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Als sich am 24. April 1974 ein DDR-Spion im Bundeskanzleramt enttarnt, ahnt noch niemand, dass Willy Brandt zwei Wochen später zurücktreten wird ...
... aber der Wagen, der rollt: Die Ölpreiskrise bremste in der Adventszeit 1973 die westdeutsche Bevölkerung aus, viele befolgten an den ersten beiden autofreien Sonntagen das per Energiesicherungsgesetz verhängte Fahrverbot – da werden sie am Nikolaustag nicht schlecht gestaunt haben, dass ihr Außenminister in der Fernsehshow Drei mal Neun ein Volkslied über die Reise in einer Postkutsche schmetterte. Walter Scheels Hoch auf dem gelben Wagen avancierte im Winter 1973/74 zum Gassenhauer und die zugunsten wohltätiger Zwecke verkaufte Single schlingerte wochenlang durch die Top Ten. Politiker in den Charts, ein neuer Trend? Möchtegern-Trittbrettfahrer aus der West-Berliner Folk- und Schlagerszene schusterten schnell eine schräge Hymne auf den Bundeskanzler zusammen und schoben ein junges Nachwuchstalent vors Mikrofon. Dass Carolas Song Oh Willy Brandt nicht einmal die Top 100 erreichte und außerdem mitten in einer Strophe viel zu früh abrupt endete, erwies sich als kein gutes Omen: als wenige Monate später am 15. Mai 1974 Walter Scheel zum neuen Bundespräsidenten gewählt wurde, war Willy Brandt schon nicht mehr Bundeskanzler.
Ein Ehepaar ist von Ost- nach Westdeutschland geflohen, um in einer „Familienzusammenführung“ der nach Frankfurt am Main übergesiedelten (Schwieger-)Mutter zu folgen – so lautete die Legende der „Republikflüchtlinge“ Günter und Christel Guillaume. In Wirklichkeit waren sie von der Hauptverwaltung A, dem Auslandsnachrichtendienst des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR angeworben, geschult und in die Bundesrepublik Deutschland eingeschleust worden, um als „Residenten“ in der kleinen Kaffee- und Tabakwarenstube Boom am Dom eine Anlaufstelle für Ost-Spione zu betreiben. Im Jahr darauf traten die Guillaumes in Frankfurt der SPD bei, legten sich den Ruf rechter Sozialdemokraten zu und dienten sich unter dieser Maskerade in verschiedenen Funktionen hoch, um Informationen über die Entscheidungsprozesse und das Innenleben der Partei abzuschöpfen. Christel Guillaume machte als Büroleiterin im Vorzimmer von Willi Birkelbach, Chef der Hessischen Staatskanzlei, Bezirksvorsitzender der SPD Hessen-Süd und zeitweilig Mitglied im SPD-Parteivorstand, zuerst Karriere als Kundschafterin. Ihrem Ehemann bot sich nach einer Ochsentour durch verschiedene Parteiämter der SPD Frankfurt auf einmal die Chance zum Sprung nach Bonn, direkt ins Bundeskanzleramt. Da dort nach dem Regierungswechsel im Herbst 1969 neues Personal gesucht wurde und die Frankfurter Genossen Georg Leber und Herbert Ehrenberg ihren eifrigen wie ehrgeizigen Mitarbeiter und Wahlkampfhelfer empfahlen, rückte für Guillaume eine Stelle als Hilfsreferent in der Abteilung III „Wirtschaft, Finanzen und Sozialpolitik“ in greifbare Nähe. Die obligatorischen Sicherheitsüberprüfungen förderten zwar Widersprüche und Ungereimtheiten in seinem DDR-Lebenslauf zu Tage und Staatssekretär Egon Bahr riet wegen diffuser Verdachtsmomente von einer Verwendung direkt im Kanzleramt ab, doch nach erneuten Untersuchungen wischte Kanzleramtschef Horst Ehmke die Zweifel beiseite. Guillaume begann Ende Januar 1970 im Palais Schaumburg, kümmerte sich fortan um die Verbindungen zu Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und fing prompt damit an, sich breitzumachen: er gerierte sich stets gutgelaunt und kumpelhaft als Hansdampf in allen Gassen, wanzte sich an Sekretärinnen heran und hielt zielstrebig nach höheren Aufgaben Ausschau.
Bei der nächsten, wegen der wackligen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auf November 1972 vorgezogenen Wahl zum Deutschen Bundestag bewarb sich Peter Reuschenbach, im Bundeskanzleramt Willy Brandts Referent für Partei- und Gewerkschaftskontakte, um ein Direktmandat. Zur Vertretung während seiner Kandidatur schlug er Guillaume vor, dem nun u.a. die anspruchsvolle Aufgabe oblag, Brandts Termine im Wahlkampf zu planen und für einen reibungslosen Ablauf seiner Wahlreisen zu sorgen. Fotos jener Wochen zeigen ihn schattengleich in zweiter oder dritter Reihe als Kofferträger und ständigen Begleiter: er war nun ganz nah dran am Bundeskanzler. Seinem Chef wiederum war dieses freundliche und nette, aber farblos-blasse Faktotum reichlich unsympathisch, fast schon lästig, zumal Guillaume als politischer Gesprächspartner nichts taugte – doch der von Brandt und seinen engsten Mitarbeitern als Parteifunktionär und Hofschranze bespöttelte Referent war eilfertig, geradezu servil und organisierte alles derart effizient, dass nach dem Wahlsieg der SPD Reuschenbachs Nachfolge automatisch feststand. Guillaume, der auch heute noch oftmals fälschlicherweise als Brandts „persönlicher Referent“ tituliert wird, hatte sich als emsiges und nimmermüdes Rädchen im Getriebe unentbehrlich gemacht. Mit der ihm eigenen Masche, überall anwesend zu sein, ohne präsent zu wirken oder gar aufzufallen, ging er auch Kanzlerbüroleiter Reinhard Wilke, Brandts tatsächlichem persönlichen Referenten, wiederholt auf die Nerven, wann immer er es darauf anlegte, seine Kompetenzen zu überschreiten und am Wegesrand so viele politische Vorgänge wie möglich aufzuschnappen. Was er tatsächlich im Schilde führte, hätten Brandt und Wilke ihm gleichwohl nicht zugetraut. Brandts persönliche Abneigung Guillaume gegenüber ging so weit, dass er im Mai 1973 einen konkreten Anlauf unternahm, sich seiner zu entledigen und ihn auf eine andere Stelle wegzuloben. Doch dann kam alles ganz anders.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Fall Guillaume Ende April 1974 wie eine Bombe geplatzt – dabei war er ein Jahr zuvor langsam ins Rollen geraten. Findige Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutzes hatten in Akten älterer Spionagefälle verstreute Hinweise zusammengepuzzelt und so nahm auf einmal ein in der SPD aktiver Stasi-Maulwurf mit möglichem Anfangsbuchstaben G nicht nur schemenhaft Konturen an: einst abgefangene und dechiffrierte DDR-Funksprüche mit Geburtstagsgrüßen und einem „Glückwunsch zum zweiten Mann“ passten taggenau auf Günter Guillaume und dessen in Frankfurt zur Welt gekommenen Sohn. Kaum wurden die Indizien beim Verfassungsschutz bis zu Präsident Günther Nollau weitergereicht, erkannte dieser einen dringenden Verdacht, doch es fehlten handfeste, gerichtsverwertbare Beweise; am 29. Mai 1973 informierte er Innenminister Hans-Dietrich Genscher als obersten Dienstherr der Behörde, der wiederum den Bundeskanzler umgehend darauf ansprach. Genscher gab Brandt den von Nollau übernommenen folgenschweren Rat, Guillaume auf dem Posten in seinem direkten Umfeld zu behalten, ihn im Juli auch mit nach Norwegen in den Sommerurlaub zu nehmen und sich fortan nichts anmerken zu lassen, denn Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz wollten ihn auf frischer Tat ertappen. Im Rückblick wirkt es, als habe da jemand ein paar Jerry-Cotton-Hefte zu viel gelesen: der Bundeskanzler als Versuchskaninchen, als Köder, als Lockvogel für eine Agentenjagd? In Brandts später angefertigten Notizen zum Fall G. findet sich der Ausruf „Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen!“ als selbstkritischer Vorwurf. Doch Brandt stimmte zu – in gutem Glauben, Guillaume werde nun gewiss auf Schritt und Tritt observiert. In den folgenden Monaten ließ er mehrmals nach dem Stand der Ermittlungen fragen und erhielt stets die Antwort, es gebe nichts Neues: null Komma null statt 007.
Die Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land stand bevor und das Aktuelle Sportstudio des ZDF begrüßte den Bundeskanzler. Um ihn nicht der Gefahr auszusetzen, sich mit dem runden Leder zu blamieren, durfte sein zwölfjähriger Sohn Matthias – aktiv in der D-Jugend des Godesberger FV 08 – sich zum Einstieg an der berühmten Torwand versuchen. Mit dem dritten Schuss erzielte Matthias Brandt bereits den zweiten Treffer, doch seine Ballkünste wurden rüde von der Bildregie abgewürgt, damit Moderator Hanns Joachim Friedrichs sein Gespräch mit dem Bundeskanzler über Sportförderung, innerdeutschen Sportverkehr und die WM-Spiele der Nationalmannschaft führen konnte; zum Schluss musste sich Willy Brandt fragen lassen, ob es überhaupt noch Spaß mache, Bundeskanzler und Parteivorsitzender zu sein. Brandt räumte unumwunden ein, es habe schon bessere Zeiten gegeben.
Rund um Willy Brandts 60. Geburtstag im Dezember 1973 hatten DER SPIEGEL und andere meinungsstarke Medien den Jubilar als „Kanzler in der Krise“ auf zusehends bröckeligem Denkmalsockel verortet. Amtsmüdigkeit, Führungsschwäche und Autoritätsverlust wurden ihm nachgesagt, er galt als angezählt, 1973 wurde als weitgehend verlorenes Jahr abgehakt. Eine Welle von Willy-Witzen wogte durchs Land. Die für Brandt besseren Zeiten waren schon länger her: mit seiner Ostpolitik hatte er unglaublich viel erreicht, sein furioser Wahlsieg im November 1972 war der Lohn, zugleich aber auch der Zenit seiner Popularität, danach ging es zwangsläufig bergab. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung parallel zu seinen Stimmbandproblemen mit längerem Krankenhausaufenthalt, Rivalitäten innerhalb der SPD, eine zunehmend forsch auftretende FDP, die Steiner-Wienand-Affäre rund um die Bestechungen beim 1972er Misstrauensvotum, die Moskauer Verbalattacken von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, monatelange Bummelstreiks der Fluglotsen, Ölpreiskrise, Wirtschaftsflaute, steigende Arbeitslosigkeit, Inflationsängste sowie Spekulationen um ein Tempolimit und Gerüchte um eine Kabinettsumbildung trübten den innenpolitischen Alltag; schließlich führte im Februar 1974 ein bundesweiter Arbeitskampf im öffentlichen Dienst inkl. nicht geleerter Mülltonnen zu einem Tarifabschluss mit elf Prozent Lohnerhöhung, der Brandts Aufruf zur Mäßigung in den Wind schlug. Als die SPD bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg am 3. März abstürzte und ihre absolute Mehrheit einbüßte, räusperten sich einige Genossen öffentlich. Und Mitte März wusste Brandt seit rund vierzehn Tagen, dass der Bundesnachrichtendienst aufgrund konkreter Anhaltspunkte den Fall Guillaume an den Generalbundesanwalt übergeben hatte, der nun beabsichtigte, den mutmaßlichen Spion offensiv beschatten zu lassen, um endlich Beweise zu erbringen und ihn zum entscheidenden Fehler zu provozieren.
Günter Guillaume wurde frühmorgens noch im Bademantel an der Wohnungstür von einem BKA-Kommando mit Durchsuchungsbefehl überrumpelt. Dass er sich kurioserweise sofort selbst als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR entlarvte, stellte alles auf den Kopf. Willy Brandt, vom Verrat durchaus getroffen, ging zur Tagesordnung über, weil weder das Ausmaß der Spionage noch die Tragweite ihrer Aufdeckung abzuschätzen waren – darum kümmerten sich nun die Behörden. Nur wenige Tage später musste man sich eingestehen, dass im Sommerurlaub 1973 in Norwegen sämtliche Nachrichten des Bundeskanzleramts in Brandts Feriendomizil über Guillaume gelaufen waren, so dass ihm auch als geheime Verschlusssachen klassifizierte Fernschreiben in die Finger gerieten. Eine Observation durch die zuständigen, vor Ort anwesenden Sicherheitsbeamten des Bundeskriminalamts und die Nachrichtentechniker des BND hatte schlicht und ergreifend nicht stattgefunden, auch die spätere Beschattung in Bonn stellte sich als lückenhaft und unzureichend heraus.
Auch wenn Guillaume beileibe kein „Meisterspion“ war und sein Aufstieg sich an einer langen Kette von Zufällen, günstigen Gelegenheiten, Pannen und Versäumnissen entlanggehangelt hatte, so fand sich die sozial-liberale Regierung plötzlich mit einem Spitzel an der Spitze des Staates konfrontiert. Mehrere Beteiligte, die für falsche Ratschläge, haarsträubende Untätigkeit, fehlende Absprachen und eklatantes Versagen verantwortlich waren, schoben sich die Verantwortung gegenseitig zu und wuschen ihre Hände in Unschuld. Opposition und Boulevardblätter kochten den Skandal zunächst auf kleiner Flamme, pirschten sich aber Tag für Tag näher an den Bundeskanzler heran, dem längst dämmerte, dass er den Verdacht nicht ernst genug genommen hatte und nun eine Suppe auslöffeln musste, die andere ihm eingebrockt hatten.
Am Tag der Arbeit befand sich Brandt in Hamburg; nach der Festrede auf der zentralen Maikundgebung der Gewerkschaften wartete das straffe Programm einer Informationsreise Richtung Nordsee auf ihn. Am Abend zuvor hatten er und die Familie seiner Kusine mütterlicherseits im Hotel Atlantic gemütlich zusammen gesessen und – so darf angenommen werden – in Erinnerungen an ihre gemeinsamen Vorfahren und Freunde der Lübecker Arbeiterbewegung geschwelgt. Sie hatten ihm ein Album mit alten Fotos mitgebracht und ausgeliehen, auf ihnen sah Willy Brandt seine Mutter Martha, seinen Stiefgroßvater Ludwig, seinen Onkel Ernst und viele andere wieder. Doch spätestens beim Frühstück wurde Brandt durch einen Anruf in die Gegenwart gerissen: Innenminister Genscher kündigte seinen persönlichen Referenten Klaus Kinkel an, der per Hubschrauber nach Hamburg eile, um ein von Horst Herold, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts zusammengestelltes Dossier zu überbringen. Brandt erhielt es nach der Kundgebung und las Auszüge aus Verhörprotokollen: die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden hatten eine fatale Eigendynamik entwickelt und waren aus dem Ruder gelaufen.
Natürlich mussten die Vernehmungsbeamten des BKA in Erfahrung bringen, wie viele vertrauliche Informationen Guillaume tagtäglich zusammengerafft und weitergegeben haben mochte. Aus Sorge, Willy Brandt könne durch den womöglich allgegenwärtigen Spion gegenüber dem Osten erpressbar geworden sein, stocherten die Ermittler jedoch überall herum und drehten Brandts Personenschützer derart durch die Mangel, dass sie nicht nur Guillaumes Tätigkeiten, sondern auch den Bundeskanzler ins Visier nahmen und durchs Schlüsselloch seine Privatsphäre grell ausleuchteten. Neben einer langjährigen Beziehung zu einer befreundeten Journalistin (in Bonn ein offenes und zugleich wohlgehütetes Geheimnis, über das niemand schrieb) landeten auch wichtigtuerisches Geschwätz und testosterongesteuerter Tratsch beispielsweise über Brandts abendliche Gespräche mit Journalistinnen im Dossier – ein klebriges Potpourri von Fehldeutungen über vermeintliche Amouren nebst Auflistung scheinbar unzähliger Damen, die der Referent dem Kanzler „zugeführt“ habe.
Der Spion Guillaume verlor über derlei Dinge kein Wort, das übernahmen andere indirekt. Die im Dossier zu pikanten Enthüllungen aufgebauschten Unterstellungen wanderten durch etliche Hände und wurden an die Presse, die Opposition und über die Verbindung von Verfassungsschützer Nollau zu Herbert Wehner auch an parteiinterne Kritiker durchgestochen. Vor Bundeskanzler Willy Brandt braute sich ein Sturm zusammen; er wird erkannt haben, dass bei BILD & Co. die Dreckschleudern bereits gefüllt wurden und dass ihm eine Schlammschlacht bevorstand, welche die übelsten Verleumdungen und Diffamierungen aus vorangegangenen Wahlkämpfen in den Schatten zu stellen drohte. Auf seiner Informationsreise am 1. Mai absolvierte Brandt auch einen Abstecher nach Helgoland, wo er nach einem eher trostlosen Empfang ohne viel Publikum, einem Spaziergang an der Steilküste bis an den Rand der Klippen („Das wäre auch kein Verlust, wenn man da runterfiele“) und einem absurd feucht-fröhlichen wie schunkeligen Abend im Kurhotel nachts in düsteren Gedanken einen Brief abfasste – und ihn nach seiner Rückkehr nach Bonn vernichtete.
Auf einer seit längerem terminierten Klausurtagung der engeren SPD-Parteiführung mit den Gewerkschaften in der Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel fanden abseits der Tagesordnung Gespräche statt, in denen Brandt zu ergründen suchte, wie es um seinen Rückhalt und die Loyalität in Fraktion und Partei bestellt war. Vor allem die im Wortlaut nicht dokumentierte, nur nachträglich beschriebene Unterredung mit Herbert Wehner bestätigte ihn in seinen Vorahnungen. Seinen Entschluss zum Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers teilte er am nächsten Tag den Parteifreunden mit. Viele beschworen ihn, er möge doch standhaft bleiben, andere wie Egon Bahr rieten ihm aus Sorge um Brandts ohnehin schwer angeschlagene Gesundheit, den Zeitpunkt seines Abgangs erhobenen Hauptes selbst zu wählen, um sich nicht Tage oder Wochen später aus dem Amt jagen zu lassen. Den Parteivorsitz legte Willy Brandt nicht nieder, auch weil sein designierter Nachfolger Helmut Schmidt ihn energisch darum bat.
Wie tritt ein Bundeskanzler zurück? Indem er in einem an den Bundespräsidenten gerichteten Brief offiziell seinen Rücktritt erklärt. Brandts bereits am Sonntagabend zu Papier gebrachtes und auf den 6. Mai vordatiertes Rücktrittsschreiben blieb – gemeinsam mit einem persönlichen Begleitbrief – vorerst in seinem Arbeitszimmer, wo u.a. sein Sohn Lars es zu lesen bekam, doch auch er merkte schnell, dass sein Vater nicht mehr umzustimmen war.
Rut Brandt hörte von ihrem Mann am Montagmorgen, er werde zurücktreten. Sie pflichtete ihm bei, sein Schritt sei richtig, einer müsse die Verantwortung auf sich nehmen. Am Ende eines Tages voller Besprechungen mit den Regierungskollegen wurde Kanzleramtschef Horst Grabert nach Hamburg entsandt, wo Bundespräsident Gustav Heinemann – selbst nur noch wenige Tage lang im Amt – bei der SPIEGEL-Redaktion zu Besuch war und kurz vor Mitternacht Willy Brandts Rücktrittsschreiben entgegennahm. Die Nachricht vom Ende der Kanzlerschaft Brandts sickerte über Nacht durch und ließ, so der allgemeine Eindruck, weite Teile der Bevölkerung fassungslos, wie gelähmt zurück. Rechtlich wirksam wurde der Rücktritt, als der Bundespräsident dem Bundeskanzler und den Mitgliedern seines Kabinetts die Entlassungsurkunden ausstellte und sie ihnen am frühen Nachmittag des 7. Mai überreichte. Zuvor hatte Willy Brandt vor der Bundestagsfraktion der SPD eine Erklärung abgegeben; von dieser Sitzung stammen die oft gezeigten Filmaufnahmen, wie Egon Bahr in Tränen ausbricht und sein Gesicht in den Händen vergräbt.
Auch vor dem tags darauf versammelten SPD-Parteivorstand erläuterte Willy Brandt seine Entscheidung. Da die Genossen in wechselnden Ausweichquartieren tagten, während ihre „Baracke“ demontiert wurde, um einem geräumigeren, modernen Parteihaus Platz zu machen, trafen sie sich diesmal in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Hier stellte sich Willy Brandt anschließend auch „gelöst von der Pflicht des Staatsamtes“ vor eine Fernsehkamera der ARD und legte – vor dem arg zerrissenen Hintergrund einer heruntergelassenen Jalousie – der Öffentlichkeit erstmals selbst seine Beweggründe dar, die ihn zum Amtsverzicht veranlasst hatten. Hierbei schien zwischen den Zeilen durch, dass Guillaume nicht die Ursache, sondern nur der Auslöser für Willy Brandts Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers und damit der berüchtigte Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Viele unterschiedliche interne wie auch externe Faktoren hatten monatelang ihre schleichende Wirkung entfaltet und eine Erosion der Macht vorangetrieben, die es Brandt wohl kaum noch erlaubt hätte, mit seiner Regierung wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.
Dass er „aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie“ die „politische und persönliche Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre übernommen“ hatte, war bereits bekannt. Brandt verwies auf den eigenen Fehler, gegen die Anwesenheit des Spions im Sommerurlaub, gegen die Laus im eigenen Pelz keinen Einspruch erhoben zu haben. Die behördlichen Übergriffe auf seine Privatsphäre wies er scharf zurück und bezeichnete damit einhergehende Spekulationen, er könne „erpressbar“ geworden sein, als „grotesk“. Mit dem Rücktritt wolle er auch seine „persönliche und politische Integrität“ wahren. Brandt betonte außerdem, auf absehbare Zeit wäre es ihm nicht mehr möglich gewesen, mit den Machthabern in der DDR und den Drahtziehern der Spionage „unbefangen genug“ über weitere Entspannungsschritte zu verhandeln.
Ähnlich gelagert war ein weiterer Grund, den Brandt jedoch – wie auch seine gesundheitlich bedingten Konditionsschwächen und Formtiefs – nicht erwähnte, weil er ohnehin bekannt war: Nach Bundespräsident Gustav Heinemanns Verzicht auf eine zweite Amtszeit hatte Außenminister Walter Scheel im Dezember 1973 nicht nur Hoch auf dem gelben Wagen gesungen, sondern auch Interesse an dem höchsten Staatsamt angemeldet. Als Nachfolger Scheels im FDP-Parteivorsitz und im Auswärtigen Amt stand Innenminister Genscher fest. Wäre Brandt Bundeskanzler geblieben, hätte er ab Mitte Mai mit Genscher als Vizekanzler und Außenminister eng und vertrauensvoll gemeinsam regieren müssen. Hätte Brandt Genscher als verantwortlichen Innenminister entlassen, wäre die sozial-liberale Koalition höchstwahrscheinlich auseinandergebrochen.
Die Tage nach dem Rücktritt waren von Abschied und Übergang geprägt. In der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten am 15. Mai 1974 war Willy Brandt ebenso zugegen wie am darauffolgenden Morgen bei der Wahl von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Deutschen Bundestag, um seinen Nachfolger als erster zu beglückwünschen. Wenige Stunden nach der Sitzung flog er zum Erholungsurlaub nach Norwegen. Anfang Juni kehrte er zurück und legte auf einem seiner ersten Termine in Bonn den Grundstein für das Erich-Ollenhauer-Haus, die neue Parteizentrale der SPD, deren Vorsitzender er noch dreizehn weitere Jahre sein würde.
Sven Haarmann
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