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Die Provenienzforschung sucht die Beschäftigung mit ihrem Auftrag im öffentlichen Diskurs, weil sie die Öffentlichkeit braucht. Zugleich regen ihre Geschichten zum Nachdenken über zeitgemäße Formen des Erinnerns an.
Bild: von Unbekannt Topographie des Verlusts: Leerstellen im Stadtbild festschreiben. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der historischen Mitte Berlins (Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons). https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Holocaust_memorial_tree.jpg
Bild: von Unbekannt Anton Menger (1841–1906), österr. Jurist und Sozialtheoretiker, 1886, Fotograf Josef Löwy (Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons). https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anton_Menger.jpg?uselang=de
Am heutigen 10. April 2024 findet wieder der sogenannte Tag der Provenienzforschung statt. 2019 auf Initiative des Arbeitskreises Provenienzforschung e. V. ins Leben gerufen, dient er Provenienzforscher_innen in Museen, Bibliotheken und Archiven als willkommene Gelegenheit, auf ihre Forschung aufmerksam zu machen und sie einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Diese Vermittlungsleistung ist der Provenienzforschung geradezu eingeschrieben, stellt Öffentlichkeitsarbeit doch einen integralen Bestandteil jedweden Provenienzforschungsprojekts dar.
Provenienzforschung ist stärker als vergleichbare (geistes-)wissenschaftliche Forschungsdisziplinen in den öffentlichen Diskurs eingebunden, da sich ihr in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten stetig an Bedeutung zugenommener Arbeitsbereich (auch) einem öffentlichen Auftrag verdankt: Bundesregierung, Länder und kommunale Spitzenverbände sind durch die auf den Washingtoner Prinzipien (1998) beruhende Gemeinsame Erklärung von 1999 dazu angehalten, „nach weiterem NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut zu suchen und gegebenenfalls die notwendigen Schritte zu unternehmen, eine gerechte und faire Lösung zu finden.“ Diese Erklärung ist für alle Gedächtnisinstitutionen öffentlicher Trägerschaft in Deutschland von enormer moralischer und politischer Verbindlichkeit. Im Geiste dieser (Selbst-)Verpflichtung ist es an Provenienzforscher_innen, auf der gesellschaftspolitischen Relevanz ihrer Arbeit zu beharren – über die gewöhnlichen (haushalts-)politischen Brüche hinweg. Doch worin liegt diese gesellschaftspolitische Relevanz genau, oder (in Abwandlung des berühmten Titels der schillerschen Antrittsvorlesung): Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Provenienzforschung?
Wir wollen uns im Folgenden auf den zweiten Teil der Frage konzentrieren, für den allein sich eine Vielzahl plausibler Erklärungen anbietet: Allen voran Gerechtigkeit, nicht die (in gewisser Weise) anmaßende ‚Wiedergutmachung‘, sondern das Bekenntnis zur Aufarbeitung historischen Unrechts, für das es keine Verjährungsfristen gibt. Im Falle der Bundesrepublik Deutschland darf man dieses Bemühen – mal mehr, mal weniger erfolgreich umgesetzt – durchaus als eine Art ‚Gründungsmythos‘ begreifen. Seit 2020 betreibt die Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung systematisch bibliothekarische Provenienzforschung. Sie ‚macht‘ dadurch die Herkunft von Büchern ‚bekannt‘. Die notwendigen Erfolgskriterien dieser ‚Bekanntmachung‘, um Gedanken von Jan Philipp Reemtsma aufzugreifen, sind seit der Initialzündung durch die Washington Conference on Holocaust Era Assets grundsätzlich gegeben. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich dieser Anliegen in Form öffentlicher Debatten stetig anzunehmen und sie wiederholt in politischen Willen zu überführen. Die Anstrengung, nach verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern zu suchen, und die Bereitschaft, nach erfolgter Begutachtung Restitutionen vorzunehmen, bedürfen also einer fortwährenden öffentlichen Vergewisserung über deren gesellschaftliche Relevanz.
Das ist die eine Seite der Medaille des Zusammenspiels von Provenienzforschung und Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite geschieht Provenienzforschung aber nicht im luftleeren Raum, ihre Ergebnisse, also die ‚Bekanntmachungen‘ von Objektgeschichten und den dahinterliegenden menschlichen Schicksalen haben Rückwirkungen auf den öffentlichen Diskurs. Die Geschichte, die geschrieben wird, prägt wiederum das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft – genauer: die dynamischen Aushandlungsprozesse des Einzelnen wie der Gesellschaft im Umgang mit der Vergangenheit. Diese Prozesse bezeichnet man als Erinnerungskultur(-en). Die bundesrepublikanische Erinnerungskultur ist im besonderen Maße vom Streben nach Aufrechterhaltung der Erinnerung an die singulären Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus geprägt. Aus nachvollziehbaren Gründen sind „die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Erinnerung an seine Opfer zu einem Bestandteil der politisch-kulturellen Identität dieses Landes“ geworden – obgleich die „Versuchung“ des geschichtspolitischen Revisionismus‘ nie gebannt war, wie jüngst Norbert Frei im Zusammenhang mit den Kontroversen rund um die Carl Friedrich von Siemens Stiftung luzid dargelegt hat. So nehmen unverblümte Angriffe auf das erinnerungskulturelle Selbstverständnis dieser Gesellschaft wieder zu. Und ganz grundsätzlich scheint die deutsche Erinnerungskultur, wenn nicht in einer Krise, so doch mit großen Herausforderungen konfrontiert. Das generationenübergreifende Erinnern scheint nicht zuletzt aufgrund der zeitlichen Distanz und der zunehmend verloren gehenden Zeitzeugenschaft gefährdet. Erinnern gestaltet sich in unserer heutigen Gesellschaft anders als noch vor einigen Jahren.
Der vom Herrschafts- und Vernichtungswahn bestimmten ‚Kulturpolitik‘ der Nationalsozialisten fielen unzählige Kulturgüter zum Opfer. So wurden zwischen 1933 und 1945 schätzungsweise über 100 Millionen Bücher vernichtet. Wie viele geraubt und verbracht wurden, und dadurch bis heute heimatlos sind, ist nicht zu ermessen. Das planvolle Vorgehen gegen die Gedächtnisträger ihrer weltanschaulichen Gegner verdeutlicht das strategische Kalkül der Nationalsozialisten, gewachsene kulturelle Identitäten rigoros zu bekämpfen. Die Folgen spüren wir bis in die Gegenwart: die ‚Leerstellen‘ im kollektiven Gedächtnis.
Navid Kermani berichtet in seiner Rede anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München über seinen ersten Besuch in Auschwitz. Bei diesem Besuch und auf weiteren Reisen an die Stationen der NS-Verbrechen in Osteuropa dienen ihm Leben und Wirken Marcel Reich-Ranickis als Orientierungshilfen. In seiner Rede stellt Kermani einige bemerkenswerte Überlegungen über den Charakter zukünftiger Erinnerung an den Nationalsozialismus an. Er fragt, wie unter den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen Erinnerung konkret gestaltet werden könnte: „Aber ist das alles? Sind Schuld und Scham die einzigen oder auch nur die vorherrschenden Gefühle, mit denen heutige Leser auf Marcel Reich-Ranickis Schilderungen aus dem Warschauer Ghetto reagieren? Ich glaube nicht. Mich jedenfalls überkam bei der Lektüre von ‚Mein Leben‘ mehr noch der Eindruck eines immensen, eines nicht mehr gutzumachenden Verlusts – eines Verlusts für uns, die wir heute Deutsche sind. […] Daher ist der Holocaust für Deutschland nicht allein eine Schuldgeschichte. Er ist zugleich eine Verlustgeschichte. […] Schuld, wenn sie nicht in Kategorien des Bluts und der Volksgemeinschaft gefasst ist, Schuld vererbt sich nicht beliebig über die Generationen hinweg; man hat ein persönliches Verhältnis zu dem, was die Eltern, was die Großeltern taten, aber spätestens als Urenkel wird Schuld zu einem abstrakten Begriff, geht im besten Fall in politische Verantwortung und Einsicht über. Hingegen Verlust ist etwas, das man aus der Ferne, mit dem Abstand der Generationen noch deutlicher erkennt. Verlust ist etwas, das Hunderte oder sogar dreitausend Jahre später noch vergegenwärtigt werden kann.“
Kermanis Überlegungen, Verlustgeschichten zu erzählen, um die Erinnerung an NS-Verbrechen wachzuhalten, sind insofern notwendig, als sich Reflexionen über die zukünftige Ausgestaltung unserer Erinnerungskulturen unter den sich wandelnden gesellschaftlichen Voraussetzungen geradezu aufdrängen. Verlust als Leitmotiv, das generations- und herkunftsunabhängig Verständnis erzeugen kann, ist dabei ein interessanter Vorschlag, den die Provenienzforschung aufgreifen sollte. Folgen doch Provenienzforscher_innen Überlieferungsspuren, die sie in nahezu allen Fällen auch zu Verlustgeschichten führen. Das verdeutlicht schon ein Beispiel aus unserem Provenienzforschungsprojekt. Im November 2023 konnte die Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung insgesamt 17 Bücher an die Arbeiterkammer Wien restituieren – darunter auch Exemplare der altehrwürdigen Gründungsbibliotheken der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Arbeiterkammer Wien (Privatbibliotheken von Anton Menger und Victor Adler). So erfreulich diese Restitutionen sind, werfen sie doch ein Licht auf das, was – zumindest für den Augenblick – verloren scheint: Die Privatsammlung des Rechtswissenschaftlers und Universitätslehrers Anton Menger, die „sich in Bezug auf die Reichhaltigkeit an Quellenwerken des französischen, englischen und deutschen Sozialismus mit der Pariser Nationalbibliothek und dem Britischen Museum messen“ konnte, wie Gerhard Oberkofler bemerkt, umfasste ca. 16.000 Bände, von denen bis heute nicht einmal 500 wieder an ihrem rechtmäßigen Ort sind. Provenienzforschung erzählt also auch im Falle von geglückten Restitutionen Verlustgeschichten, ist Erinnerungsarbeit und somit erinnerungskulturell von hoher Relevanz, da wir anhand der wiedergefundenen Bücher auch das Schicksal aller heimatlosen Bücher in Erinnerung rufen. Auf diese Weise ergeben sich Synergien zwischen Provenienzforschung und Public History, die zu nutzen wir bereit sein sollten.
Christian Maiwald
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