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Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion von 1933 und die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes

Am 23. März 2023 jährt sich die Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz" zum 90. Mal. Wer waren die Frauen und Männer, die sich unter Lebensgefahr 1933 zu einem Nein gegenüber den Nationalsozialisten entschieden und sich damit von allen anderen anwesenden Reichstagsabgeordneten abgrenzten?

23.3.1933; Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz; Quelle: AdsD [6/FOTA020595].

Am 28. Oktober 2000 verstarb mit Josef Felder der letzte noch lebende Abgeordnete, der am 23. März 1933 an der Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz“ (offiziell „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) teilgenommen hatte. Felder war einer der 94 sozialdemokratischen Parlamentarier:innen, die mit ihrem mutigen Nein gegen Hitlers nahezu grenzenlose Machtausweitung ein deutliches Zeichen setzten. In der öffentlichen Wahrnehmung steht dabei zumeist die Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Otto Wels im Mittelpunkt des Interesses. Doch Wels einprägsame Mahnung „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ steht stellvertretend für alle Sozialdemokrat:innen im Reichstag und darüber hinaus.

Wer waren die Frauen und Männer, die sich unter Lebensgefahr 1933 zu einem Nein gegenüber den Nationalsozialisten entschieden und sich damit von allen anderen anwesenden Reichstagsabgeordneten abgrenzten? Die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz war ein Versagen der demokratischen Kräfte Deutschlands – mit Ausnahme der SPD. Während die Sozialdemokrat:innen dem immensen Druck der Nationalsozialisten standhielten, stimmten Demokrat:innen im Lager der Liberalen, Konservativen, christlichen und Regionalparteien für Hitler und sein Ermächtigungsgesetz. Die 81 Abgeordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands waren infolge der „Reichstagsbrandverordnung“ bereits von der Abstimmung ausgeschlossen. Auch wenn es im Nachhinein Erklärungsversuche für die Zustimmung gab, die in Teilen nachvollziehbar sind – zu nennen ist insbesondere der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der als Abgeordneter der liberalen Deutschen Staatspartei ebenfalls für das Ermächtigungsgesetz votierte –, ist der Unterschied zwischen Ja und Nein in diesem Fall extrem.

In der Reichstagswahl vom 5. März 1933 hatte die SPD, trotz massiver Einschüchterungen und Beeinflussungen der Nationalsozialisten, hinter der NSDAP die meisten Stimmen erhalten. Mit 7,18 Millionen Wählerstimmen (18,3 %) stellte die größte demokratische Fraktion im Reichstag fortan 120 Abgeordnete. An der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz zweieinhalb Wochen später konnten dann allerdings nur noch 94 teilnehmen. Die anderen 26 waren entweder von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen worden, ins Ausland geflohen oder bereits tot. Otto Geiselhart, seit 1929 SPD-Reichstagsabgeordneter, starb beispielsweise fünf Tage vor der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz unter ungeklärten Umständen im Amtsgerichtsgefängnis von Günzburg, wohin er von Nationalsozialisten verschleppt worden war.

Gewalt und Verfolgung im Zuge des Ermächtigungsgesetzes

Auf die drastische Gewaltzunahme im Zuge des Ermächtigungsgesetzes und das kurze Zeit später durch die nationalsozialistische Regierung erlassene Verbot der SPD am 22. Juni 1933 waren die meisten sozialdemokratischen Parlamentarier:innen nicht vorbereitet gewesen. Physische und psychische Gewaltausübung, Entziehung der Staatsbürgerschaft, Gefängnis- und/oder Konzentrationslagerhaft bis hin zur fahrlässigen oder gezielten Tötung des politischen Kontrahenten waren probate Mittel der Nationalsozialisten im Kampf gegen die Sozialdemokratie. Dabei litten viele Mitglieder unter mehrfacher Verfolgung, da die SPD-Fraktion einen überproportional hohen Anteil an Abgeordneten jüdischen Glaubens, Angehörigen der Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und Gewerkschaftsmitgliedern verzeichnete. Die wenigsten SPD-Abgeordneten suchten in den knapp über zwölf Jahren Diktatur einen Ausweg in der „inneren Emigration“. Der Großteil kämpfte mit unterschiedlichen Mitteln und von verschiedenen Orten aus gegen die NS-Diktatur. Viele bezahlten den Widerstand mit ihrem Leben. Das „Denkmal zur Erinnerung an 96 von den Nationalsozialisten ermordete Reichstagsabgeordnete“ vor dem Deutschen Bundestag in Berlin führt fast ausschließlich Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen auf (85 der 96 Abgeordneten gehörten der SPD- oder KPD-Fraktion an). Alleine 42 von den Nationalsozialisten ermordete SPD-Abgeordnete verzeichnet das Denkmal.

Der Terror gegenüber der Sozialdemokratie war während der kompletten nationalsozialistischen Diktatur präsent, wobei die Reichstagsabgeordneten, die mit ihrem Nein am 23. März 1933 öffentlich gegen Hitlers Machtausdehnung protestiert hatten, eine besondere Zielscheibe für Racheakte darstellten. Mehrere dieser Parlamentarier:innen wurden schon 1933 ermordet. Zu ihnen zählten u.a. Johannes Stelling, ehemaliger Ministerpräsident des Freistaates Mecklenburg-Schwerin, der im Rahmen der „Köpenicker Blutwoche“ im Juni 1933 von Mitgliedern der SA getötet wurde, Franz Peters, der am 11. August 1933 in Halle (Saale) an den Folgen der „Schutzhaft“ starb und Otto Eggerstedt, der am 12. Oktober 1933 im KZ Esterwegen erschossen wurde. Bis in die letzten Kriegswochen hinein wurden Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion von 1933 gezielt umgebracht. Zu den letzten gehörten u.a. Julius Leber, Franz Petrich und Ernst Schneppenhorst, die im Januar (Leber, Petrich) bzw. April 1945 (Schneppenhorst) hingerichtet wurden. Friedrich Puchta und Franz Metz verstarben sogar erst am 17. Mai bzw. 13. Juni 1945, wenige Tage nach der Befreiung des KZ Dachau, an den Haftfolgen. Auch Fritz Soldmann erlag nach Kriegsende am 31. Mai 1945 den Folgen seiner Haft im KZ Buchenwald.

Die Verzweiflung über den scheinbaren Erfolg der Nationalsozialisten in der Etablierung der Diktatur in Deutschland verbunden mit der ständigen Drucksituation führte bei einigen sozialdemokratischen Abgeordneten, die mutig gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten, zur Entscheidung zum Suizid. So schied die bayerische SPD-Abgeordnete Antonie „Toni“ Pfülf am 8. Juni 1933 freiwillig aus dem Leben. Bereits zuvor am 11. Mai 1933 hatte sich wahrscheinlich auch Adolf Biedermann das Leben genommen. Mathilde Wurm brachte sich am 1. April 1935 im Exil in London um. Anton Reißner beging nach dem deutschen Einmarsch im niederländischen Exil mit seiner Frau und seinem Sohn am 15. Mai 1940 Selbstmord.

Die lange Phase der Diktatur läutete auch einen Generationenwechsel in der Parteiführung ein, der nach Kriegsende vollzogen wurde. Die ältere Führungsgeneration war entweder verstorben oder zu alt, um noch einmal die Zügel in die Hand zu nehmen. Zu ihnen zählten u. a. die früheren SPD-Vorsitzenden und Reichstagsabgeordneten von 1933 Hans Vogel und Arthur Crispien, die 1945 in London bzw. 1946 in der Schweiz starben. Otto Wels war bereits am 16. September 1939 im Pariser Exil und der ehemalige Reichskanzler Philipp Scheidemann zwei Monate später im Exil in Kopenhagen verstorben, während der ehemalige preußische Innenminister Rudolf Breitscheid am 28. August 1944 im KZ Buchenwald starb. Der frühere Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding verstarb am 11. Februar 1941 im Pariser Gestapo-Gefängnis. Carl Severing, während der Weimarer Republik preußischer und Reichsinnenminister, übte politisch nach Kriegsende nur noch auf lokaler und regionaler Ebene Einfluss in der SPD aus. Der ehemalige Reichswirtschafts- und arbeitsminister Rudolf Wissell betätigte sich aus Altersgründen nach 1945 nur noch kommunal in Berlin.

Die Abgeordneten der Reichstagsfraktion von 1933 nach 1945

Von den überlebenden jüngeren Reichstagsabgeordneten nahmen viele ihre politische Karriere nach 1945 wieder auf. Arthur Mertins vertrat die SPD von 1949 bis 1953, Maria Ansorge von 1951 bis 1953 und Josef Felder von 1957 bis 1969 als Abgeordnete(r) im Deutschen Bundestag. Friedrich Wilhelm Wagner wurde Mitglied des Parlamentarischen Rates 1948/49, Bundestagsabgeordneter von 1949 bis 1961 und schließlich von 1961 bis 1967 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Auch der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe wurde Mitglied im Parlamentarischen Rat sowie von 1949 bis 1953 Berliner Abgeordneter im Bundestag und dessen Alterspräsident. Wilhelm Hoegner ist weniger für seine kurzzeitige Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter (1961/62) bekannt, sondern als bislang einziger Ministerpräsident des Bundeslandes Bayern (1945/46, 1954-57), der nicht der CSU entstammt. Ernst Reuter, der ins türkische Exil geflüchtet war, wurde als Oberbürgermeister Berlins zwischen 1948 und 1953 während der Berliner Luftbrücke weltbekannt („Ihr Völker der Welt […]! Schaut auf diese Stadt…“). Auch seine Vorgängerin als Oberbürgermeisterin, Louise Schroeder, hatte zu den Reichstagsabgeordneten gehört, die gegen das Ermächtigungsgesetz votierten.

Als zentrale Figur der jüngeren Abgeordneten der Reichstagsfraktion von 1933 ist jedoch Kurt Schumacher zu nennen. Kaum ein anderer verkörpert in so hohem Maße das, was Wels in seiner Rede zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetz mit „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ meinte. Als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten hatte er mit einer eindrucksvollen Rede 1932 deren besonderen Hass auf sich gezogen: „Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. […] Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist.“ Nach mehr als zehn Jahren Haft in Konzentrationslagern, die ihn physisch gezeichnet hatten, war es der charismatische Schumacher, der die SPD 1945/46 wieder maßgeblich aufbaute und sie als ihr erster Nachkriegsvorsitzender und Oppositionsführer im Deutschen Bundestag bis zu seinem Tod 1952 prägte.

Andere SPD-Reichstagsabgeordnete von 1933 engagierten sich nach Kriegsende gesellschaftspolitisch für die neue, westdeutsche Demokratie. So amtierte Hans Böckler von 1949 bis zu seinem Tod 1951 als erster Vorsitzender des DGB, die Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt Marie Juchacz war von 1949 bis zu ihrem Tod 1956 als Ehrenvorsitzende der AWO tätig. Ausnahmen bildeten Friedrich Ebert jr., der Sohn des ehemaligen Reichspräsidenten, und Otto Grotewohl, die sich nach Kriegsende in der SBZ/DDR als Oberbürgermeister von Ost-Berlin und stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates (Ebert jr.) bzw. Ministerpräsident (Grotewohl) an den Verbrechen der SED-Diktatur und der Verfolgung von Sozialdemokrat:innen in der SBZ/DDR mitschuldig machten.

Nur wenige SPD-Reichstagsabgeordnete von 1933 wie Gerhart Seger oder Tony Sender, die nach Kriegsende in den USA blieben und dort als Journalist bzw. Gewerkschafterin arbeiteten, kehrten nicht mehr aus dem Exil zurück oder entschieden sich, so wie Anna Zammert, nach kurzem Aufenthalt in Deutschland zur Rückkehr in ihr Exilland, das, wie im Falle Zammerts Schweden, zu einer neuen Heimat geworden war.

Die nationalsozialistische Diktatur prägte die Sozialdemokratie nachhaltig. Wels hatte in seiner Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes mit dem Verweis auf die bis dato prägendste Verfolgungserfahrung der deutschen Sozialdemokratie bereits prophezeit, dass sie gestärkt aus der erneuten Verfolgung hervorgehen würde: „Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.“ Er sollte damit recht behalten, obwohl die Opfer, die gebracht wurden, immens waren.

Nikolas Dörr

 

Weiterführende Literatur

  • Josef Felder, Warum ich nein sagte. Erinnerungen an ein langes Leben für die Politik Mit einem Vorwort von Hans-Jochen Vogel, Zürich, München 2000.
  • Klaus Schönhoven, Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Das Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten, Bonn 2017.
  • Eine über Mandatsträger:innen hinausgehende Auswahl der Opfer sozialdemokratischer Widerstandstätigkeit unter der nationalsozialistischen (und SED-)Diktatur findet sich in: SPD-Parteivorstand (Hrsg.), Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Mit einem Vorwort von Sigmar Gabriel und einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel, 2. Aufl., Berlin 2013.

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