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von Michael Sonntag | 14. November 2023 | Lesezeit: 15 Minuten
Die Corona-Pandemie war ein “Gamechanger” – in mehrfacher Bedeutung, auf vielen Ebenen, mit etlichen Herausforderungen und Möglichkeiten. So beeinflusste sie auch meine Arbeit als Gamingjournalist. Die Kontaktbeschränkungen führten zu Verzögerungen und Release-Verschiebungen in der Spielentwicklung, die wiederum dazu führten, dass neue große Produkte und Themen für die Nachrichtenerstattung lange Zeit ausblieben. Die Frage, was Spieler*innen und mit Gaming arbeitende Menschen in der Spieleflaute beschäftigt und bewegt, musste neu überdacht und neu beantwortet werden. Gleichzeitig eröffnete die Situation mir auch ein neues Arbeitsfeld. Die Hildesheimer Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, kurz HAWK, fragte an, ob ich ein Online-Seminar zu Gaming und seinen Potenzialen für die Soziale Arbeit mit Jugendlichen geben möchte. In diesem Seminar fungierte ich als Vermittler – ich gab den Sozialarbeiter*innen einen Zugang zu diesem Medium und zeigte ihnen verschiedene gesellschaftliche Facetten und Ansatzpunkte auf (Spiele, Spieler*innen, Plattformen, Debatten, Instanzen), die sie für ihre Arbeit nutzen können. Mit diesem Wissen fertigten sie zum Abschluss des Seminars eigene Konzepte für Praxis-Projekte an, die Gaming auf verschiedene Weise einsetzen. Die Pandemie ist vorbei und aufgrund des großen Interesses halte ich das Seminar mittlerweile zum dritten Mal.
Selbst wenn die Medien heutzutage bei Gaming nicht mehr von einer “Gefahr” (siehe Killerspieldebatte), sondern von einem Wirtschaftsgut sprechen, fehlt immer noch die gleichzeitige und ausreichende Aufklärung und Aufarbeitung, wie vielseitig Gaming ist. Nach wie vor existieren viele Vorurteile, die die Potenziale von Gaming weiterhin ausbremsen. Weil das Medium im Vergleich zu anderen noch sehr jung ist, eine hohe Zugangshürde besitzt und jahrelang dämonisiert und sein Potential als generationsprägendes Medium nicht betrachtet worden ist. Vorurteile, denen viele Unwissenheiten gegenüberstehen:
Ausschließlich für Jugendliche?
Bei weitem nicht! Der Altersdurchschnitt von deutschen Gamer*innen lag 2022 laut Studie des game-Verbandes bei 37,9 Jahren.
Macht aggressiv?
Nein, wie eine Metastudie 2020 erneut bestätigte, die 28 Forschungsarbeiten analysiert hat.
Macht süchtig?
Nicht anders als beim Fernsehen. Hoher Konsum geht nicht automatisch mit einer Sucht einher, wie die WHO in ihren Kriterien für Computerspielsucht 2019 festlegte.
Reine Daddelei zum Zeitvertreib?
Gaming hat die Grenzen der Unterhaltung seit Jahren überwunden und findet unter anderem im eSport, in der politischen Bildung oder in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen Anwendung.
Der Leitsatz “Menschen dort abholen, wo sie sind” der Sozialen Arbeit meint nicht länger nur den Jugendtreff im Jugendzentrum. Die Jugendlichen verbringen ihre Freizeit auch in spektakulären Gamingwelten und die Sozialarbeiter*innen sollten mitspielen, wenn sie der Gegenwart nicht nachlaufen wollen. Doch welche Potenziale und Hindernisse liefert der Einsatz von Videospielen in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen? Wie sehr versteht die Branche etwas vom “Spiel”? Ich gebe gemeinsam mit Expert*innen einen Über- und Ausblick.
Ein Utopia zum Entspannen für die einen und gleichzeitig ein wilder We(b)stern ohne Überwachung für die anderen – wir müssen uns vor Augen halten: Sollten sich bestimmte Institutionen mit Gaming nicht beschäftigen, tun es dafür andere. Hierzu zählen unter anderem Entwickler*innen, die mit Ingamekäufen mehr Profit machen wollen, Institutionen, die Gaming für ihre Zwecke instrumentalisieren oder toxische Gruppen, die ihre menschenfeindlichen Ideologien verbreiten.
“Digitale Spiele eignen sich sehr gut dafür, junge Menschen in ihrer Lebenswelt abzuholen und Angebote zu gestalten, in denen ihre Interessen berücksichtigt und ernstgenommen sowie Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht werden”, sagt Marten Müller, Sozialarbeiter der Stadt Wolfsburg. Doch obwohl sich Jugendliche besonders in digitalen Spielen sehr heimisch fühlen, werden sie aufgrund von Kontexten, Unwissenheit und Berührungsängsten nicht flächendeckend in der Sozialen Arbeit eingesetzt.
Müller erklärt weiter: “Die Nutzung digitaler Medien und somit auch das Spielen digitaler Spiele ist ein wesentlicher Bestandteil der Lebenswelt junger Menschen. Je nach Alter, Geschlecht oder Sozialisation unterscheiden sich die Spielerfahrungen sowie das Nutzungsverhalten.” Einen Überblick darüber geben jährlich die KIM- und JIM-Studien, die der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (MPFS) durchführt. Ein paar Daten hierzu: Das Smartphone ist die meistgenutzte Plattform. Jungen spielen geringfügig mehr als Mädchen. Während 12- bis 13-Jährige am liebsten Minecraft spielen, wird FIFA ab 16 Jahren immer interessanter. Der Konsum nimmt mit steigendem Alter ab, aber er bleibt Bestandteil der Lebenswelten von Jugendlichen. Wenn Gaming nicht sogar selbst eine Lebenswelt bildet, mit eigenen Gesetzen und Regeln.
Während meiner Seminare an der HAWK sollten die Studierenden 90 Minuten lang Fortnite (ein ebenfalls unter Jugendlichen sehr beliebtes Spiel) im Online-Multiplayer spielen und anschließend ihre Erlebnisse in einer Reflexion festhalten. Ein spannendes Aufeinandertreffen, da viele Teilnehmende zuvor noch über keine Gamingerfahrung verfügten. Viele berichteten, wie schwer ihnen der Einstieg fiel. Die Steuerung, die Geschwindigkeit, vor allem zu verstehen, was nötig war, um zu gewinnen und es dann auch noch rechtzeitig umzusetzen. Gleichzeitig waren sie auch sehr beeindruckt von den Fähigkeiten und Reflexen der anderen Spieler*innen. Schnell merkten sie: Können ist wichtig, eine coole Figur zu besitzen, ist wichtig sowie die Sprache zu beherrschen. Der Umgangston kennt viele Facetten, von kollegial bis rau ist alles dabei.
Aber ein Spiel spielen zu können, schließt nicht unbedingt Medienkompetenz mit ein. Ein Sozialarbeiter schilderte, wie er durch Zufall im Spiel mit einem 9-Jährigen ins Gespräch gekommen ist und dieser ihm alles erzählte – seinen Name, seinen Wohnort, sein persönliches Empfinden. “Ich bin froh, dass ich mit ihm geredet habe und nicht jemand anderes. Damit sollten sich seine Eltern viel mehr auseinandersetzen, damit sollten wir uns viel mehr auseinandersetzen”, sagte er.
Gaming ist weitaus mehr als Spaß, es ist zugleich eine Plattform, um sich auszuprobieren und neue Perspektiven zu erhalten. Müller erklärt: “Digitale Spiele bieten ein hohes Identifikationspotenzial mit Spielfiguren und nicht spielbaren Charakteren. In virtuellen Welten können Jugendliche sich ausprobieren und Handlungen reflektieren. Selbst erstellte Spielfiguren können dabei an der eigenen Person orientiert sein, Wünsche verkörpern oder gar Abgrenzung ermöglichen.” Das nutzt auch die Soziale Arbeit. Laut Müller können Gaming-Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) beispielsweise entweder an eine vielfältige Zielgruppe gerichtet werden, um Klischees aufzugreifen und ihnen aktiv entgegenzuwirken oder speziell an etwa Mädchen, um ihnen einen Raum zu bieten, in dem sie sich selbst frei von Wertung und Rahmung durch männliche Peers ausprobieren können.
Dabei sind Spiele keineswegs als ein Ersatz für „alte Methoden“ zu verstehen. Sie würden viel mehr das umfangreiche Repertoire der Sozialen Arbeit ergänzen – ein Repertoire, dem “Gaming” nicht gänzlich neu ist, wie Verwaltungsprofessor Sedlak von der HAWK Hildesheim erklärt: “Soziale Arbeit kann auf eine lange Tradition der Einbindung von Gaming im non digitalen Bereich zurückgreifen. Erlebnispädagogik, Spielpädagogik, Rollenspiele usw. bilden den einen Pfad, Planspiele in der Ausbildung (etwa fiktive Fallkonstellationen) den anderen. [...] Aus einem jugendkulturellen Blickwinkel - etwa am Beispiel der offenen Kinder und Jugendarbeit oder etwa der politischen Jugendarbeit - bilden nicht digitale Spielformen didaktische, methodische wie reflexive Werkzeuge, die in ihrer Systematik bisweilen von der niedrigschwelligen Kontaktaufnahme bis zum komplexen gesellschaftspolitischen Systematiken als Diskursanregung oder Ähnlichem reichen”, so Sedlak. “In diesem traditionellem Verständnis bekäme das digitale Spiel einen ähnlichen Status zugewiesen. D.h. mit Blick auf lebensweltliche Bezüge bedarf es einer zielgruppenadäquaten Aktualisierung. Gaming in seinen digitalen Formen – ausdrücklich auch im Bereich VR – soll, wird und muss ein neuer, erweiternder Standard in etlichen Bereichen Sozialer Arbeit werden.”
Maik Rauschke, Digitale Offene Kinder- und Jugendarbeit im KJZ Schiene, betont dabei, dass das Spielen im Spielen niemals verloren gehen sollte: “Spiele bzw. Spielen ist allgegenwärtig und für das Kennenlernen, Ausprobieren, Zeit überbrücken oder Lösungen finden methodisches Standardwerkzeug in einem Jugendzentrum. In der Regel ist Spielen aber auch einfach nur Spielen, es muss nicht immer einen übergeordneten Sinn oder Zweck haben. [...] Gaming hat damit also ein sehr hohes Potential, um sich in einem Jugendzentrum zusammen mit jungen Menschen mit ihren Themen zu beschäftigen und an ihren Lebenswelten teilhaben zu können oder ihnen einfach Raum für ihre Freizeitgestaltung zu geben.”
Das Jugendschutzgesetz und die Einstufungen der USK bilden den gesetzlichen Rahmen für den Einsatz digitaler Spiele in der Sozialen Arbeit. Institutionen wie der Spieleratgeber NRW bieten Altersempfehlungen und Handlungsempfehlungen zu Videospielen für pädagogische Projekte. Aber: “Irgendeinen PC hinstellen reicht nicht”, sagt Rauschke. Um Gaming in der Sozialen Arbeit einzusetzen, ist es wichtig, dass gewisse Voraussetzungen gewährleistet werden, die Rauschke wie folgt zusammenfasst:
Weitere Handlungsempfehlungen gibt der niedersächsische Arbeitskreismedien. Wie er in seinem Paper schreibt muss der alte Satz der sozialen Arbeit "die Menschen da abholen wo sie sind" in einer digitalen Gesellschaft genauso umgesetzt werden wie vormals in einer analogen Gesellschaft. Konkret bedeutet das, die aktuellen Medienrealitäten der Kinder und Jugendlichen nicht auszublenden, an ihren Lebensräumen teilzuhaben und sie gleichzeitig nicht aus ihren Lebensräumen zu verdrängen oder in diesen zu bevormunden.
Wie Programme der Sozialen Arbeit mit Gaming aussehen können, zeigte unter anderem das Institut Spielraum (TH Köln) im Rahmen seines Projektes “Ethik und Games”. Krieg über This War of Mine fassbar machen, für den Umgang mit Beziehungen sensibilisiert zu werden anhand eines Spiels mit zwei Gottesanbeter*innen, über gesellschaftliche Vielfalt anhand von The Unstoppables reflektieren und wertschätzen – die Broschüre liefert diverse Zugänge und viele Anwendungsmöglichkeiten.
Einen anderes Beispiel stellt die Region Braunschweig dar, in der aktuell vier Projekte in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aktiv sind, die sich mit Digitalen Medien / Gaming beschäftigen und regelmäßig über die technischen Entwicklungen sowie über die damit zusammenhängende pädagogische Arbeit austauschen. Zur Jugendförderung der Stadt Wolfsburg wiederum gehört unter anderem das Jugendhaus ASS, das einen Medienschwerpunkt hat. Die Besuchenden können dort an unterschiedlichen Konsolen oder Gaming-PCs mit- und gegeneinander spielen. Müller ergänzt: “Im gemeinsamen Spielen – ob nun digital oder analog – lernen Kinder und Jugendliche außerdem grundlegende Umgangs- und Kommunikationsformen, haben Selbstwirksamkeitserfahrungen und erlernen den Umgang mit Frust – dabei werden sie stets von pädagogischen Fachkräften begleitet.”
Gaming wird in der Sozialen Arbeit nicht flächendeckend eingesetzt, es gibt immer noch viele Vorurteile und Hindernisse, wie Rauschke erklärt: “Nach meinen Erfahrungen bohren wir, die wir mit digitalen Medien arbeiten, seit über 20 Jahren verdammt dicke Bretter, wenn es darum geht Gaming bzw. Digitale Medien in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit einzusetzen. Vielfach geht es um Vorurteile dem Gaming gegenüber (Spiele sind gewaltverherrlichend, Kids spielen nur alleine und ähnliche Themen) oder um eine grundsätzliche persönliche Abneigung dem Thema gegenüber.” Sätze wie „Wald ist besser als Computer“ oder „ein Brettspiel können wir gerne direkt kaufen, für eine VR Brille braucht es ein sehr detailliertes Medienkonzept“ seien Sätze, die Rauschke häufig höre. “Während der Corona-Pandemie haben sich diese Bretter etwas leichter bohren lassen. Wir konnten Digitale Medien grundsätzlich sehr viel unkomplizierter einsetzen und viele Vorurteile sind durch die Vorteile der kontaktlosen digitalen Kommunikation aufgeweicht worden. Leider sind diese Veränderungen mit dem Abflachen der Corona-Pandemie aber auch direkt wieder zurückgenommen worden. Viele der während Corona entwickelten Projekte und Angebote sind mittlerweile komplett eingestellt oder (wieder) auf eine analoge Umsetzung angepasst worden.” Für Rauschke werde der Einsatz Digitaler Medien im Kontext der Sozialen Arbeit in den Hochschulen immer noch nicht in dem Umfang vermittelt, wie es die Arbeit in bzw. mit den Lebenswelten junger Menschen in einer Jugendeinrichtung benötige.
Gaming ist weitaus mehr als ein Wirtschaftsgut: Es ist ein Kulturgut, Alltags- und Gesellschaftsmedium. Ein Spiegel der Gesellschaft. Eine Simulation, um neue Interaktionen durchzuführen und neue Perspektiven einzunehmen, die in der Realität nicht möglich sind. Überwindet Grenzen aller Art, egal ob alterstechnische, räumliche oder kulturelle. Es verhält sich meiner Meinung nach wie bei der Debatte um KI – anstatt immer neue Ängste zu kreieren, sollten wir uns nach den Möglichkeiten fragen. Es ist das, was wir daraus machen – und was es vor allem ist, ist ein Multitool, das wir für viele Zwecke und Bereiche nutzen sollten.
Michael Sonntag ist langjähriger Gaming-Journalist, Dozent, Content Creator und Podcaster bei Coffee, Cake & Games. Er schreibt für GameStar, Vodafone Featured, 4Players und viele weitere Magazine. In seiner Freizeit verfasst er Romane oder spielt Klassiker sowie nischige Multiplayer.
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