Die FES wird 100! Mehr erfahren

Ansprechpartner

PD Dr. Stefan Müller

0228 883-8068

Stefan.Mueller(at)fes.de 

Abteilung

Archiv der sozialen Demokratie

 

Vegetarismus und Widerstand: der Internationale Sozialistische Kampfbund

Vegetarische Ernährung, Abstinenzlertum und zölibatäre Lebensweise - sind dies die Mindestanforderungen für den Eintritt in einen Mönchsorden? Denkbar, käme nicht noch als weitere Forderung der Kirchenaustritt dazu. Die Gruppierung, die diese Regeln zu ihrer Richtschnur machte, war eine politische: der Internationale Sozialistische Kampfbund ISK. Sein strenges Reglement und der intensive Gruppenzusammenhalt bestanden auch in den Jahren des Exils und des Widerstands.

Bild: von Friedrich-Ebert-Stiftung, AdsD ISK, Gruppenfoto aus dem Landerziehungsheim Walkenmühle

Leonard Nelsons Kampf- und Kaderorganisation

Der ISK erscheint uns heute wie eine Art Sekte. 1925 in der Folge des Internationalen Jugendbundes (IJB) als linke Absplitterung der SPD gegründet und geordnet nach dem Führerprinzip, verstanden sich die Mitglieder als Kampf- und Kaderorganisation, deren Ziel die Schaffung einer ausbeutungsfreien Gesellschaft war. Der Kampfbund war antiklerikal, antimarxistisch und antimilitaristisch, aber auch antidemokratisch: eine solitäre Spitze sollte einer "Erziehungsdiktatur" (Karl-Heinz Klär) vorstehen. Führer des Kampfbundes war bis zu seinem frühen Tod 1927 der Göttinger Philosophie-Professor Leonard Nelson. Von ihm muss eine hohe Anziehungskraft ausgegangen sein: Vorwiegend junge, akademisch gebildete Menschen folgten seinem Programm, darunter ungewöhnlich viele junge Frauen. Susi Miller, selber ISK-Mitglied in der Emigration, beschreibt es so: "Die verhältnismäßig große Zahl weiblicher Mitglieder im IJB und später im ISK hatte aber wohl auch mit Nelsons - nicht einseitiger - Anziehungskraft auf Frauen zu tun und mit seiner Vorurteilslosigkeit der Schätzung ihrer geistigen und moralischen Qualitäten."

Die Frauen machten etwa ein Drittel dieser letztlich recht kleinen Kaderorganisation aus, die nur rund 190 Mitglieder zählte; dazu kam ein Umfeld von 600 bis 1000 Sympathisantinnen und Sympathisanten. Die weiblichen Mitglieder spielten eine wichtige Rolle: Sie übernahmen den Vorsitz in ISK-Ortsvereinen, sie schrieben Beiträge in den zahlreichen Veröffentlichungen, die der ISK vor 1933 und im Exil veröffentlichte, sie traten als Rednerinnen in öffentlichen Veranstaltungen auf. Sie arbeiteten als Lehrerinnen und Erzieherinnen im Landerziehungsheim Walkemühle in Nordhessen, das von Nelsons Gefährtin Minna Specht 1924 gegründet und fortan geleitet wurde. Das Landerziehungsheim, Schule für Kinder wie für Erwachsene, war zentraler Bestandteil des pädagogischen Konzepts Leonard Nelsons. Die Erziehungsarbeit mit Kindern wurde auch nach der Machtübernahme weitergeführt: Minna Specht verlagerte gemeinsam mit Grete Henry-Hermann die "Walkemühle" zunächst nach Dänemark, später nach Wales. Nach dem Kriegsausbruch wurde die Pädagogin wie viele Deutsche und Österreicher auf der Isle of Man interniert, und gründete dort eine Lagerschule.

Frauen im Widerstand: unauffällig aber unersetzlich

Einen wichtigen Beitrag für die Arbeitsfähigkeit des ISK leisteten die vegetarischen Restaurants, die von weiblichen Mitgliedern oder von Ehepaaren in Köln, Berlin, Frankfurt oder Hamburg geführt wurden. Sie beschafften die finanziellen Mittel und boten nach 1933 einen unauffälligen Treff- und Anlaufpunkt für die konspirative Arbeit; auch im Exil wurden aus demselben Grund Restaurants in London und Paris eröffnet. Herta Lewinski, Jenny Fliess, Anna Kothe und Anna Beyer führten die sogenannten "Vegas". Erna Blencke, ursprünglich Lehrerin, dann 1933 aus dem Dienst entlassen, führte einen Brotgroßhandel, dessen Verkaufsstellen und Liefertätigkeit wiederum eine gute Tarnung für die illegale Arbeit boten.

Überhaupt war die Beteiligung von Frauen bei der Widerstandsarbeit unerlässlich, da sie als unauffälliger und unverdächtiger galten. Hilde Monte oder Änne Kappius zum Beispiel übernahmen zahlreiche Kurierdienste. Sie reisten immer wieder aus dem Ausland nach Deutschland, um Informationen und Propagandamaterial einzuschleusen und Kontaktpersonen zu treffen. Frauen wie Irmgard Heydorn oder Marta Damkowski verteilten das Informationsmaterial im Deutschen Reich und beteiligten sich an gefährlichen Aktionen gegen das Regime. Aufrufe zum Widerstand und zur Sabotage wurden in Briefkästen verteilt, in Betrieben, auf Bänken oder Jahrmärkten liegen gelassen. Gemeinsam mit einem Widerstandskämpfer als Liebespaar auf einem abendlichen Weg zum Bahnhof getarnt, führten sie einen speziell präparierten Stempel-Koffer mit sich, der Anti-Hitler-Parolen auf dem Bürgersteig hinterließ, die erst bei Tageslicht lesbar wurden.

Hanna Bertholet, Nora Platiel und Eva Lewinski arbeiteten zunächst in der Führung des Pariser ISK und lieferten Beiträge zur publizistischen Arbeit des ISK, bevor sie selber weiter in die Schweiz bzw. in die USA flüchten mussten. Lewinski gelang es, deutsche Emigrant_innen in die USA zu holen, bevor diese nach der Besetzung Frankreichs der Gestapo in die Hände fielen. Platiel, 1940 selber interniert, gelang die Flucht in die Schweiz; dort arbeitete sie in der Flüchtlingshilfe.

Anspruch und Wirklichkeit

Geleitet wurde der ISK nach dem Tod Nelsons formell von Minna Specht, de facto aber von Willi Eichler. Er war die politisch dominierende Gestalt, hielt die Fäden in der Hand, knüpfte wichtige Kontakte in den Exilländern und sorgte mit seiner Arbeit dafür, dass der ISK in der Reihe der unterschiedlichsten Exilgruppierungen ernst genommen wurde. Die Frauen hatten zwar Führungspositionen inne; aber: "Mögen sie auch noch so tüchtig sein. Leider ist es auch in der sozialistischen Bewegung und vor allem in der Gewerkschaftsbewegung noch so, daß sie doch nicht ganz voll genommen werden" (so ISK-Mitglied Werner Hansen).

Zu Konflikten kam es auch immer wieder wegen des Anspruchs auf eine ehelose Lebensweise, die vor allem den Führungskadern abverlangt wurde. Manche Kampfbündler_innen verließen den ISK aus diesem Grunde. Karl-Heinz Klär beschreibt diese Forderung als eine "extrem lustfeindliche Komponente im politisch-pädagogischen Konzept Nelsons, deren organisatorische Umsetzung nahezu zwangsläufig zu Irritationen, Versagungen, aber auch Sublimierungen in beträchtlichem Umfang führen mußte". Dass mehrere ISK-Exilant_innen in den USA untereinander geheiratet hatten, betrachtete Eichler noch Anfang der 1940er Jahre als charakterliche Schwäche. Die Frauen (und Männer) wollten sich in dieser Privatangelegenheit aber auch von Eichler nicht hineinreden lassen.

Führungsaufgaben auch nach dem Krieg

So oder so ist es aus heutiger Betrachtung erstaunlich genug, dass die Ideen und Ansprüche Leonard Nelsons so viele und so viele langjährige Anhängerinnen und Anhänger gefunden hatten, darunter Pädagog_innen, Jurist_innen, Naturwissenschaftler_innen. Sie übernahmen auch nach Ende des Krieges führende Funktionen beim Aufbau eines demokratischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland sowie in der SPD:

  • Anna Beyer war Mitbegründerin der Frankfurter SPD nach Ende des Krieges und wurde in die erste Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Später wurde sie Regierungsrätin in der Hessischen Staatskanzlei.
  • Minna Specht übernahm die Leitung der Odenwaldschule und war Mitglied im jugendpolitischen Ausschuss der SPD.
  • Nora Platiel wurde Landesgerichtsdirektorin in Frankfurt am Main und saß viele Jahre für die SPD im hessischen Landtag.
  • Marta Damkowski war Abgeordnete in der Hamburger Bürgerschaft und tätig im frauenpolitischen Ausschuss der SPD.
  • Grete Henry-Hermann erhielt eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Bremen.
  • Erna Blencke spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und war später Vorsitzende der Philosophisch-Politischen Akademie, die sich dem Werk Leonard Nelsons widmet.
  • Susi Miller engagierte sich zunächst ebenfalls in der politischen Bildungsarbeit, nahm dann aber ihr Geschichtsstudium wieder auf und arbeitete später für die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1982 wurde sie Vorsitzende der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand.
  • Willi Eichler wurde bereits 1946 Mitglied im SPD-Parteivorstand; er war federführendes Mitglied der Kommission, die ein neues Parteiprogramm vorbereitete, das dann als "Godesberger Programm" 1959 verabschiedet werden sollte. Maßgeblichen Anteil hatte er auch am Aufbau der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren hauptamtliches Vorstandsmitglied er wurde.
     

Das Archiv der sozialen Demokratie beherbergt den "IJB/ISK-Bestand" sowie Nachlässe einiger ISK-Mitglieder. Karl-Heinz Klär hat den IJB/ISK-Bestand geordnet und in einem Findbuch erschlossen. Sein lesenswerter Aufsatz über die "Zwei Nelson-Bünde" erschien in den IWK (Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung) im Jahr 982, Heft 3, S. 310-360.

Die Bibliothek hat die im Exil erschienenen Zeitschriften des ISK digitalisiert; eine Einführung von Heiner Lindner ergänzt diese Online-Edition.

Eine weitere Zusammenstellung von Quellen findet sich im "Portal zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung".

Vielfältige Sekundärliteratur zum ISK ist im Katalog unserer Bibliothek nachgewiesen.


Neueste Blogbeiträge

Die gewerkschaftliche Organisierung von Migrant:innen in der IG Metall. Ein Interview mit Manuel Campos

Mann singt und spielt Gitarre. Im Hintergrund ist ein Banner der IG Metall zu erkennen

Manuel Campos berichtet von seinem Weg aus Portugal nach Deutschland, den Erfahrungen von Migrant:innen in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren und seinem Engagement in der IG Metall.


weitere Informationen

Neues aus der Erschließung: Der Teilnachlass Elfriede Eilers

Die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) Elfriede Eilers bei der Bundesfrauenkonferenz der SPD in Bremen am 30.11.1974. Rechte: J.H. Darchinger / FES [6/FOTA046175].

Das AdsD hat kürzlich den Teilnachlass Elfriede Eilers erschlossen. Aus diesem Anlass widmen wir uns in unserem aktuellen Blogbeitrag der sozialdemokratischen Politikerin und dem bei uns verwahrten Bestand.


weitere Informationen

Die Krux mit dem Verfassungsschutz

Schwarz-Weiß. Tisch mit mehreren sitzenden Personen auf einem Podium in einem Festzelt. Ein Mann steht und hält eine Rede.

Die Erfahrungen im Umgang mit den Republikanern zeigen, warum es in liberalen Demokratien so schwierig ist, rechtsextreme Parteien zu beobachten und zu verbieten. Der Historiker Moritz Fischer argumentiert in einem Gastbeitrag, warum die Bewertung durch den Verfassungsschutz oft ein Teil des Problems ist.


weitere Informationen
nach oben