegebedürftige in Deutschland. Das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem ist auf sie angewiesen. Viele dieser Frauen sind nun aufgrund der Coronakrise in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Die Grenzschließungen führen dazu, dass sie vorerst nicht mehr nach Deutschland kommen können. Als Folge blieben bis Ostern circa 200-300.000 alte und pflegebedürftige Menschen in der Tat ohne Pflege in Deutschland.

Pflegenotstand seit Jahren bekannt

Dieser Pflegenotstand sagt aber weniger etwas über die Werte Polens oder der anderen ostmitteleuropäischen Länder, sondern belegt vielmehr die wackeligen und ungerechten Fundamente des deutschen (und österreichischen, britischen usw.) Care-Regimes. 

Expert_innen weisen seit Jahren auf den westeuropäischen Pflegenotstand hin. Im Zentrum steht die Notwendigkeit, nachhaltige und würdevolle Lösungen für Pflegende und Pflegebedürftige zu finden. Dazu gehören eine bessere Pflegeinfrastruktur, angemessene Entlohnung, geregelte Arbeitszeiten und vertraglicher Schutz. Das gilt sowohl für diejenigen, die in öffentlichen Pflegeeinrichtungen arbeiten, als auch für diejenigen, die als sogenannte Live-in Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten tätig sind. 

Seit Jahren wird das Thema der Pflege in zahlreichen europäischen Ländern von der Politik ins Private geschoben: Unter dem Vorwand der Freiheitsrechte – nach dem Motto: „Der Staat soll sich in private Angelegenheiten nicht einmischen!“ – wird der Staat seiner Verantwortung in den meisten Ländern in West und Ost nicht gerecht. Damit sind Familien mit ihrer jeweiligen Sorgearbeit allein gelassen. Wer es sich leisten kann, beschäftigt eine ostmitteleuropäische oder philippinische Pflegekraft – oftmals ohne Vertrag und mit ausbeuterischen Arbeitszeiten. Zuzana Uhde, tschechische Soziologin, nennt das „verzerrte Emanzipation“: Die Emanzipation der Frauen der sogenannten Zentrumsländer (also der reichen Länder innerhalb der EU) wird durch die migrantischen Pflegerinnen ermöglicht. Sprich: Die deutsche Frau kann ihrer Lohnarbeit nachkommen, da ihre polnische Angestellte – oft illegal – ihren pflegebedürftigen Vater versorgt. 

Push- und Pullfaktoren kommen zusammen

Sei es Saisonarbeit, wie etwa das jährliche Spargelstechen, oder die ganzjährige Pflege – Zentrumsländer wie Deutschland versuchen gezielt Arbeitskräfte aus ihren ostmitteleuropäischen Heimatländern nach Deutschland zu locken. „Beheben wir unseren Pflegenotstand also auf Kosten von anderen Ländern?“ fragt sich kritisch eine Reportage des Westdeutschen Rundfunks. Fest steht, Push- und Pullfaktoren kommen zusammen: Für viele osteuropäische Frauen bieten die Arbeitsverhältnisse und Gehälter im Westen immer noch eine besser Alternative. 

Und genau da müssen wir ansetzen, wenn wir den Wert der „europäischen Solidarität“ mit Sinn füllen wollen: Wir müssen die Klassenverhältnisse und die regionalen Ungleichheiten in Europa genauso wie die Verantwortung der Zentrumländer kritisch beleuchten. Wir müssen die Strukturen aufdecken, die dafür sorgen, dass es an den Peripherien der EU so miserable Verhältnisse im Gesundheitswesen und in der Altersvorsorge gibt. Dazu gehören auch manche in die Architektur der EU eingebaute Verzerrungen und Auflagen, die den reicheren Ländern zugutekommen. Denken wir beispielsweise an die Maastricht-Defizitkriterien oder an den politischen Einfluss von direkten Auslandsinvestitionen, auf welche die meisten ostmitteleuropäischen Länder angewiesen sind. Diese Instrumente beeinflussen direkt und indirekt, wie Länder ihre Fiskal-, darunter ihre Beschäftigungs- oder Gesundheitspolitik strukturieren. Natürlich dürfen dabei die Verantwortung und die oft klassenblinden Ideologien der einheimischen Regierungen nicht übersehen werden.

Endlich nachhaltige Pflegeregimes europaweit

Die Corona-Krise macht deutlich, was viele seit Jahren predigen: Die Pflege-Regimes in Westeuropa leiden unter großem Druck; sie sind nicht nachhaltig aufgebaut und basieren sowohl auf Geschlechterungleichheit als auch auf regional- und klassenbedingten Ungleichheiten. 

Wenn wir uns also die Frage der Solidarität innerhalb Europas stellen wollen, dann heißt es nicht, Lehren zu erteilen – so, wie es in der Tagesschau und in vielen anderen Medien passiert. Vielmehr müssen endlich grundlegende Fragen gestellt werden: und zwar zum Verhältnis von Werten und ökonomischen Interessen, zum Verhältnis von individuellen Entscheidungen der ostmitteleuropäischen Pflegenden und den Zwängen und Kompromissen, unter welchen diese Entscheidungen getroffen werden. 

Ohne eine Aufwertung der Care-Berufe, ohne einen neuen gesellschaftlichen Vertrag darüber, was Staat, Markt und Familien zu leisten haben, ohne die transnationalen Machtverhältnisse und Dependenzen zu berücksichtigen, wird es kein nachhaltiges Pflege-Regime in Europa geben. Und auch keine europäische Solidarität – die, wie die Coronakrise zeigt, dringender ist denn je.

 

Autorin:

Eszter Kováts promoviert in Politikwissenschaft an der Universität ELTE, Budapest. Zur Zeit ist sie Gastwissenschaftlerin an der Humboldt Universität zu Berlin. Von 2012 bis Ende 2019 war sie für das Genderprogramm der FES für Ostmitteleuropa zuständig.

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