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In der Gewerkschaftsgeschichte dominiert die Arbeiter_innenbewegung; die Angestelltenbewegung erscheint eher als ein Nischenaspekt. Angestelltenbewegung, freie Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Judentum in Deutschland, all dies verknüpft die Vita von Siegfried Aufhäuser (1884–1969). Der Antisemitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat maßgeblich dazu beigetragen, ihn, einen jungen Handlungsgehilfen, zur Gewerkschaftsbewegung zu führen – ohne Standesdünkel. Sein Credo war über Jahrzehnte hinweg, dass Arbeiter_innen und Angestellte die gleichen Interessen haben.
Als drittes Kind einer jüdischen Kleinfabrikantenfamilie wird Siegfried Aufhäuser am 1. Mai 1884 in Augsburg geboren. Im Hause des Spirituosenfabrikanten Hermann Aufhäuser wird koscher gekocht, aber der Familienpatriarch ignoriert oft den Sabbat. Er gilt in der Gemeinde dennoch als großzügiger Unterstützer eines Neubaus der Synagoge. Die Kinder gehen in die Volksschule, lernen Bibelgeschichte und Hebräisch in der Synagoge. Siegfried Aufhäuser absolviert anschließend eine Handlungsgehilfenlehre beim Münchner Textilgroßhändler Einhorn. Dort beklagt er ihm aufgetragene Hilfsarbeiten und eine mangelnde kaufmännische Ausbildung und tritt daher dem liberalen Verein der Deutschen Kaufleute (VdDK) bei.
In der Angestelltenbewegung, zersplittert in dutzende von Berufsverbänden, dominieren seinerzeit eher liberale und konservative Orientierungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet auch der 1893 als Teil der antisemitischen Bewegung gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfenverband Zuspruch, der Juden ebenso wenig wie Frauen aufnimmt. Gegenseitige Konkurrenz am Arbeitsplatz befördert bei weiten Teilen der Handlungsgehilfen Antisemitismus. Das bekommt auch Siegfried Aufhäuser zu spüren und entrüstet sich im Verbandsorgan des VdDK, der Kaufmännischen Rundschau, über antisemitische Hetze. Aus dieser Haltung entwickelt er in jungen Jahren sein politisches, kämpferisches Bewusstsein.
Ab 1905 wird er Vorsitzender des VdDK in Berlin, arbeitet als Verkäufer beim textilen Hoflieferanten Gerson und schließt sich später der 1908 gegründeten liberalen Demokratischen Vereinigung um Rudolf Breitscheid an. Hier profiliert er sich als Wortführer der Angestelltenschaft, sieht sie – seinerzeit ungewöhnlich – an der Seite der Arbeiterschaft. Aufhäuser heiratet 1912 Anna Stein, die Tochter einer ebenfalls jüdischen Fabrikantenfamilie. Auch sie ist Handelsangestellte, dem gewerkschaftlichen Zentralverband der Handelsangestellten (ZdH) angeschlossen, und zudem SPD-Genossin.
Für Siegfried Aufhäuser kristallisiert sich mehr und mehr die gesellschaftliche Lage der Angestellten zu seinem politischen Handlungsfeld heraus. Zum Jahresbeginn 1913 heuert er als Gewerkschaftssekretär – damals sprach man von Gewerkschaftsbeamten – beim Bund der technisch-industriellen Beamten (Butib) an, 1904 als freigewerkschaftlicher Berufsverband gegründet. Sein besonderes Interesse ist auf die Sozialpolitik fixiert, die Sozialversicherung, denn sie ist nach sozialem Status scharf differenziert. Hier will er mehr Einigkeit erzielen.
Mit seinem Wirken für den Butib ist Aufhäuser zu einem tatkräftigen Gewerkschafter geworden, der sich 1917 der USPD angeschlossen hat. In den Revolutionstagen Ende 1918 steht er mitten im Geschehen, residiert als Angestelltenrat im Reichstag und tritt für Sozialismus und Rätedemokratie ein, nähert sich 1919 jedoch der Vorstellung einer parlamentarischen Demokratie. Im März 1920 ruft er gemeinsam mit Carl Legien, dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch auf.
Mit Beharrlichkeit bündelt Siegfried Aufhäuser zu Beginn der Weimarer Republik eine freigewerkschaftliche Angestelltenbewegung im Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und stellt ihn mit einem Organisationsvertrag 1921 an die Seite des ADGB. Er gilt als die Stimme der Angestellten, zieht 1921 für die Sozialdemokraten in den Reichstag, profiliert sich dort als Sozialpolitiker und beeinflusst die Gesetzgebung sowohl zur Arbeitslosenversicherung als auch zum Arbeitsgerichtsgesetz.
Gegen Ende der Weimarer Republik sieht sich Aufhäuser Anfeindungen der Deutschnationalen und Nationalsozialisten gegenüber. Er ist ihnen verhasst als Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Jude. Zwar betrachtet er sich als nichtreligiös, ist 1929 gar aus der jüdischen Gemeinde in Berlin ausgetreten, doch sieht er sich durchaus in der jüdischen Tradition seiner Familie.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 sieht er die parlamentarische Demokratie gefährdet, plädiert bei den Sozialdemokraten wie beim ADGB für einen Generalstreik, aber vergebens. Aufhäuser ahnt, dass die NSDAP die Gewerkschaften zerschlagen werde und tritt Ende März 1933 als AfA-Vorsitzender zurück. Sein AfA-Bund löst sich Ende April auf und kommt der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 durch die Nazis zuvor. Siegfried Aufhäuser entkommt rechtzeitig. Als im April 1933 gewähltes Mitglied im SPD-Vorstand gehört er dem Exilvorstand der Sopade in Prag an. Er fordert dort eine kritische Aufarbeitung der SPD-Politik in der Weimarer Republik. Eine Debatte zur Unzeit, meint die Vorstandsmehrheit und schließt ihn 1935 aus. Die Einheit der Arbeiterbewegung ist ihm ein besonders wichtiges Anliegen. So sieht er sich an der Seite von Reformsozialisten, etwa der Gruppe Neu Beginnen, einer Reformbewegung um den ehemaligen und aus der KPD ausgeschlossenen Redakteur Walter Löwenheim. Zu Neu Beginnen zählten sich vor allem SPD-Genossen, die kritisch mit der rigorosen Ablehnung des SPD-Vorstands zur KPD umgingen, eine Debatte, die vornehmlich in der Exil-SPD (Sopade und auch im amerikanischen Exil) geführt wurde.
Näher zum Judentum hat sich Siegfrieds Tochter Eva bewegt. Nach Kontakten zur jüdischen Alija-Bewegung geht sie 17-jährig im Juli 1934 nach Palästina in das Kibbuz Hasorea. Die Eltern besuchen sie 1937. Aus Siegfried Aufhäusers Sicht ist Palästina ein politisches Labor, in dem sozialistisch orientierte Einwanderer in einer kapitalistischen Umwelt einen Sektor mit kollektiven Betriebsformen aufgebaut haben.
Auch die Familie Aufhäuser wird vom Antisemitismus im Dritten Reich nicht verschont: Siegfried Aufhäusers Bruder David, ein renommierter Chemiker, stand 1933 auf einer Vorschlagsliste zum Chemie-Nobelpreis. Doch die Nazis ließen dessen Namen tilgen, er verliert 1934 seinen Lehrauftrag an der Universität Hamburg und emigriert mit seiner Familie 1938 in die USA. Der andere Bruder Albert bekommt 1937 die Nürnberger Rassengesetze zu spüren: Ein Angestellter seiner Spirituosenfabrik denunziert ihn wegen vermeintlicher Rassenschande und er muss zwei Jahre ins Gefängnis. Nach der Haft bleibt ihm nur der Verkauf der Firma unter Wert; er stirbt 1942 im KZ Theresienstadt.
Siegfried Aufhäuser und seiner Ehefrau gelingt die Flucht in die USA – genauer nach New York. Der Sozialist hat sich zuvor kaum vorstellen können, jemals in der Hauptstadt des Kapitalismus zu leben. Er zählt zu den Führungspersönlichkeiten der sozialdemokratisch orientierten German Labor Delegation. Beruflich betätigt er sich als Journalist, zunächst in der Neuen Volkszeitung, bis 1945 beim Aufbau, dann beim New York Statesman & Herald. Friedvolle Jahre im Exil sind es nicht. In der sozialdemokratischen Gemeinde findet der Richtungsstreit um die Gruppe Neu Beginnen eine Fortsetzung und Aufhäuser sieht sich mittendrin. Die Arbeit beim Aufbau, der wohl bedeutendsten Exilzeitung deutscher Juden, bringt ihn ein Stück näher zum Judentum: Er thematisiert Antisemitismus in den USA und befasst sich publizistisch mit Palästina.
Nach Kriegsende denkt er nicht an eine Rückkehr nach Deutschland. Den Ruf seines ehemaligen AfA-Kollegen Bernhard Göring, 1946 von der SPD zur SED konvertiert und hoher Funktionär des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB) in Ost-Berlin, weist er zurück, verfolgt skeptisch den Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf dem gewerkschaftlichen Parkett. Erst 1951 kehrt das Ehepaar Aufhäuser nach Deutschland zurück; der führende Gewerkschafter der Angestelltenbewegung findet jedoch eine veränderte Gewerkschaftslandschaft vor. Der DGB-Vorstand in Düsseldorf lässt ihn abblitzen. Anders der Vorstand der 1949 gegründeten Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, die sich in Konkurrenz zum DGB befindet. Sie schickt ihn nach Berlin und er wird im Januar 1952 deren Landesvorsitzender. Dazu wird er im selben Jahr Mitglied des SPD-Landesvorstands. Aufhäuser zieht sich Anfang der 1960er-Jahre aus der Politik zurück, publiziert aber unter dem Titel „Zeitalter der Angestellten“ seine Sicht auf die Angestelltenbewegung und ihre Nähe zur Arbeiterbewegung.
Die Rückkehr nach Berlin ist verbunden mit einer Wiederannäherung an das Judentum: Die Feiertage werden zelebriert, das Ehepaar Aufhäuser sieht sich als Teil der auferstandenen jüdischen Gemeinde. Anteil daran dürfte Jeanette Wolff (1888–1976) haben, zeitweise stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und politische Weggefährtin Aufhäusers in der DAG und der SPD. In Wort und Schrift hatte sie die soziale Ethik des Judentums als Motiv für ihr Engagement genannt. Außerdem dürfte die Bindung zur Tochter in Israel die Rückbesinnung Siegfried Aufhäusers auf das Judentum befördert haben. Aufhäuser stirbt am 6. Dezember 1969 im Alter von 85 Jahren in Berlin und wird auf dem jüdischen Friedhof in Freiburg an der Seite seiner 1960 verstorbenen Ehefrau Anna beerdigt.
Siegfried Aufhäusers Credo „Arbeiter und Angestellte haben ein gleiches Interesse“ fand in den 1950er- und 1960er-Jahren bei ihm eine Fortsetzung. In politischen Grundsatzfragen versuchte er mehr das Gemeinsame als das Trennende zwischen DAG und DGB herauszustellen. „Es ist keine Frage der DAG, es ist eine lebenswichtige Angelegenheit der Arbeiter und Angestellten, daß sie nach jahrelanger Spaltung und Zerreißung einen Weg finden und einen Weg finden müssen, um eine einheitliche Bewegung der Gewerkschaften in Deutschland herzustellen“, gab er den Delegierten des 7. Gewerkschaftstages der DAG 1960 mit auf den Weg. Dieses Vermächtnis hat sich erst 2001 mit der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) unter Einschluss der DAG erfüllt.
Gunter Lange
Literatur
Gunter Lange: Siegfried Aufhäuser (1884–1969). Ein Leben für die Angestelltenbewegung, Berlin 2013.
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