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Es sind gerade die biographischen Annäherungen, die einen spannenden Zugang zur Arbeiter_innenbewegung, ihren zugehörigen Jugendbewegungen und den Verflechtungen zum jüdischen Leben bieten. Der vor 110 Jahren – am 30. Juni 1911 – geborene Fritz Lamm ist so ein Beispiel. Arbeiter_innenbewegung und Sozialismus boten ihm, dem Sohn einer bürgerlich-jüdischen Familie und bekennenden Atheisten, eine selbstgewählte Heimat, Identifikationsfläche und zugleich einen ideellen Rückhalt für das ganze Leben. Aus dem Exil schrieb er 1946: „Meine Heimat ist die Arbeiterbewegung – und meine geistige Heimat, sozusagen der Himmel über dieser kahlgewordenen Erde, ist der Sozialismus. […] Ich habe diese Heimat auch erst gefunden, als ich schon 18 Jahre alt war. Aber seitdem bin ich ihr so treu geblieben, wie ich nur konnte“ (Schwing, S. 38).
Bild: Fritz Lamm spricht zu Mitgliedern der SJD – Die Falken beim Internationalen Camp auf dem Zeltlagerplatz bei St. Georgen im Schwarzwald im Jahr 1964. AAJB, Fotosammlung, 06/0245, Rechteinhaber nicht ermittelbar.
Aufgewachsen in Stettin zog es den Kaufmannssohn zunächst 1920, mit knapp neun Jahren, zum Wanderbund Kameraden, der 1916 als liberaler und antizionistischer jüdischer Jugendbund gegründet wurde. Zehn Jahre gehörte er den Kameraden an, zwischen 1927 und 1929 auch als leitendes, obgleich unangepasstes und polarisierendes Mitglied. Die Kollektivierung des Einzelnen über Alltagspraktiken wie die Gruppenstunde oder das Zeltlager, innerhalb derer wesentliche Grundwerte in der Gemeinschaft vermittelt wurden, nahm einen enormen Einfluss auf das Selbstbild des jungen Fritz Lamm. Zugleich bot der Wanderbund einen Raum, um sich selbst aktiv und gestalterisch in die Gesellschaft einzubringen. Sein jüdischer Glauben, von dem er sich immer weiter distanzierte, während ihn Zeitgenoss_innen zunehmend hierüber identifizierten und diskriminierten, wurde sukzessive durch die Hinwendung zum Sozialismus und zur Arbeiter_innenbewegung überlagert und verdrängt. „Es war auch die Zeit, in der die ersten Zweifel an die alleinige Macht des jüdischen Gottes in mir aufkamen […] und das erste Hintasten zur roten Bewegung. Eure Radikalität erschreckte mich noch – und der sie umgebende Mantel der Romantik machte mich mißtrauisch“, so schrieb Lamm 1976 an Max Fürst, der in den 1920er-Jahren Gruppen und Personen für den Schwarzen Haufen, einer stärker politisierten Jugendbewegung, rekrutierte (Benz, S. 49). In den späten 1920er- und 1930er-Jahren schloss Lamm sich Gruppierungen mit explizit politischen Überzeugungen an, u. a. dem Bund entschiedener Schulreformer, der Deutschen Friedensgesellschaft, der Liga für Menschenrechte, den Naturfreunden und der Jugendgruppe des Freidenker-Verbandes. Die sich bereits andeutende Entfernung von seiner bürgerlich-jüdischen Herkunft hin zum Sozialismus konkretisierte sich 1930: Er wurde unter anderem Mitglied in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD), die ihn allerdings aufgrund einer Unvereinbarkeit mit seiner Mitgliedschaft in der Deutschen Friedensgesellschaft im August 1931 schon wieder ausschloss, trat dann in die radikalere Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und in den Sozialistischen Jugend-Verband Deutschlands (SJVD) ein. Fritz Lamm schuf sich so ein stabiles Netzwerk, in dem er sich mit Gleichgesinnten austauschen und aktiv wirken konnte – bis 1933.
1933 und 1945 waren für Lamm nicht nur politische Zäsuren, sondern auch biographische. Wie für viele andere blieb auch für ihn, der als Jude, Homosexueller und Sozialist gleich dreifach den nationalsozialistischen Verfolgungen ausgesetzt war, nur die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Anpassung war zwar ohnehin nicht die Sache eines oppositionellen Charakters wie Fritz Lamm, die nationalsozialistische Machtübernahme im Januar 1933 brachte ihn allerdings in existentielle Gefahr: Schon nach dem Reichstagsbrand und der unmittelbar folgenden „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ wurde er in eine mehrtägige „Schutzhaft“ genommen. Doch er versuchte weiterhin Widerstand gegen das neue Regime zu leisten. Nicht ohne Folgen: 1934 wurde er wegen der „Vorbereitung zum Hochverrat“ durch die Herstellung und Verbreitung von illegalen Schriften verurteilt und blieb bis Oktober 1935 in Haft. 1936 verließ Lamm schließlich das Land – flüchtete zunächst in die Schweiz, von dort wurde er nach Österreich abgeschoben, gelangte in die Tschechoslowakei und blieb einige Zeit in Frankreich, wo er für die SAP tätig wurde. Wiederum wurde er inhaftiert und erst im März 1942, inmitten des Zweiten Weltkrieges, gelang ihm die Emigration nach Kuba. Das Exil rettete ihm das Leben, und die temporäre Zersplitterung aller früheren Netzwerke, ja seines ganzen bisherigen Lebens, wurde zu einem immanenten Teil von Lamms biographischer Verortung. „Wer wie ich, als Jude und politisch Verfolgter, in der Illegalität, im Gefängnis, im Lager und zweimal bei abenteuerlichen Fluchten solche kleinen Geschenke erhielt, der hat erfahren, daß es nicht das Brot, die Zigarette, das Stück Schokolade – selbst das illegale Flugblatt –, was alles so lebensnotwendig gebraucht und so gierig aufgenommen wurde – war, was uns gestärkt hat –, sondern es war die Tat selbst, der Beweis, daß da jemand war, bereit, zu helfen, freundlich zu lächeln, mit einer kleinen Geste zu zeigen, daß er neu gezwungen und scheinbar auf der Seite der Verfolger war; mit seinem Äußeren, nicht mit dem, was auch ihn im Innern bedrückte.“ (Bezirksveranstaltung der Naturfreunde, Stuttgart 19.8.1974, zit. in: Aufstieg, 45 (1977), H. 5, S. 16).
Fritz Lamm knüpfte bei seiner Rückkehr nach Deutschland 1948 an das Netzwerk vor dem Exil wieder an. Die Sehnsucht danach, das Gefühl der Vereinzelung, das zahlreiche Anhänger_innen der Arbeiter_innenbewegung durch die Jahre des Nationalsozialismus schmerzlich erfahren mussten, zu überwinden, war immens. An diesem Punkt stellten die alten und neugegründeten Institutionen aus der Tradition der sozialistischen Arbeiter_innenbewegung ein enormes Integrationspotenzial her. Viele traten der SPD wieder bei, mit der sie vor 1933 oftmals gebrochen hatten. Dies war auch bei Fritz Lamm der Fall, der dennoch bereits 1963 wieder ausgeschlossen wurde, da seine Mitgliedschaft im Sozialistischen Bund als unvereinbar mit der Parteimitgliedschaft galt. Die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus trieben Fritz Lamm an, junge Menschen linkspolitisch zu schulen und aufzuklären – ob im Zeltlager oder in Gruppenstunden, auf der Straße oder in Vorträgen und Diskussionen. Die politisch-aufklärerische Arbeit mit dem Ziel politischer Erkenntnis und geistiger Reife wurde ihm ein zentrales Anliegen. Der Einfluss auf die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, die Gewerkschaftsjugend oder die Naturfreunde(jugend) ist an vielen Stellen bis heute noch erkennbar. Auch fand man Lamm unter anderem bei Aktionen der Anti-Atomtod-Bewegung oder der Ostermarschbewegung in Kreisen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Darüber hinaus schuf er sich in den 1950er-Jahren über das Organ „Funken. Aussprache-Hefte radikaler Sozialisten“ einen Ort der Verbreitung sozialistischer Ideen. Er publizierte hin und wieder auch in den Nürnberger Nachrichten oder der Frankfurter Rundschau. Wichtiger als eine politische Karriere und all der Parteifunktions-Zauber war ihm seine klare sozialistische Haltung. In Stuttgart, seiner Wahlheimat nach 1945, war er bis zur Rente bei der Stuttgarter Zeitung angestellt, engagierte sich als Betriebsratsvorsitzender, aber auch seit 1969 als Referent für Kultur und Bildung des Bundesvorstandes der Naturfreunde. Nach höheren Funktionen strebte er nicht. Diese „Nichtkarriere“ erklärte er 1969 lapidar mit dem Fehlen der „nötige[n] Portion persönlichen Ehrgeizes“ (Benz, S. 12). In gewisser Weise entspricht der regionale Rückzug nach Stuttgart aber auch Lamms Understatement, Politik betreiben zu können, ohne in die großen Machtgefälle und bürokratische Ungetüme zu geraten, die politisches Handeln bisweilen mehr verunmöglichen als ermöglichen. Am 15. März 1977 verstarb Fritz Lamm an Herzversagen.
Fritz Lamm war ein Sozialist der Tat. Er kritisierte den modernen Kapitalismus, forderte die klassenlose Gesellschaft, warb für Gerechtigkeit und Emanzipation und trug zu kritischem politischem Bewusstsein gerade der jüngeren Generation bei. Nicht wenige wurden von ihm gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren politisiert und fanden sich als Aktivist_innen der Studierendenbewegung um 1968 wieder. Fritz Lamm kann so als ein transgenerationelles Bindeglied zwischen der sogenannten Alten Linken zur Neuen Linken verstanden werden. Und noch heute ist Fritz Lamm, der in diesem Jahr 110 Jahre alt geworden wäre, eine bedeutende Identifikationsfigur nicht nur, aber in besonderer Weise für die Die Falken oder die Naturfreunde. Seine geistige Heimat fand der aus einem jüdischen Elternhaus stammende Lamm schon in jungen Jahren im Sozialismus – ihr blieb er verbunden bis zu seinem Lebensende.
Maria Daldrup
Michael Benz: Der unbequeme Streiter Fritz Lamm. Jude Linkssozialist Emigrant 1911–1977. Eine politische Biographie, Essen 2007. Karljo Kreter: Sozialisten in der Adenauer-Zeit. Die Zeitschrift „Funken“. Von der heimatlosen Linken zur innerparteilichen Opposition in der SPD, Hamburg 1986. Heinrich Schwing (Hrsg.): Fritz Lamm – Vera B.: Habana – New York – Habana. Briefe aus Exilen, Stuttgart 198.Nachlass von Fritz Lamm im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main, Signatur: EB 2002/005, Nachlassnr. 0171.
In der Bibliothek des Archiv der sozialen Demokratie findet sich z.B. die von Fritz Lamm herausgegebene Zeitschrift Funken. Aussprachehefte für internationale sozialistische Politik.
Auch zu den Naturfreunden, für die Lamm eine wichtige Identifikationsfigur war, findet sich in der Bibliothek eine Vielzahl von Veröffentlichungen, einige auch in digitalisierter Form.
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