Die Unfallversicherung in der Bundesrepublik
Nach 1945 erfolgte die Wiederherstellung der Selbstverwaltung mit einer nun paritätischen Besetzung aller Selbstverwaltungsorgane in der Sozialversicherung, das heißt die Organe werden je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern besetzt.
Auch die Wahlen der Versichertenvertreter:innen wurde neu geordnet und 1953 fanden die ersten Wahlen zu den Organen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung statt. Diese neuen Sozialversicherungswahlen stellten eine wichtige demokratische Grundlage der Bundesrepublik dar.
Die Sozialwahlen ermöglichen bis heute eine demokratische Beteiligung aller Versicherten. Sie bilden außerdem ein wichtiges gewerkschaftliches Betätigungsfeld, wie etwa die Werbung des DGB für die Beteiligung an den Wahlen von 1986 zeigt. Diese sollte auch verdeutlichten, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wahlberechtigt sind. [Bild Sozialwahlen]
In der Bundesrepublik erfolgte zudem ein stetiger Ausbau und Reformprozess der Sozialversicherung. Dies brachte für die Unfallversicherung langfristig vor allem eine Stärkung von Prävention und Rehabilitation. Die Ausweitung des Arbeits- und Unfallschutzes stand auch weit oben auf dem umfangreichen Reformkatalog der sozial-liberalen Koalition ab 1969. Ebenso engagierten sich die Gewerkschaften verstärkt werbend für den Unfallschutz. Die Beteiligung an den Sozialwahlen und das Engagement für den Unfallschutz sind heute noch wichtige gesellschaftliche Aufgabenfelder der Gewerkschaften.
In der langfristigen Entwicklung haben stetige Reformprozesse und die Beteiligung der Versicherten sowie die paritätische Zusammenarbeit der Sozialpartner zu einem fast geräuschlosen Funktionieren der Unfallversicherung geführt. Dieses Zusammenspiel drückt sich auch dadurch aus, dass wir in öffentlichen Debatten kaum etwas zur Arbeitsunfallthematik oder Reformbedarf in diesem Zweig der Sozialversicherung vernehmen.
Während vor 140 Jahren die Arbeitsunfallproblematik eine große Herausforderung darstellte, ist die soziale Sprengkraft heute weitgehend verloren gegangen. Auch wenn seit den 1970er Jahren die Unfallzahlen stetig gesunken sind, bleibt aber die Frage offen, ob sich gefährliche Arbeitsplätze nicht einfach ins Ausland verlagert haben. Leider ist diesbezüglich das deutsche Modell der Unfallversicherung für viele Niedriglohnländer kein Exportmodell geworden.
Sebastian Knoll-Jung
Quellen und Literatur:
Bernard Braun et al.: Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Online zugänglich unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/32207, abgerufen am 29.01.2024.
Sebastian Knoll-Jung: Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechsel präventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik, in: Hähner-Rombach, Sylvelyn (Hrsg.): Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente, Stuttgart 2015. S. 17–40.
Sebastian Knoll-Jung: Vom Schlachtfeld der Arbeit, Aspekte von Männlichkeit in Prävention. Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 2021.
Hermann Mattutat: Rentendrückerei und Unfallrechtsprechung, in: Die Neue Zeit, 31 (1912/1913), Nr. 21, S. 932–940.
Reichsministerium des Innern (Hrsg.): Reichsgesetzblatt 1884, Nr. 19, Berlin 1884, https://www.reichsgesetzblatt.de/D/RGBl-D/1884/index.htm, abgerufen am 5.7.2024.
Manfred G. Schmidt: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998.
Klaus Tenfelde: Arbeitersekretäre Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993.
Florian Tennstedt: Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, Köln 1983.
Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/, abgerufen am 5.7.2024.