Bibliothekarische Provenienzforschung und das „pflanzliche Gedächtnis“ der deutschen Arbeiterbewegung
Auch am heutigen, insgesamt bereits 7. Internationalen Tag der Provenienzforschung finden wieder Veranstaltungen in Museen, Bibliotheken und Archiven in ganz Deutschland, Europa und der Welt statt, um dieses gesellschaftspolitisch wichtige Forschungsfeld der interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der nunmehr seit 2020 systematisch bibliothekarische Provenienzforschung betrieben wird, beteiligt sich wieder an diesem Programm.
Besonderes Anliegen dieses Tages ist dabei ausdrücklich Transparenz, weil Provenienzforschung auf den öffentlichen Diskurs angewiesen ist. Warum ist das der Fall? Weil die Aufgabe bibliothekarischer Provenienzforschung nicht darin besteht, alte staubige Bücher um ihrer selbst willen von einer in die andere Bibliothek zu verschieben. Sie ist insbesondere und vorrangig Erinnerungsarbeit, d.h. Arbeit am kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft. Dass nun gedruckten Büchern auch eine erinnerungskulturelle Bedeutung zukommt, mag auf den ersten Blick überraschen; verbindet man doch mit ‚Erinnerungskultur‘ eher die Arbeit in Dokumentationszentren und Gedenkstätten. Jedoch ist diese Qualität eine dem – wohlgemerkt: gedruckten – Buch innewohnende.
Gedruckte Bücher als Erinnerungsorte
Wenn man sich mit der kulturellen Bedeutung von Büchern und Buchsammlungen im Speziellen beschäftigt, ist der Weg zu Umberto Eco nah. Der italienische Universalgelehrte, 2016 in Mailand verstorben, hat nicht nur ein umfangreiches Œuvre als Sprachwissenschaftler und Schriftsteller hinterlassen. Er gilt als Inbegriff des Bücherliebhabers. So trägt die deutsche Übersetzung kurzweiliger Abhandlungen aus dem Jahr 2009 den treffenden Titel: Kunst des Bücherliebens.
Eco, der bekennende Bibliophile und leidenschaftliche Sammler, aber war allen voran ein entschiedener Verfechter des gedruckten Buches. Das „pflanzliche Gedächtnis“ (la memoria vegetale) einer papierenen Sammlung müsse nämlich unbedingt vom „mineralischen Gedächtnis“ unserer (Silizium-)Computer unterschieden werden. Gedruckte Bücher und elektronische Medien seien zwar gleichermaßen Informationsträger. Der Erfahrungswert allein aber mache aus einem Buch einen dynamischen, lebendigen Erinnerungsort. Randnotizen und Kommentare, Gebrauchsspuren jedweder Art sowie Eigentumsvermerke früherer Besitzer_innen zeigen dies. Oder wie Eco formuliert: „Das geistige Abenteuer desjenigen nachzuerleben, der es mit seinem handschriftlichen Zeugnis signiert hat."
NS-Bibliomanie, Bibliokleptomanie und Biblioklasmus
Ecos Privatbibliothek, die nahezu 35.000 zeitgenössische und 1.500 antike Exemplare zählte, darunter wertvolle mittelalterliche Handschriften und bibliophile Raritäten, ist mittlerweile zwei Institutionen übertragen worden: der Bibliothek der Universität Bologna – Ecos akademischer Heimat – und der renommierten Biblioteca Nazionale Braidense in Mailand. Einen Einblick in diesen magischen Kosmos bietet neuerdings die Dokumentation des Regisseurs Davide Ferrario mit dem sprechenden Titel: Eine Bibliothek der Welt (2024). Wohlplatziert beginnt Ferrario seine filmische Erkundung mit einem Zitat Ecos: „Die Bibliothek ist Symbol und Realität eines kollektiven Gedächtnisses.“
Ecos Sinnspruch findet paradoxerweise durch die NS-Raubgutpolitik Bestätigung. In gewisser Weise waren die Nationalsozialisten vom gedruckten Buch als individuellem und kollektivem Erinnerungsträger besessen. In ihrer ‚Kulturpolitik‘ erwiesen sie sich daher auch als regelrecht ‚bibliomanisch‘: getrieben vom Drang, das geistige Erbe ihrer weltanschaulichen Gegner entweder in ihren Besitz zu bringen (Bibliokleptomanie) oder zu zerstören (Biblioklasmus). In beiden Fällen galt das Vorgehen dem kollektiven Gedächtnis der angegriffenen Gruppen und damit den Bibliotheken. Für beide bibliophilen ‚Abarten‘ der NS-Diktatur finden sich Zeugnisse im planvollen Vorgehen gegen ein frühes Opfer: die organisierte Arbeiterbewegung.
Arbeiterbibliotheken und kollektives Gedächtnis
Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert war Arbeiterbildung ein wesentliches Ziel der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland. Ausdruck dieser bildungspolitischen Offensive waren die zahlreichen ‚Arbeiter-Bibliotheken‘, die sich zumeist auf regionaler Ebene bildeten – häufig aus einem Zusammenschluss kleinerer gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Bibliotheken. Aber auch größere Zentralbibliotheken in den Metropolen des Deutschen Reiches, zum Beispiel in Berlin, Köln oder Leipzig, existierten nachweislich. Neue bildungspolitische Impulse gingen vom Mannheimer SPD-Parteitag 1906 aus. Dort wurde ein ‚Zentralbildungsausschuss‘ beim Parteivorstand eingerichtet, der die Anstrengungen koordinierte. Der hohe Organisationsgrad der Arbeiterbewegung sowie die eminente Rolle, die der sozialistischen Bildung in Form von Arbeiterbildungsvereinen beigemessen wurde, führten dazu, dass 1933 schätzungsweise bis zu 2.500 Arbeiterbibliotheken mit einem Bestand von ca. 1,5 Millionen Bänden existierten.
Unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten begann der Zerstörungsprozess des kollektiven Gedächtnisses der deutschen Arbeiterbewegung. Werner Schroeder hat in einer Pionierstudie das Schicksal der thüringischen Arbeiterbibliotheken untersucht: 99,6% des Bestands seien höchstwahrscheinlich verbrannt oder zu Altpapier verarbeitet worden. Ein Beispiel für den nationalsozialistischen Biblioklasmus. Dagegen stehen die Raubzüge Robert Leys und seiner Schergen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) für die exzessiven Formen des Bücherraubs. Die Zentralbücherei der DAF zählte 1938 rund 336.000 Bände – zusammengetragen vorrangig aus beschlagnahmten Gewerkschaftsbibliotheken. Ein konsequentes Differenzkriterium, wonach im Einzelfall zwischen Einstampfen und Raub zu entscheiden war, ist nicht (immer) zu erkennen.
Erinnerung an die Zentralbibliothek der Freien Gewerkschaften Kölns
Im Falle der Zentralbibliothek der Freien Gewerkschaften Kölns schien es sich lange Zeit um einen Totalverlust zu handeln. Die Bibliothek war im Volkshaus in der Severinstraße 199 untergebracht. Die Volkshäuser, nach Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 vielerorts gegründet, dienten als politische Zentren der organisierten Arbeiterbewegung. 1913 betrug ihr Bestand bereits 8.000 Bände. Am 2. Mai 1933 zerschlugen die Nationalsozialisten in einer konzertierten landesweiten Aktion die Freien Gewerkschaften, die verboten und ihrer Besitztümer beraubt wurden. An ihre Stelle traten gleichgeschaltete Verbände.
In Köln besetzten 80 SA-Schergen das Volkshaus, beschlagnahmten das Inventar und verhafteten leitende Gewerkschaftsfunktionär_innen. Häufig verbunden waren diese Aktionen mit der ritualisierten Verbrennung von Schrifttum, wie das Beispiel der Zerschlagung der Leipziger gewerkschaftlichen Zentralbibliothek bezeugt: „Die ‚undeutschen‘ oder ‚marxistischen‘ Titel wurden ausgesondert und öffentlich auf dem Leipziger Messplatz verbrannt.“ (Brunner 2003, S. 26) Die Kölner Zentralbibliothek der Freien Gewerkschaften besaß zum Zeitpunkt ihrer Zerschlagung wohl mehr als 12.000 Bände.
Lange Zeit fehlte von dieser Bibliothek jede Spur. Die Nationalsozialisten schienen in ihrem Unterfangen, das kollektive Gedächtnis der kölnischen Gewerkschaftsbewegung restlos zu vernichten, erfolgreich gewesen zu sein. Bis die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2009 die beiden damals einzig erhaltenen Exemplare an die Friedrich-Ebert-Stiftung restituieren konnte. Mittlerweile ist – als Ergebnis der systematischen Bestandsprüfungen im sogenannten Gründungsbestand der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung – ein weiteres Exemplar identifiziert worden, das zudem interessante Hinweise zu Ordnung und Benutzungsmodalitäten der ehemaligen Gewerkschaftsbibliothek enthält. Diese drei (bis heute) bekannten Bücher (wohlgemerkt einer ehemals 12.-15.000 Bände umfassenden Bibliothek) sind auf ihre Weise ein gewerkschaftlicher Erinnerungsort, der uns die bewegte Geschichte der kölnischen Arbeiterbewegung fast ein Jahrhundert nach ihrer vermeintlich endgültigen Vernichtung vergegenwärtigt.
Jeder Fund ein Triumph über die NS-Barbarbei
Provenienzforscher_innen möchten verloren gegangene Schicksale, die den Objekten eingeschrieben sind, bekannt machen und in unserem kollektiven Gedächtnis markieren. „Was nicht in Geschichte gefasst wird, geht in der Zeit unter“ – so formuliert es der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto in seinem Roman Der Kartograf des Vergessens. Die Verlustgeschichten erzählende Provenienzforschung (Verlust des Eigentums, der Heimat oder sogar des Lebens) ist integraler Bestandteil einer modernen, lebendigen und dynamischen Erinnerungskultur. Das macht ihren besonderen Wert aus. Darauf hinzuweisen dürfen die wissenschaftliche Community und die Verantwortlichen in den Gedächtnisinstitutionen nicht müde werden. Denn gerade in Zeiten, in denen Eckpfeiler freiheitlich-demokratischer Grundordnungen weltweit enormen Gefahren ausgesetzt sind, stellen die Aushandlungsprozesse des Einzelnen wie der Gesellschaft im Umgang mit der Vergangenheit einen Gradmesser für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft dar.
Christian Maiwald
Weiterführende Literatur
Brunner, Detlev: 2. Mai 1933 – Der Sturm auf die Gewerkschaftshäuser und das Schicksal der Gewerkschaftsbibliotheken, in: Verbrannt, geraubt, gerettet! Bücherverbrennungen in Deutschland. Eine Ausstellung der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des 70. Jahrestages, Bonn 2003, S. 23–30.
Eco, Umberto: Das pflanzliche Gedächtnis, in: Ders.: Die Kunst des Bücherliebens. Aus dem Ital. von Burkhart Kroeber, München 2009, S. 7–29.
Hoffrath, Christiane: Zerschlagen und verschollen: Der Sturm auf die Gewerkschaftsbibliotheken am 2. Mai 1933. Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln restituierte die beiden einzig erhaltenen Bücher der ehemaligen Kölner Zentralbibliothek der Freien Gewerkschaften, in: ProLibris 3 (2009), S. 129–133.
Schroeder, Werner: „Arbeiter, fördert und unterstützt weiter eure geistige Rüstkammer“. Aufbau, Bedeutung und Zerschlagung der Arbeiterbibliotheken in Thüringen, Bonn 2008 (= Veröffentlichungen der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung; 20). Volltext online
Die drei erhaltenen Exemplare aus der Zentralbibliothek der Freien Gewerkschaften Kölns in unserer Bibliothek:
Heinrich Mann: Flöten und Dolche. Novellen. München: Langen, 1905. FES-Signatur: A 09-4478
Die historische Leistung von Karl Marx: Zum 25. Todestage des Meisters herausgegeben von Karl Kautsky. Mit einem Porträt. Berlin: Vorwärts, 1908. FES-Signatur: A 09-4479
Leo Arons: Die preußische Volksschule und die Sozialdemokratie. Mit einer Einleitung von Max Quarck. Berlin: Verlag der Sozialistischen Monatshefte, 1905. FES-Signatur: A 46526